29.01.2025: Die Mär von einer angeblichen "Hängematten-Mentalität" hat Konjunktur ++ Die Faktenlage zum Bürgergeld ++ Armutsquote hat Höchststand erreicht ++ Oberste 10% verfügen über 56% des Gesamtvermögens
Friedrich Merz will es, Christian Lindner, Olaf Scholz und Robert Habeck wollen es: mehr Geld fürs Militär und Rüstung. Neben den angeblichen Bedrohungsszenarien aus dem "Osten" (Putin, Xi) gibt es auch Ökonom:innen (so das Münchner ifo-Institut und das Kieler Institut für Weltwirtschaft), die eine Art "Militärkeynesianismus" das Wort reden, wonach durch Stärkung der Binnennachfrage über verstärkte Rüstungsausgaben ein neues, wirtschaftliches Wachstum generiert werden kann.
Wo das Geld dafür herkommen soll ist auch klar. Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts schreibt: "Wenn Deutschland Priorität auf Wehrhaftigkeit und wirtschaftliche Stärke legt, bedeutet das geringere Priorität für andere Ziele wie soziale Sicherung oder Dekarbonisierung. In politischen Debatten wird gerne behauptet, man dürfe das eine nicht gegen das andere ausspielen. Das ist Wunschdenken, weil die verfügbaren Ressourcen nun einmal beschränkt sind."[1]
Und auch die Politiker:innen, die mehr für Rüstung ausgeben wollen, werden im gegenwärtigen Wahlkampf nicht müde, die sozialpolitische Abrissbirne in Stellung zu bringen. Dabei werden u.a. "unbezahlte Krankentage" (die 1956/57 im Ergebnis des längsten Streiks der BRD abgeschafft worden waren) und vor allem Kürzungen beim Bürgergeld ins Spiel gebracht, um gegen "Missbrauch" und "Hängematten-Mentalität" vorzugehen. Und vor allem Geflüchtete werden in diesem Wahlkampf ins Visier genommen. Sie werden in erster Linie nicht mehr als Menschen gesehen, die vor Krieg und Not Zuflucht bei uns suchen, sondern allgemein als "Bedrohung" stilisiert, die nicht zuletzt auch noch "unsere Sozialkassen" belasten.
Die Ampel-Koalition hatte deshalb bereits Mitte des vergangenen Jahres beschlossen, dass Asylbewerber:innen ab 2025 schon mal weniger Geld erhalten. Die monatlichen Bedarfssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sinken ab 1. Januar je nach Alter, Wohn- und Familiensituation von 470 auf 441 bzw. von 413 auf 397 Euro monatlich. Darüber hinaus wird die Einführung einer "Bezahlkarte" geplant, einhergehend mit der Begrenzung des monatlichen Bargeldbezuges auf 50 Euro.
"eine Vielzahl populistischer Thesen, aber wenig Fakten"
Jutta Schmitz-Kießler, Professorin an der Hochschule Bielefeld und Expertin für Sozialpolitik
Mit der heißen Phase des Wahlkampfes wird das Bashing gegen Bürgergeldbeziehende, gegen Migrant:innen gegen Armutsbetroffene Konjunktur haben. Ob Wahlkämpfer:innen von Union, FDP, AfD oder BSW und SPD: Es werden ganz offen oder auch subtil haltlose Klischees befeuert von massenhaft faulen Sozialleistungsbeziehern, die lieber ihr Geld vom Jobcenter erhalten, als arbeiten zu gehen; von Schwarzarbeit in großem Umfang und von groß angelegtem Sozialleistungsmissbrauch, den es zu bekämpfen gelte.
"Knallharte Sanktionen" und eine "Agenda der Fleißigen"
Allen voran marschiert hier der Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz, der das Bürgergeld in seiner jetzigen Form wieder abschaffen und durch eine "Neue Grundsicherung" ersetzen will und eine "Agenda der Fleißigen" ausruft. Im Union-Wahlprogramm heißt es dazu: "Das Bürgergeld senkt die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Es fördert nur und fordert nicht mehr, es spaltet unser Land. Wir sind für eine neue Grundsicherung, die den Zusammenhalt stärkt." Merz verspricht die Einführung eines harten Sanktionsregimes: "Wenn jemand grundsätzlich nicht bereit ist, Arbeit anzunehmen, muss der Staat davon ausgehen, dass er nicht bedürftig ist. Dann muss die Grundsicherung komplett gestrichen werden."
Auch SPD-Generalsekretär Matthias Miersch hat sich für "knallharte Sanktionen" ausgesprochen, weil dies seiner Meinung nach "zum sozialen Markenkern der SPD" gehört. Hatte die SPD-geführte Ampel-Regierung doch schon Anfang Oktober verschärfte Regeln für Bürgergeld-Empfänger:innen beschlossen. Diese sollten mit härteren Strafen sanktioniert werden, wenn die Betroffenen eine Arbeit ablehnen. Wegen des Koalitionsbruchs kamen die geplanten Neuregelungen aber nicht mehr durch den Deutschen Bundestag. Apropos "sozialer Markenkern." Wurden nicht genau vor zwanzig Jahren die Hartz-IV-Gesetze von Gerhard Schröder und Olaf Scholz (beide SPD) durchgesetzt und rühmte Schröder nicht als großen Erfolg, dass man dadurch "einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut habe, den es in Europa gibt."
FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner hat die Abschaffung des Bürgergeldes in seiner jetzigen Form gefordert. Nach Auffassung des früheren Bundesfinanzminister hätten viele das Bürgergeld als ein bedingungsloses Grundeinkommen missverstanden; er sei für eine Grundsicherung. Erhebliches Einsparpotenzial für die Sozialkasse sieht Lindner, wenn der Zoll die Kombination aus Bürgergeld und Schwarzarbeit unterbinde. "Wir sind ein solidarisches Land, aber Antriebslosigkeit dürfen wir nicht tolerieren."
Blicken wir auf Wagenknechts BSW: Eine gerechte Leistungsgesellschaft verlange "gute Arbeitsbedingungen und ordentliche Löhne, aber auch angemessene Sanktionen für diejenigen, die sich lieber im Modell Bürgergeld plus Schwarzarbeit einrichten möchten. Es könne nicht sein, dass nach nur sechs Monaten Arbeit jeder Zweite zurück im Bürgergeld ist," so Wagenknecht. "Für eine pauschale Erhöhung des Bürgergeldes gibt es so lange keine Akzeptanz in der Bevölkerung, solange Missbrauch nicht stärker eingedämmt wird." Um sich ein wenig von Neoliberalen und Rechtskonservativen abzugrenzen schreibt sie Ende Dezember im "Focus": "Natürlich kann erwartet werden, dass erwerbsfähige Arbeitnehmer sich um Arbeit bemühen und zumutbare Arbeit annehmen. Aber was gern unterschlagen wird: zwei Drittel aller Bürgergeldempfänger haben keinen Berufsabschluss. Vielen fehlen elementare Fähigkeiten. Von diesen Menschen mehr 'Eigenverantwortung' bei der Jobsuche zu fordern und ihnen zur Strafe für Lehrermangel, falsche Lehrpläne und gescheiterte Integration auch noch das Existenzminimum zu streichen, ist zynisch. Für sie braucht es sinnvolle Qualifikationsangebote und nicht nur mehr Druck."[2]
Im Grünen-Wahlprogramms heißt, man habe "Hartz IV überwunden und es durch das Bürgergeld ersetzt. Es schützt vor Armut und ermöglicht die Teilhabe an unserer Gesellschaft." Die Grünen wehren sich dagegen, "arbeitslose und arbeitende Menschen gegeneinander auszuspielen". Verschwiegen wird, dass es beim Übergang von Hartz IV zum Bürgergeld in erster Linie um eine Neuetikettierung gehandelt hat, es aber im Grunde beim alten sanktions- und armutsgeprägten Hartz-IV-System geblieben ist.
Die Linke wirft Union, FDP und Teilen der SPD einen "Überbietungswettbewerb an Schäbigkeiten und Verunglimpfungen" vor. Der Parteivorsitzende Jan van Aken verweist auf das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, "das auch die Union nicht einfach abschaffen kann. Im Grundgesetz steht nicht, dass die Menschenwürde des arbeitswilligen Menschen zu schützen ist, sondern dass jeder Mensch Anspruch auf Achtung seiner Würde hat – unabhängig von Leistung, sozialem Status oder Eigenschaften." Die Linke will das Bürgergeld zu einer sanktionsfreien Mindestsicherung weiterentwickeln, die effektiv gegen Armut schützt. Der Regelbedarf soll – dem Vorschlag des Paritätischen folgend - auf 813 Euro für eine erwachsene Person erhöht werden.
Wie sieht die Faktenlage zum Bürgergeld aus?
Es kursieren "eine Vielzahl populistischer Thesen, aber wenig Fakten", so Jutta Schmitz-Kießler, Professorin an der Hochschule Bielefeld und Expertin für Sozialpolitik. "Die Missbrauchsquote liegt im niedrigen einstelligen Bereich, um ein Vielfaches höher ist der Anteil der Menschen, die Ansprüche auf Sozialleistungen haben, diese aber nicht geltend machen."
Das Bürgergeld zu kürzen wäre "eine fatale Fehlentscheidung, gerade für diejenigen, die zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören", stellt sie in einer Untersuchung des gewerkschaftsnahen "Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (wsi) fest.
Es sei "eine Illusion zu glauben, die meisten Grundsicherungsbeziehenden hätten die freie Wahl zu arbeiten". Rund ein Drittel ist gar nicht erwerbsfähig, die meisten davon sind Kinder. Elf Prozent haben ganz normale ungeförderte Jobs, mit schlechter Bezahlung oder zu wenigen Arbeitsstunden. Ebenso viele sind in Ausbildung, acht Prozent sind wegen Erziehungs- oder Pflegeaufgaben von der Arbeitssuche freigestellt. Viele leben zudem in strukturschwachen Regionen, in denen es schlicht keine passenden freien Stellen gibt. Und es werden Behauptungen in die Welt gesetzt ohne irgendeine Empirie. Da werden Hunderttausende Arbeitsverweigerer behauptet, obwohl die Statistik der Arbeitsverwaltung nur 19.000 solcher Fälle ausweist – 0,5 Prozent aller erwerbsfähigen Bürgergeldbezieher.[3]
Zu bedenken ist, dass bei Bürgergeldbeziehenden von den Erhöhungen seit 2022 in der Realität nicht viel angekommen ist. Der Bürgergeldsatz ist seit 2021 langsamer gestiegen als die Inflation. Unter dem Strich bedeutet das: Laut Berechnungen des "Paritätischen" erlitt das Bürgergeld 2021, 2022 und 2023 einen Kaufkraftverlust von jeweils 160, 445 und 407 Euro. Demnach hat ein erwerbsloser Single über die Jahre zusammengerechnet insgesamt also 1012 Euro weniger erhalten, als zur Sicherung des Existenzminimus nötig gewesen wäre.[4]
Der Regelbedarf des Bürgergeldes beträgt seit dem 01.01.2024 für:
• Alleinstehende und Alleinerziehende 563 Euro,
• volljährige Partner 506 Euro,
• Volljährige bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres (18 - 24 Jahre) 451 Euro,
• Kinder beziehungsweise Jugendliche zwischen 14 bis 17 Jahren 471 Euro,
• Kinder zwischen 6 bis 13 Jahren 390 Euro,
• Kinder zwischen 0 bis 5 Jahren 357 Euro.
Monatlich darf bis zu 100 Euro dazuverdient werden, ohne dass dadurch etwas vom Bürgergeld abgezogen wird.
Für die darüber hinausgehenden Einnahmen gilt folgendes:
• zwischen 100 und 538 Euro werden 20 Prozent des Verdiensts nicht vom Bürgergeld abgezogen, von dem Teil zwischen 538 und 1.000 Euro werden nochmal 30 Prozent des Verdiensts nicht vom Bürgergeld abgezogen und von dem Teil zwischen 1.000 und 1.200 Euro werden nochmal zehn Prozent nicht auf das Bürgergeld angerechnet.
Die Wohnkosten werden im ersten Jahr in voller Höhe übernommen. Danach greifen Höchstgrenzen für die Miete und die Wohnungsgröße. Wo die Wohnung zu groß ist oder die Miete als zu hoch angesehen wird, werden die Kosten nur noch bis zu diesen Grenzen übernommen.
Die Ausgaben des Bundes für das Bürgergeld (Geldleistungen und Wohnkosten) betrugen 2023 etwa 37,4 Milliarden Euro – das sind 2,99 Prozent aller Sozialausgaben.
Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit bezogen Ende 2023 knapp 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld; davon etwa 900.000 Menschen bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit.
Dass ausgerechnet das Bürgergeld eine große Ursache für die aktuellen Haushaltsprobleme sein soll ist schlicht falsch. Die Ausgaben des Bundes für das Bürgergeld (Geldleistungen und Wohnkosten) betrugen 2023 etwa 37,4 Milliarden Euro – das sind 2,99 Prozent aller Sozialausgaben. Die großen Ausgabenblöcke im Sozialen betreffen Alter und Gesundheit.
Im jetzt veröffentlichten 50seitigen Armutsbericht der Nationalen Armutskonferenz heißt es zum Bürgergeld: "Die Existenzsicherung für Arbeitsuchende sowie ihr geringes Einkommen aufstockende Personen und ihre Angehörigen soll das Bürgergeld leisten. Das Sozialgesetzbuch II behandelt die Hilfesuchenden aber weiterhin als Objekte von Hilfen. Dabei sind sie Träger:innen sozialer Rechte und müssten als Subjekt ernst genommen werden. Eine selbstbestimmte Gestaltung eigener Wege bei der Überwindung von Armut wird den Menschen nicht zugetraut.
Die vorsichtigen Verbesserungen, die mit dem Inkrafttreten des Bürgergeldes rechtskräftig wurden, werden intensiv angegriffen. Dabei waren sie nicht sehr weitgehend. Sanktionen wurden auf das vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene Maß begrenzt und Leistungsbeziehenden wurde mehr Würde im Umgang mit den Ämtern versprochen. Mittlerweile sind selbst diese vorsichtigen Anpassungen zurückgefahren worden".[5]
https://www.nationale-armutskonferenz.de/wp-content/uploads/Schattenbericht-2025.pdf
Armut hat seit 2010 deutlich zugenommen
In Deutschland galten im vergangenen Jahr laut dem Statistischen Bundesamt rund 13,1 Millionen Menschen (15,5 Prozent) als armutsgefährdet. Das ist im Vergleich zu 2023 ein Anstieg um etwas mehr als ein Prozentpunkt. Damals lag diese Quote bei 14,4 Prozent (12,1 Millionen Menschen). Eine Person gilt als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. 2024 lag dieser Schwellenwert für einen Alleinlebenden in Deutschland bei 1.378 Euro netto im Monat, für Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren betrug er 2.893 Euro.
"Die Armutsquote hat einen Höchststand erreicht."
Eine weitere Zahl, die durch das Statistische Bundesamt am 29.1.25 bekannt gegeben wurde, ist die der "von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten" Menschen. Diese Kategorie ist weiter gefasst als die zur reinen Armutsgefährdung. In diese Kategorie fallen in der EU Personen, auf die mindestens eine der folgenden drei Bedingungen zutrifft:
• Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze,
• ihr Haushalt ist von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen oder
• die Person lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.
2024 galt danach rund ein Fünftel (20.9%) der Bevölkerung als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, das sind rund 17,6 Millionen Menschen. Rund fünf Millionen Menschen (sechs Prozent) galten im vergangenen Jahr zudem als besonders deutlich von Armut betroffen - weil sie zum Beispiel nicht in der Lage waren, ihre Rechnungen für Miete, Hypotheken oder Versorgungsleistungen rechtzeitig zu bezahlen.
"Die Armutsquote hat einen Höchststand erreicht. Zudem sind Arme während der 2010er-Jahre gegenüber anderen Einkommensgruppen wirtschaftlich noch weiter zurückgefallen. Von der insgesamt positiven Wirtschafts- und Einkommensentwicklung im vergangenen Jahrzehnt haben sie nur vergleichsweise wenig abbekommen. Coronakrise und der zurückliegende Inflationsschub haben die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage bei vielen Menschen noch einmal deutlich verschärft. Die Gruppe der Armen ist nicht nur seit 2010 größer geworden, sie ist zudem im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden." so Spannagel / Brülle in einer wsi-Untersuchung.[6]
Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten mehr als 40 Prozent der Armen und über 20 Prozent der Menschen in der Gruppe mit prekären Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen. Knapp 17 Prozent konnten sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch im Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung nicht leisten. Knapp 14 Prozent fehlte das Geld, um wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen.
"durch Wohnkosten überlastet"
Ein wesentlicher Armutsfaktor neben den steigenden Lebenshaltungskosten sind die hohen Mietkosten. Wegen hoher Mieten und Nebenkosten leben in Deutschland einer Studie des Paritätischen Gesamtverbandes zufolge mehr Menschen in Armut als bisher angenommen. Viele Haushalte geben demnach mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Wohnkosten aus, manche sogar mehr als die Hälfte. Nach Abzug von Miete, Nebenkosten, Kreditzinsen und anderem läge das verfügbare Einkommen von mehr als 17,5 Millionen Menschen im Armutsbereich. Bei der üblichen Armutsstatistik blieben Millionen Menschen unsichtbar, weil ihre Wohnkosten nicht berücksichtigt würden, kritisiert der Verband. "Wer nur Einkommen betrachtet, nicht aber, dass Menschen immer weniger Geld zur Verfügung haben, weil sie hohe Wohnkosten aufbringen müssen, übersieht das Ausmaß von Armut in Deutschland" heißt es in der Auswertung.[7]
Das trifft insbesondere auch für Jugendliche zu. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) hat auf der Basis des Mikrozensus Daten dazu ausgewertet: Danach galten 2023 jeder zweite Auszubildende sowie zwei Drittel der Studierenden in Deutschland als "durch Wohnkosten überlastet". Das bedeutet, dass sie mehr als 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen verwenden mussten. Diese Entwicklung treibt immer mehr junge Menschen in die Wohnungslosigkeit. Im vergangenen Jahr waren vierzig Prozent der in Einrichtungen untergebrachten wohnungslosen Menschen jünger als 25 Jahre.[8]
Was tun gegen Armut?
Das, was die geschäftsführende Rest-Ampel im sozialpolitischen Bereich noch auf den Weg gebracht hat, ist weniger als der Tropfen auf den heißen Stein. So steigt der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Januar um 41 Cent und liegt damit dann bei 12,82 Euro brutto pro Stunde. Weil der Mindestlohn auch für Minijobs gilt, steigt für diese die monatliche Verdienstgrenze. Sie liegt ab 1. Januar bei 556 Euro, bisher waren es 538. Damit ist sichergestellt, dass ein Minijob auch weiter zehn Stunden pro Woche möglich ist und die Arbeitszeit nicht gekürzt werden muss.
"gute Löhne, bessere soziale Absicherung und eine Wohnungspolitik, die Mieten bezahlbar hält"
Auch einige branchenspezifische Mindestlöhne steigen im neuen Jahr. In der Altenpflege z.B. erhalten Pflegehilfskräfte ab 1. Juli 16,10 Euro (vorher 15,50 Euro) pro Stunde, qualifizierte Pflegehilfskräfte mit einer einjährigen Ausbildung 17,35 Euro (vorher 16,50 Euro) und Pflegefachkräfte in Pflegebetrieben 20,50 Euro (vorher 19,50 Euro).
Und das Kindergeld wird zum 1. Januar um sage und schreibe fünf Euro pro Kind und Monat angehoben. Von der im Koalitionsvertrag versprochenen Kindergrundsicherung ist schon lange nichts mehr zu hören.
Dabei gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen seitens Sozialwissenschaftler:innen, Sozialverbänden und Gewerkschaften um Armut und Armutsrisiken zu bekämpfen und zu minimieren. Dass diese bei der künftigen Regierung Gehör finden werden, bleibt zu bezweifeln. "Eine zielgerichtete Politik zur Vermeidung von Armut in Deutschland braucht gute Löhne, bessere soziale Absicherung und eine Wohnungspolitik, die Mieten bezahlbar hält", erklärte beispielsweise der Hauptgeschäftsführer Joachim Rock vom Paritätischen Gesamtverband. Es gilt, Armutsbekämpfung als konkretes und sicher finanziertes sozialstaatliches Ziel zu entwickeln.
Im Einzelnen lauten Forderungen der Sozialfachleute u.a.:
- Wirksame Grundsicherung: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung (Bürgergeld) müssen nach Analyse der Forschenden so weit angehoben werden, dass sie ein Mindestmaß an Teilhabe tatsächlich ermöglichen. Dazu gehört auch: Gezielte Hilfen für Eltern und Kinder nach Trennungen, die zusätzliche Bedarfe in beiden Haushalten berücksichtigen.
- Zudem gelte es, die nach wie vor hohe Quote derer zu reduzieren, die einen Anspruch auf eine Grundsicherungsleitung nicht geltend machen, - etwa aus Unwissenheit oder Angst vor Stigmatisierung.
- Qualifizierung und Vereinbarkeit: Parallel können Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen am Rande des Arbeitsmarktes die Teilhabemöglichkeiten nachhaltig verbessern. Ebenso wichtig ist, die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerade jenen Menschen, meist Frauen, die sich verstärkt um Kinderbetreuung kümmern, auch eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu ermöglichen.
- Bessere Infrastruktur: Zusätzlich ist es wichtig, die soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge zu stärken. Dazu zählen sie unter anderem vor allem eine bezahlbare Miete, eine bessere Ausstattung des Bildungssystems, eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung und einen gut ausgebauten ÖPNV. Denn Menschen mit sehr niedrigen finanziellen Ressourcen können Defizite in der öffentlichen Infrastruktur nicht durch eigene Ressourcen kompensieren.
Oberste 10% verfügen über 56% des Gesamtvermögens
"Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich."
Bertolt Brecht
2021 verfügten die obersten 10% der Haushalte über 56% des Gesamtvermögens in Deutschland – im europäischen Vergleich ein Spitzenreitern in Sachen Ungleichheit. Eine wichtige Ursache dafür, dass Vermögensunterschiede über Generationen hinweg bestehen bleiben, sind Schenkungen und Erbschaften. Die großen Privatvermögen befinden sich in wenigen Händen: Die fünf reichsten deutschen Unternehmerfamilien (Albrecht/Heister, Böhringer, Kühne, Quandt/Klatten und Schwarz) besitzen zusammen etwa 250 Milliarden Euro und damit mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Rund 40 Prozent der Bevölkerung haben gar kein nennenswertes Vermögen. Über 30 Millionen Menschen leben also – streng genommen – von der Hand in den Mund.
Umverteilung von oben nach unten muss also endlich erfolgen. Warum wurde die 1997 ausgesetzte Vermögensteuer nicht längst wieder eingeführt? Warum gibt es keine Reichensteuer? Warum gibt es noch immer die Trennung zwischen Pensions- und Rentensystem, zwischen privaten und gesetzlichen Krankenkassen? Warum werden in den gesetzlichen Krankenkassen die Beiträge bei Einkommen von etwas über 5000 Euro im Monat gedeckelt, wodurch Besserverdienende nicht angemessen einzahlen?
"Aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, der bestehenden Eigentumsverhältnisse und der ungerechten Verteilungsmechanismen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher"
"Aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, der bestehenden Eigentumsverhältnisse und der ungerechten Verteilungsmechanismen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Tagtäglich findet Umverteilung von Unten – den hart Arbeitenden – nach Oben – zu den viel Besitzenden – statt: Unternehmensprofite, Veräußerungs- und Kursgewinne der Aktionäre, Dividenden, Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse von Immobilienkonzernen fließen überwiegend in die Taschen materiell Bessergestellter, sind aber normalerweise von Menschen erarbeitet worden, die viel weniger Geld haben, oft nicht einmal genug, um in Würde leben zu können. Deshalb muss Umverteilung künftig in die entgegengesetzte Richtung stattfinden – als Rückverteilung des Reichtums von Oben nach Unten, also zu denjenigen Menschen, die ihn geschaffen und nicht geerbt haben."[9]
Und um abschließend auf die eingangs gemachten Bemerkungen zurückzukommen: Statt immer mehr Geld in die Rüstung zu stecken (3,5% des BIP, wie es dem Grünen-Kanzlerkandidaten vorschwebt- und da wird sich ein Merz sicherlich nicht lumpen lassen) und einem "Militärkeynesianismus" das Wort zu reden (zur Freude der Rüstungskonzerne) brauchen wir Abrüstung um die freiwerdenden Gelder zur Armutsbekämpfung, zur Sicherung der Daseinsvorsorge für alle, für Bildung etc zu verwenden.
txt: Günther Stamer
Anmerkungen
[1] Clemens Fuest, Wehrhaft und wirtschaftlich stark. Wie Deutschland beides verbinden kann, zeigt ein Blick auf Israel. FAZ 28.1.25
[2] Sarah Wagenknecht im Focus vom 17.12.24
[3] Schmitz-Kießler: WSI-Blog-Serie "Mythen der Sozialpolitik", August 2024
[4] nd, 17.9.24
[5] Schattenbericht: Armut in Deutschland:
https://www.nationale-armutskonferenz.de/wp-content/uploads/Schattenbericht-2025.pdf
[6] Dorothee Spannagel, Jan Brülle: WSI-Verteilungsbericht 2024, WSI Report Nr. 98, November 2024
[7] Studie belegt: Wohnen macht arm - Der Paritätische - Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege
https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/studie-belegt-wohnen-macht-arm/
[8] https://www.bagkjs.de/monitor-jugendarmut-pressemitteilung/
[9] Christoph Butterwegge, nd 29.5.24
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