06.07.2023: Amjad Iraqi, Analyst bei der palästinensischen Denkfabrik al-Shabaka und der unabhängigen israelisch-palästinensischen Nachrichtenseite +972mag, zum jüngsten Angriff der israelischen Armee auf das Flüchtlingslager Jenin. "Die Palästinenser von Jenin oder Nablus werden vor die Wahl gestellt: Vertreibung oder 'Gaza-Modell'", so Amjad Iraqi im Interview.
Die Vorgeschichte des jüngsten Krieges in Jenin
Dutzende von israelischen Siedlern griffen am Abend des 20. Juni das palästinensische Dorf Al-Lubban ash-Sharqiya im besetzten Westjordanland an und beschädigten Autos, Häuser und Geschäfte durch Brandstiftung und Steinwürfe. Fünf Palästinenser wurden durch Schüsse von Siedlern oder Soldaten verletzt. Nach Angaben von Augenzeugen waren die israelische Armee und Polizei während des gesamten Angriffs anwesend.
Der Amoklauf der Siedler - der sich in anschließend in anderen Gebieten des Westjordanlandes wiederholte - folgt auf einen Anschlag am 19. Juni auf eine Tankstelle in der benachbarten Siedlung Eli, bei dem palästinensische Bewaffnete vier Israelis töteten. Dieser Angriff folgte auf eine größere Razzia der israelischen Armee in Jenin am Vortag. Ein israelischer Apache-Hubschrauber feuerte während eines heftigen Gefechts zwischen angreifenden Armeeeinheiten und palästinensischen Kämpfern Raketen auf die Stadt Jenin im Westjordanland ab, angeblich um "Deckung" für die Evakuierung verwundeter Soldaten zu bieten; fünf Palästinenser, darunter ein 15-jähriger Junge, wurden getötet und 90 verletzt.
Am der Nacht zum 3. Juli drang die israelische Armee mit mehr als Tausend Soldaten, gepanzerten Fahrzeugen und Bulldozern – unterstützt von Kampfjets, Hubschraubern und Drohnen - in die palästinensische Stadt Jenin mit ca. 46.000 Einwohnern ein und hatte damit ihre erste Großoffensive seit rund 20 Jahren begonnen.
Nach zwei Tagen beendete die israelische Armee ihren "Heim und Garten" genannten Angriff auf Jenin und hinterlässt eine Spur der Zerstörung. Erneut ist die Stromversorgung massiv zerstört, der Internetzugang eingeschränkt, Krankenwagen blockiert, Bäume entwurzelt und Straßen und Häuser zerstört. Und eine neue Generation von Palästinensern in Jenin - die vierte seit der Nakba - ist - wieder einmal - obdachlos. Jenin war nach 1948 als Zufluchtsort für vertrieben Palästinenser gegründet worden.
Wie der Gazastreifen ist auch Jenin seit langem ein Zentrum des palästinensischen sozialen Lebens und des politischen Widerstands - und als solches ein Ziel brutaler Repression. Seit über einem Jahr führt die israelische Armee eine tödliche und langwierige Operation in der Stadt durch, bei der die Region immer wieder abgeriegelt wird, während Bodentruppen fast wöchentlich in Häuser der Zivilbevölkerung einbrechen und die öffentliche Infrastruktur zerstören.
Die bewaffneten palästinensischen Gruppen, die von jungen Männern angeführt werden, die nur ein Leben in Verzweiflung und Tod kennen, wehren sich unerbittlich und haben in letzter Zeit gezeigt, dass sie den israelischen Truppen das Eindringen in die Stadt erschweren können - eine Tatsache, die die Armee in der vergangenen Woche dazu zwang, auf rücksichtslose Luftangriffe zurückzugreifen.
Die Bombardierung eines bewohnten Stadtgebiets und die kollektive Bestrafung der Stadt werden außerdem durch die Dämonisierung von Jenin als "Brutstätte des Terrorismus" gerechtfertigt, die ein ständiges Eingreifen erfordert - im Wesentlichen die gleiche Doktrin des " Rasenmähens ", die in dem nur wenige Kilometer entfernten blockierten Gaza-Streifen angewandt wird.
"Wenn Israel beschließt, die Menschen aus dem Flüchtlingslager von Jenin vollständig zu vertreiben, werden die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union vielleicht einige Menschenrechtskommentare abgeben, aber letztlich würden sie diese Orte weiterhin als Sammelbecken für 'Terroristen' betrachten. Die Palästinenser werden vor die Wahl gestellt: Vertreibung oder das 'Gaza-Modell'. Das sind zwei sehr schmerzhafte Entscheidungen".
So kommentiert Amjad Iraqi, Analyst bei der palästinensischen Denkfabrik al-Shabaka und der unabhängigen israelisch-palästinensischen Nachrichtenseite +972mag, die beiden Kriegstage in Jenin, und versucht, einen Überblick über die Ereignisse der letzten Tage zu geben:
Amjad Iraqi: Es war der Höhepunkt einer israelischen Militäroperation, die bereits seit mehr als einem Jahr andauert. Seit 2022 ist die Armee fast jede Woche in Städte im Westjordanland wie Jenin und Nablus eingedrungen. Im Laufe der Monate hat nicht nur der Widerstand bewaffneter palästinensischer Gruppen gegen die Razzien zugenommen, sondern auch die militärischen Praktiken der Armee wurden intensiviert. Vor zwei Wochen setzten die Israelis einen Apache-Hubschrauber ein, um einen Luftangriff durchzuführen. Zwei Tage später kam eine Drohne zum Einsatz. Das hat es seit zwanzig Jahren, seit der zweiten Intifada, nicht mehr gegeben. Dies zeigt nicht nur, wie schwierig es für die Armee ist, bewaffnete Gruppen zu stoppen, sondern auch, dass sie bereit ist, immer gewaltsamere Methoden anzuwenden, um ihr Ziel zu erreichen. Die zunehmende Frustration führt zu einer kollektiven Bestrafung der Städte: Wenn die Armee behauptet, die "Infrastruktur der Terroristen" zu treffen, fügt sie in Wirklichkeit der palästinensischen Zivilbevölkerung, ihren Häusern und ihrer Infrastruktur schweren Schaden zu.
Ist es möglich, dass die Armee beschließt, Jenin wieder zu besetzen, wie sie es 2002 getan hat?
Amjad Iraqi: Das ist schwer zu sagen. Im Moment ist die Doktrin "Rasenmähen", also das Mähen des Grases wie im Gazastreifen. Es ist dieselbe Taktik: Sie gehen hinein, beschlagnahmen vielleicht ein paar Waffen und ermorden möglicherweise einen militanten Palästinenser. Aber man weiß, dass sie immer wieder zurückkommen werden, dass sie immer wieder bewaffnete Truppen schicken werden. Ich glaube nicht, dass die Armee ein Interesse daran hat, diese Orte wieder zu besetzen, die nach den Osloer Vereinbarungen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) unterstehen sollten. Vielmehr versucht sie, ihre Besatzungspolitik in den Flüchtlingslagern wieder aufzunehmen, d.h. mehr Luftangriffe auf Jenin oder Nablus zu fliegen, um die Kämpfer in der gleichen Weise zu treffen wie im Gazastreifen. Sie wird die Städte im Westjordanland wie das kleine Gaza behandeln.
In einem Artikel in +972mag sprechen Sie in diesem Zusammenhang vom "Gaza-Modell", d.h. dem Versuch, das Westjordanland in Bantustans aufzuteilen, die wie der Gazastreifen verwaltet werden sollen, was die soziale Kontrolle, die Belagerung und die Maximierung der Bevölkerung auf kleinstem Raum betrifft.
Amjad Iraqi: Es ist eine ausdrückliche israelische Politik, eine physische und psychologische Trennung zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen zu schaffen. Eine Politik, die von der palästinensischen Führung unterstützt wird, denn im Westjordanland regiert die Fatah und im Gazastreifen die Hamas. Die israelische Armee beginnt, die Methoden, die sie im Gazastreifen anwendet, auch im Westjordanland anzuwenden, auch wenn sie unterschiedliche Merkmale und Schweregrade aufweisen. Der Gazastreifen ist das ultimative Bantustan, das letzte konzentrierte Gebiet, in dem Israel nach Belieben Gewalt ausüben und die Bevölkerung auf engstem Raum einschließen kann. Die israelische Armee dringt regelmäßig in palästinensische Großstädte ein, darunter auch Ramallah, aber die Art und Weise, wie sie neue Technologien und moderne Kriegsführung auch im Westjordanland einsetzt, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie für Städte wie Jenin und Nablus keine andere Zukunft sieht als das "Gaza-Modell": geschlossene Orte, die niedergemäht werden, wie der Gazastreifen niedergemäht wird. Das ist die Fortsetzung des israelischen Apartheidregimes.
Stellen bewaffnete palästinensische Gruppen in einem solchen Szenario eine echte Bedrohung für die Besatzung dar? Haben sie eine Möglichkeit, ohne die Unterstützung politischer Parteien weiterzumachen?
Amjad Iraqi: Was diese Gruppen auszeichnet, ist, dass sie keiner politischen Partei angehören. Daher sind sie sehr dezentralisiert und ziehen Palästinenser verschiedener Ideologien und Hintergründe an, insbesondere junge Männer, die ohne Hoffnung aufwachsen; die nur das Leben in den Flüchtlingslagern und eine palästinensische Führung kennen, die Teil ihrer Unterdrückung ist; die täglich mit Siedlungen, Siedlern und militärischer Gewalt konfrontiert sind. Es ist eine Generation, die keine andere Möglichkeit sieht, als zu den Waffen zu greifen. Sie stellen kaum eine echte Bedrohung für die Besatzung dar. Aber sie machen die Dinge sehr prekär, sowohl für die palästinensische Führung, weil sie die alten Ideologien und Politiker herausfordern, die versuchen, die Kontrolle über die palästinensische Bewegung zu behalten, als auch für Israels Narrativ. Allein die Tatsache, dass es Anschläge gibt, zerstört die Illusion, dass irgendwie alles in Ordnung ist. Das ist die eigentliche psychologische Kraft dieser Anschläge, zusätzlich zu dem Schaden, den sie anrichten. Und genau das beunruhigt die israelischen und palästinensischen Behörden, die ein gemeinsames Interesse daran haben, dass diese Gruppen gezähmt oder außer Gefecht gesetzt werden. Darin liegt die Gefahr, dass sich in der palästinensischen Gesellschaft eine Massenopposition gegen alle Verursacher des erlittenen Unrechts formiert.
In den letzten Tagen mussten wieder Tausende von Flüchtlingen aus dem Flüchtlingslager Jenin ihre Häuser verlassen, um der Gewalt zu entkommen. Welche Auswirkungen haben Bilder, die anderen Vertreibungen sehr ähnlich sind, auf das palästinensische Volk und sein kollektives Empfinden?
Amjad Iraqi: Die Szenen, die wir in Jenin gesehen haben, zeigen, dass die Vertreibung von Palästinensern eine Konstante ist. Ob Binnenvertriebene nach einem Bombenangriff in Gaza oder Vertreibungen in Masafer Yatta oder Ostjerusalem oder in der Naqab-Wüste. Die derzeitige rechtsextreme israelische Regierung sagt ganz klar, dass die Palästinenser zwei Möglichkeiten haben: Entweder sie akzeptieren die israelische Herrschaft als dauerhaft oder sie werden vertrieben. In den letzten Monaten hat sich diese Bereitschaft plastisch gezeigt: mehr militärische Gewalt, Angriffe von Siedlern auf palästinensische Dörfer. Diese Gewalttaten hat es schon immer gegeben, aber wenn wir sie in diesem Ausmaß sehen, werden wir daran erinnert, dass die Nakba immer noch andauert, dass die Palästinenser leicht wieder vertrieben werden können und dass niemand Israel zur Rechenschaft ziehen wird.
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