23.07.2024: Am Freitag (19.7.) verlas der Präsident des Internationalen Gerichtshofs, Nawaf Salam, ein Gutachtens, das ein Erdbeben darstellt: Die militärische Besetzung des Westjordanlands, des Gazastreifens und Ostjerusalems durch Israel ist unrechtmäßig. Es handelt sich um eine De-facto-Annexion, die ein Regime der Apartheid und Rassentrennung hervorgebracht hat. Und sie muss sofort beendet werden: "Israel ist verpflichtet, seine Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden“.
Seit sechs Monaten, seit dem historischen Urteil des Internationalen Gerichtshofs über den wahrscheinlichen Völkermord im Gazastreifen am 26. Januar, ist das Völkerrecht auch für Israel nicht mehr auf Eis gelegt. Erwägungen, die bisher auf die Welt der Unsichtbaren (das palästinensische Volk) und Organisationen wie Amnesty, Human Rights Watch, B'Tselem beschränkt waren, finden nun ihren Widerhall im wichtigsten Gericht der Welt.
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Für die mit Israel verbündeten Regierungen wird es nun schwieriger, so zu tun, als würde man nicht zuhören und mit der Unterstützung des israelischen Vernichtungskrieges gegen die Palästinenser ungerührt fortzufahren. Zahlreiche Staaten, allen voran Deutschland, ignorieren die vom Internationalen Gerichtshof, dem höchsten Gericht der Welt, dargestellte Realität und diffamieren sie als "Antisemitismus". Vor weniger als einem Jahr äußerte etwa der Beauftragte der Bundesregierung für Antisemitismus, Felix Klein, im Interview mit der Zeitung Welt, Israel Apartheid zu unterstellen "delegitimiert den jüdischen Staat und ist daher ein antisemitisches Narrativ". Bei Protesten gegen den israelischen Vernichtungskrieg werden Demonstrierende von der Staatsanwaltschaft wegen antisemitischen Äußerungen verfolgt, weil sie Israel Apartheid vorwerfen.
Insofern rückt das Urteil auch die Koordinaten für die innenpolitische Debatte zurecht und weitet den Raum für legitime Kritik an der israelischen Politik. Denn das Gericht bestätigt mehr oder weniger, was Palästinenser und Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten über israelische Rechtsverletzungen berichten.
Den Haag: "Illegale Besetzung und Apartheid: Israel muss sich sofort zurückziehen“
In seinem Gutachten [1] antwortet das höchste Gericht der Welt auf die von der UN-Generalversammlung im Dezember 2022 an den Internationalen Gerichtshof gestellten Fragen.
Als der Antrag gestellt wurde, wurde er in der UN-Generalversammlung von 87 Ländern unterstützt und von 23 Ländern abgelehnt, darunter die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland. Die grundlegende Frage, die dem Gericht gestellt wurde, lautete, ob die israelische Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems - eine Realität, die seit Juni 1967 besteht, egal wie sie definiert wird - "vorübergehend" ist oder zu einem "dauerhaften" Merkmal geworden ist, das zu einer teilweisen oder vollständigen Annexion führt.
Mit anderen Worten: Stellen israelische Siedlungen - d. h. umfangreiche Bevölkerungsbewegungen aus dem besetzenden oder verwaltenden Land in das besetzte Gebiet, eine anhaltende Militärpräsenz und umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen - eine unumkehrbare Besetzung dar?
In seiner 83-seitigen Stellungnahme umreißt das Gericht das komplexe Geflecht, mit dem Israel die palästinensische Selbstbestimmung seit 1967 eingesperrt und erstickt hat.
Ein Netz, das Militarismus, Bürokratie, Kolonisierung und ethnische Säuberung miteinander verbindet - und zu institutionalisieren versucht. Der Bau von Kolonien nach Belieben und die Umsiedlung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten, die Anerkennung von Siedlungen, die von Siedlern illegal errichtet wurden, rechtliche Doppelstandards, die Beschlagnahmung von Land und der Abriss palästinensischer Häuser, die Zwangsumsiedlung der besetzten Bevölkerung (mit "der Anwendung physischer Gewalt, aber auch, indem man den Menschen keine andere Wahl lässt, als zu gehen“), der Diebstahl natürlicher Ressourcen: All diese Maßnahmen, die ausschließlich zum Nutzen des Besatzungslandes und zum Nachteil der palästinensischen Bevölkerung ergriffen werden, müssen "so schnell wie möglich“ beendet werden.
Die wichtigsten Punkte in der Stellungnahme des IGH
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Und nicht nur das: "Israel ist auch verpflichtet, allen betroffenen natürlichen oder juristischen Personen den durch seine völkerrechtswidrigen Handlungen verursachten Schaden vollständig zu ersetzen." Die Wiedergutmachung umfasst die Rückgabe, Entschädigung und/oder Genugtuung. Das heißt, die Rückgabe von Eigentum (reales und kulturelles Eigentum, also Grundstücke und Häuser, aber auch Bücher und Archive), der Abbau der Mauer und der Siedlungen, die Beendigung aller Maßnahmen, die auf demographische Veränderungen abzielen, und die Rückkehr der Palästinenser, deren Recht auf Selbstbestimmung an keinerlei Bedingungen geknüpft werden kann, da es "unveräußerlich“ ist. Wo eine Wiedergutmachung nicht möglich ist, muss Schadenersatz geleistet werden.
Annexion und ...
Denn die militärische Besetzung der palästinensischen Gebiete ist illegal“ und verstößt seit 57 Jahren gegen das Völkerrecht, schreibt der Gerichtshof. Ein Akt, der als vorübergehend bezeichnet wurde, ist nun dauerhaft, eine De-facto-Annexion, bei der die Besatzungsbehörden nicht mehr zwischen dem besetzten Gebiet und dem Staat Israel unterscheiden, der vor 74 Jahren von den Vereinten Nationen anerkannt wurde.
Eine Annexion von Land und eine Umwandlung der Besatzung in ein Regime der Apartheid und der Rassentrennung: Dieselbe Behörde regiert zwei Völker, aber nur eines hat volle Staatsbürgerrechte. Das andere hat keine Rechte. Weder die Palästinenser im Westjordanland noch diejenigen, die als Staatenlose in Ostjerusalem leben. Auch die Palästinenser in Gaza haben keine Rechte.
Hier antwortet der Gerichtshof indirekt denjenigen, die seit dem 7. Oktober in westlichen Zeitungen und Regierungsstellen behaupten, der Gazastreifen sei seit 2005, als der damalige Premierminister Ariel Sharon die israelischen Kolonien in dem Streifen auflöste, nicht mehr besetzt: Der Gazastreifen ist besetzt, weil Israel - auch ohne militärische und zivile Präsenz, zumindest bis zum 7. Oktober - die totale Kontrolle über die Schlüsselelemente für ein freies Leben behält: Land- und Seegrenzen, Steuern, Ein- und Ausfuhren, Freizügigkeit. Das Gericht stellt fest, dass Israel immer noch die Verantwortung einer Besatzungsmacht trägt.
Die drei Gebiete, so schreibt der Gerichtshof, müssen "als eine einzige Einheit betrachtet werden, deren Einheit und Integrität gewahrt und respektiert werden muss“.
"Der anhaltende Missbrauch [durch] Israel seiner Position als Besatzungsmacht durch die Annexion und die Behauptung einer permanenten Kontrolle über die besetzten palästinensischen Gebiete und die fortgesetzte Vereitelung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung verstößt gegen grundlegende Prinzipien des Völkerrechts und macht Israels Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig“, sagte der Vorsitzende des Gerichts bei der Verlesung der Stellungnahme des 15-köpfigen Richtergremiums.
Er fügte hinzu, dass die Politik und die Praktiken Israels im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem der Annexion großer Teile dieser Gebiete gleichkommen und dass das Gericht feststellt, dass Israel die Palästinenser in den besetzten Gebieten systematisch diskriminiert.
... Apartheid
Das Gericht stellte also fest, dass die Besetzung de facto eine Annexion ist, und beantwortete damit die Kernfrage, um die es gebeten wurde. Es fügte aber dann hinzu, dass die Besatzung aus "systematischer Diskriminierung, Segregation und" - hier kommt das gefürchtete A-Wort - "Apartheid" besteht.
"Das Gericht stellt fest, dass Israels Gesetzgebung und Maßnahmen dazu dienen, im Westjordanland und in Ostjerusalem eine nahezu vollständige Trennung zwischen den Siedler- und den palästinensischen Gemeinschaften aufrechtzuerhalten."
"Aus diesem Grund ist das Gericht der Ansicht, dass Israels Gesetzgebung und Maßnahmen einen Verstoß gegen Artikel 3 des CERD darstellen“[2], fügt das Gericht hinzu. Dieser Artikel bezieht sich auf zwei besonders schwere Formen der Rassendiskriminierung: Rassentrennung und Apartheid.
Kein Staat darf Hilfe für Besatzung leisten
Das Gericht stellte auch fest, dass der UN-Sicherheitsrat, die Generalversammlung und alle Staaten verpflichtet sind, die Besatzung nicht als legal anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung für ihre Aufrechterhaltung zu leisten.
Reaktionen
Die Reaktionen auf das Haager Gutachten erfolgten umgehend. Der palästinensische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Riad Mansour, sagte, er sei "dankbar“ für die Entscheidung, die "neue Kraft für den weiteren Widerstand gegen diese illegale Besatzung“ gebe, und versprach, der UN-Vollversammlung eine Resolution vorzulegen, während der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, von einem "Sieg der Gerechtigkeit“ sprach.
In der israelischen Regierung kam es zu der inzwischen bekannten Abschirmung, einer Mischung aus Gegenbeschuldigungen und Drohungen, noch Schlimmeres zu tun. Der Botschafter bei der UNO, Erdan, verspricht Vergeltungsmaßnahmen gegen die UNO, von der Schließung des Hauptsitzes in Jerusalem bis hin zur Abschiebung der Leiter der Organisation.
Knesset erklärt UNRWA zur terroristischen Organisation
Am Montag, 22.7., haben die israelischen Streitkräfte einen UN-Konvoi auf dem Weg nach Gaza-Stadt bombardiert. Vergangen Woche hat die israelische Armee das Hauptquartier des UNRWA total zerstört. Das israelische Parlament hat am Montag in erster Lesung gegen 10 Stimmen ein Gesetz beschlossen, das die UN-Organisation UNRWA zur terroristischen Organisation erklärt und alle Beziehungen zwischen dem UNRWA und dem Staat Israel abgebrochen werden.[3]
Der Gerichtshof sei antisemitisch, so der Kommentar des Ministers für nationale Sicherheit Ben Gvir; "alles Lügen“, so Premierminister Netanjahu.
Die beiden gehen noch weiter. Netanjahu nimmt für seine verbrecherische Politik die Jüdinnen und Juden in Haftung, obwohl das Gericht ausdrücklich von "Israel" spricht. Netanjahu behauptete in seiner Erklärung, dass "das jüdische Volk weder sein eigenes Land, einschließlich unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem, noch Judäa und Samaria (das Westjordanland, Anm. d. Red .) besetzt hält“, und bestätigt damit die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs: Für die israelischen Behörden gibt es keinen Platz für die Palästinenser, die Annexion ist real und gerecht.
Das ist nichts Neues: Am Donnerstag, 18.7., verabschiedete die Knesset eine Resolution gegen die Zwei-Staaten-Lösung, mit Stimmen der Partei von Benny Gantz, der beansprucht, die politische Mitte zu vertreten. Rechtsaußen-Minister Bezalel Smotrich, zuständig für Siedlungsbau, bejubelte das "Aufwachen der Mehrheit der israelischen Gesellschaft". Von den Verbündeten kommen lauwarme Einwände und sie sie wiederholen wie seit Jahren das Mantra der Zweistaatenlösung - wie Deutschland und die Vereinigten Staaten, die immer noch von politischen Verhandlungen schwafeln und so tun, als ob sie nicht wüssten, dass Tel Aviv kein Interesse daran hat.
Und dann der einflussreiche Sicherheitsminister Ben Gvir, führender Vertreter der rassistischen und messianischen israelischen Ultrarechten: Es sei an der Zeit, die Souveränität über die Gebiete zu behaupten, sagte er als Reaktion auf das Gutachten.
In diesem Zusammenhang sind die militärischen Befehle vom 18. Juli zu sehen, über die die israelische Vereinigung PeaceNow berichtet: Die Befugnis zur Verwaltung der zivilen Angelegenheiten im Gebiet B des Westjordanlandes (gemäß den Osloer Vereinbarungen, die die Palästinensische Autonomiebehörde PNA betreffen) wird den israelischen Zivilbehörden übertragen. Das bedeutet eine "Legalisierung“ dessen, was bereits geschieht: Abriss palästinensischer Gebäude, Bauverbot mit Ausnahme von Scheingenehmigungen, neue Landbeschlagnahmungen und neue Siedlungen.
Das ist de facto eine Annexion, das ist Apartheid. Wie in Südafrika bis vor dreißig Jahren: Auch damals mobilisierte das Regime der Rassentrennung ein heterogenes Netz von zivilen und staatlichen Kräften zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung.
Konsequenzen des Gutachtens
Das Gericht veröffentlichte seine Entscheidung als Rechtsgutachten auf Vorlage der Vereinten Nationen, die es im Rahmen ihres Mandats mit Gutachten auf Abruf versorgt. Als solche ist die Entscheidung rechtlich nicht bindend, und selbst wenn sie von der Generalversammlung zur Durchsetzung an den Sicherheitsrat verwiesen wird, ist mit einem US-Veto zu rechnen.
Dennoch hat die Entscheidung erhebliche politische Konsequenzen, insbesondere vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza und der kritischen Weltmeinung über Israels Kriegsführung. Das Urteil untergräbt zudem die grundlegenden Argumente Israels über die Art seiner Beziehung zum Westjordanland und Ostjerusalem.
Einzelne Länder, Banken, Pensionsfonds und multinationale Unternehmen könnten das Urteil nutzen, um Sanktionen gegen Einzelpersonen, Siedlungen, Organisationen und israelische Unternehmen auszuweiten. Noch bedrohlicher ist, dass die Entscheidung des Gerichts Auswirkungen auf den Internationalen Strafgerichtshof haben wird, den Schwestergerichtshof in Den Haag, der weitere Anschuldigungen wegen Völkermordes und Kriegsverbrechen gegen Israel prüft. Es könnte Haftbefehle gegen mehr Beamte als nur den Premierminister und den Verteidigungsminister erlassen.
Anmerkungen
[1] https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/186/186-20240719-adv-01-00-en.pdf
[2] CERD: Ausschuss gegen Rassendiskriminierung (englisch Committee on the Elimination of Racial Discrimination) ist ein von der UNO eingesetztes Kontrollorgan, welches die Umsetzung und Einhaltung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) durch die Vertragsstaaten überwacht und Empfehlungen abgeben kann, wie sie die Umsetzung des Vertrags verbessern können.
ICERD: Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, ICERD) wurde am 21. Dezember 1965 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (Resolution 2106A (XX)). Das Übereinkommen trat am 4. Januar 1969 völkerrechtlich in Kraft.
[3] https://main.knesset.gov.il/en/news/pressreleases/pages/press22724y.aspx
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