Meinungen

20.08.2024: Ab 2026 sollen auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden ++ Kurze Vorwarnzeiten machen einen Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher, könnten aber auch zum atomaren Überraschungsangriff verleiten ++ Deutschland würde zum atomaren Schlachtfeld ++ Die Angst vor einem Atomkrieg in Europa wird wieder zunehmen.
Fred Schmid zur geplanten Raketenstationierung

 

Millionen Menschen sind in den achtziger Jahren gegen die Stationierung atomarer Mittelstrecken-Raketen in Europa auf die Straße gegangen. Ihr Protest hatte dazu beigetragen, dass am 8. Dezember 1987 die Sowjetunion und die USA den sog. INF-Vertrag unterzeichneten.

 

Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles "Tomahawk") mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet. Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt.

Dieser fast vierzigjährige "Atom-Friede" ist nun gefährdet. Der damalige US-Präsident Donald Trump kündigte am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach. Damit konnten wieder Mittelstrecken in Europa stationiert werden.

Dies soll nun 2026 geschehen.

Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ "Tomahawk" mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 KM und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen. Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2.500 km weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.

Auf Deutschland fällt die erste Bombe

Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen Militär-Industrie-Komplexes MIK mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert.

Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen: Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf den Fliegerhorst Büchel dazu; zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw usf. Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.

Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus. Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe! Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.

Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen.

Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch´s SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst werden enge Verbindungen zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.

Das SPD-Präsidium preist die Raketen gar als Friedenstauben speziell für Kinder.

"Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein".
Beschluss des SPD-Präsidiums vom 12.08.2024, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Parteispitze/PV_2024/20240812_Beschluss_PS_Sicherheit.pdf

Erstschlag-Option

Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. Aufgrund der längeren Flugzeit gilt bei Interkontinentalraketen eine Vorwarnzeit von etwa 30 Minuten. Der Angegriffene ist in der Lage, seine Raketen aus den Silos abzuschießen und so den Gegenschlag zu führen. Dieses "Gleichgewicht des Schreckens" wurde auf die Formel gebracht: "Wer als erster schießt, stirbt als zweiter". Kurze Vorwarnzeiten würden einen Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher machen, könnten aber auch zum atomaren Überraschungsangriff verleiten.

Bei Mittelstrecken-Raketen verkürzt sich diese Vorwarnzeit auf wenige Minuten. Marschflugkörper haben zwar eine längere Flugzeit, da sie aber in geringer Höhe operieren, unterfliegen sie das gegnerische Abwehr-Radar.

Dazu kommt die hohe Präzision bei modernen Raketen; sie können ihre Ziele fast punktgenau treffen. Das kann zu neuen Szenarien des "führbaren Atomkrieges" verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive "chirurgische Erstschläge", so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden. Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.

 

 

Von den Kriegen der Vergangenheit zu den Hyperschallkriegen

Mit den neuen hochpräzisen, weitreichenden und teilweise im Überschallbereich fliegenden Raketen soll eine neue Art der Kriegsführung möglich werden, schrieb Michael T. Klare, Verteidigungskorrespondent des US-Magazins "The Nation", bereits im Jahr 2021:

  1. "Das Pentagon geht davon aus, dass jeder künftige Konflikt mit Russland nach neuen Regeln ausgetragen werden wird, bei denen Schnelligkeit, Informationsdominanz und eine Konzentration von Präzisionsschlägen mit großer Reichweite den Ausgang der Schlacht bestimmen werden."
  2. Zu diesem Zweck wird ein "strategisches Feuerbataillon" geschaffen, "das mehrere Arten fortschrittlicher Raketen abfeuern kann, darunter die Precision Strike Missile (PrSM), die Mid-Range Capability (MRC) und die Long-Range Hypersonic Weapon (LRWH)."
  3. "Sobald die US-Streitkräfte mit solchen Raketen ausgerüstet sind, können sie hochwertige Ziele wie Luftwaffenstützpunkte, Radarstationen und Kommandozentralen tief auf russischem Territorium angreifen, was Russlands Fähigkeit bedroht, einen größeren konventionellen Konflikt mit der NATO aufrechtzuerhalten."
  4. Die Stationierung der neuen "Multi-Domain Task Force" ("Multi-Domain Task Force" (MDTF) der US-Armee in Wiesbaden, die bis 1991 über die Pershing-Raketen verfügte) und der neuen Raketen, "wird das künftige Kampfumfeld in Europa nachhaltig beeinflussen. Während gegenwärtig auf jedes militärische Zusammentreffen (ob beabsichtigt oder nicht) eine allmähliche Erhöhung des Gefechtstempos folgt, die Krisengespräche und Deeskalation ermöglicht, werden künftige Begegnungen fast sofort mit intensiven US-Luft- und Raketenangriffen auf wichtige gegnerische Einrichtungen beginnen, die darauf abzielen, Russlands Kampfkraft rasch zu schwächen."
  5. "Die Russen werden, soweit sie dazu in der Lage sind, versuchen, sich gegen solche Angriffe zu verteidigen und selbst ähnliche Operationen durchzuführen."
  6. "Solche Gefechte werden wahrscheinlich zu einem schnellen Sieg der einen oder anderen Seite führen –...
  7. ...oder für die unterlegene Seite zu einer frühen Entscheidung, auf dem Schlachtfeld Atomwaffen einzusetzen und einen nuklearen Holocaust auszulösen."

Michael T. Klare: From the Forever Wars to the Hypersonic Wars. The United States bolsters high-tech forces in Europe.
The Nation, April 20, 2021
https://www.thenation.com/article/world/forever-wars-austin-germany/

 

 

 

"Fähigkeitslücke" oder Gedächtnis-Lücke

Vorwand für den damaligen einseitigen Ausstieg der USA aus dem Vertrag (Russland hat lediglich nachgezogen): Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!

An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als "Beweise" angeführt, auch von den "Militärexperten" der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und den Bundeswehr-Professoren (z.B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt.

Es ist schon peinlich, wenn so genannte und selbst ernannte "Militärexperten" offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z.B. die in Kaliningrad installierte Iskander - und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.

Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: "Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab". (natwiss.de, 22.10.18).

Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: "Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden." (SWP-aktuell, 15. März 2018).

2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen. Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.

Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine "Fähigkeitslücke" (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur "Nachrüstung" herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 80er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-"Lücken"zu halten ist. Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.

 

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors / der Autorin und spiegeln nicht unbedingt die redaktionelle Haltung von kommunisten.de wider.


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