08.05.2024: Dr. Ghassan Abu Sitta berichtet über seinen Einsatz in Gaza: "Obwohl ich Tausende von Kilometern entfernt bin, denke ich ständig an meine Patienten in Gaza und frage mich: Haben sie es geschafft? Sind sie noch am Leben?"
Dr. Ghassan Abu Sitta, ein für seine humanitären Einsätze in Gaza bekannter britisch-palästinensischer Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, war am 9. Oktober vergangenen Jahres für 43 Tage mit einer Delegation der Organisation Ärzte ohne Grenzen als Chirurg in Gaza tätig.
Mitte April wollte er am Palästina-Kongress in Berlin teilnehmen, um von seinen Erfahrungen zu berichten. Doch der renommierte Chirurg wurde am Flughafen Berlin festgenommen, sein Pass beschlagnahmt und nach einem dreieinhalbstündigen Verhör wieder nach Großbritannien zurückgeschickt. Er dürfe auch nicht einmal virtuell per Video an der Konferenz teilnehmen, da dies "einen Verstoß gegen deutsches Recht" darstelle und entweder eine Geldstrafe oder bis zu einem Jahr Gefängnis zur Folge haben könne, berichtete Ghassan Abu Sittah.
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Interview mit Ghassan Abu Sitta: "In Rafah ist das militärische Ziel ein Massaker an den Palästinensern." |
Am Samstag (4.5.) wurde ihm von der französischen Grenzpolizei auf dem Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle die Einreise zu einem Vortrag im französischen Senat verweigert. Die französischen Grenzbeamten teilten ihm mit, dass ihm aufgrund eines deutschen Ersuchens die Einreise in alle Länder des Schengen-Raums für mindestens ein Jahr verwehrt werde. Die deutsche Regierung will verhindern, dass er über seine Erfahrungen berichtet. Vor allem wollen sie "mich an der Aussage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag hindern", sagt er im Interview.
Ghassan Abu Sitta berichtet über seinen Einsatz in Gaza:
Ich kam in den frühen Morgenstunden des 9. Oktober in Rafah an und machte mich inmitten heftiger israelischer Luftangriffe auf den Weg zu meinem Elternhaus in Gaza-Stadt. Am nächsten Tag ging ich mit meinem Cousin zum al-Shifa-Krankenhaus, um meine Arbeit aufzunehmen, ohne zu ahnen, dass dies der Beginn eines 43-tägigen Albtraums sein würde.
Während dieser 43 Tage wechselte ich von einem Krankenhaus zum anderen, unter anderem zum al-Ahli (Baptisten)-Krankenhaus. Es wurde 1882 gegründet, ist eines der ältesten Krankenhäuser in Gaza und wird von der anglikanischen Kirche betrieben.
Israel drohte damit, die Einrichtung anzugreifen, aber Ärzte und anderes medizinisches Personal beschlossen schon früh, dass wir unsere Patienten nicht evakuieren und im Stich lassen würden.
Am 17. Oktober befand ich mich zwischen zwei Operationen, als ich das Kreischen einer sich nähernden Rakete hörte, gefolgt von dem lauten, kakophonischen Geräusch des Einschlags.
Als ich in den Korridor trat, sah ich, dass der Hof des Krankenhauses einem Inferno glich; Krankenwagen und Autos standen in Flammen. Ein Mann blutete stark aus dem Hals, und ich musste draufdrücken, bis der Krankenwagen eintraf, der ihn nach al-Shifa bringen sollte. Als wir später durch den Innenhof gingen, sah ich überall Leichen und Körperteile, darunter einen kleinen Arm, der eindeutig zu einem Kind gehörte.
Trotz seiner Verbindung zu Großbritannien und der Zusicherungen des englischen Bischofs, dass es von der Zerstörung verschont bleiben würde, wurde das al-Ahli Hospital zerstört.
Dieser Vorfall diente als Lackmustest für das, was noch kommen sollte: Israels umfassender Krieg gegen die Gesundheitsinfrastruktur des Gazastreifens.
Nachdem al-Ahli bombardiert worden war und niemand zur Rechenschaft gezogen wurde, begannen die Dominosteine schnell zu fallen. Ein Krankenhaus nach dem anderen wurde angegriffen. Es wurde offensichtlich, dass die Angriffe systemisch waren.
Schnell gingen uns Morphium und Ketamin aus und wir griffen in unserer Verzweiflung auf intravenöses Paracetamol als Schmerzmittel zurück, da es nichts anderes gab. Die Opfer des völkermörderischen Krieges Israels gegen den Gazastreifen, darunter Zehntausende von Kindern, wurden ohne Betäubung extrem schmerzhaften Eingriffen unterzogen; es kam uns kriminell vor, diese Eingriffe durchzuführen. Es ist unbeschreiblich herzzerreißend, Kinder vor Schmerzen schreien zu hören, die man verursacht, selbst wenn man weiß, dass man nur versucht, ihr Leben zu retten.
Vor allem ein kleines Mädchen, erst neun Jahre alt, war am ganzen Körper mit Schrapnellwunden übersät. Ich hatte sie operiert, aber die Art der Verletzung bedeutete, dass die Wunden alle 36 Stunden desinfiziert werden mussten, um sie am Leben zu erhalten. Ich sprach mit ihrem Vater und erklärte ihm, dass ihre Temperatur anstieg und die Infektion sich auf ihr Blut ausbreitete und sie langsam tötete. Ohne Morphium oder Ketamin bestand die einzige Möglichkeit darin, die vielen Wunden, die sie hatte, alle 36 Stunden zu desinfizieren, ohne ausreichende Schmerzlinderung. Sie schrie vor Schmerzen, ihr Vater weinte, und auch mir kamen die Tränen.
Rafah, 6. Mai 2024: Kleinkind mit Brandwunden durch Einsatz von Brandbomben durch die israelische Armee
Ich habe viele Verletzungen behandelt, die durch chemische Bomben verursacht wurden, die den menschlichen Körper in einen Schweizer Käse verwandeln. Die chemischen Partikel brennen sich so lange durch die Haut, wie sie mit Sauerstoff in Berührung kommen, und entzünden sich erneut, wenn sie wieder mit Sauerstoff in Berührung kommen. Der erste kleine Junge, 13 Jahre alt, den ich während des aktuellen Angriffs auf Gaza behandelte, hatte solche chemischen Verbrennungen bis auf die Knochen. Schon früh musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass die Überlebenschancen der Verwundeten aufgrund der Bedingungen, in denen wir uns befanden, und der Verletzungen, mit denen wir zu tun hatten, sehr gering sein würden.
Die Entscheidung, den Einsatz zu verlassen, war eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich in meinem ganzen Leben treffen musste, sowohl psychisch als auch physisch. Als wir im Norden keine Operationen mehr durchführen konnten, beschloss ich, in den Süden zu gehen, in der Hoffnung, dass die Operationssäle dort noch funktionieren würden. Ich war sechs Stunden zu Fuß unterwegs und sah unvorstellbar grausame Szenen der Massenvernichtung, Leichen und Leichenteile. Als ich im Lager Nuseirat ankam, musste ich feststellen, dass die Situation dort nicht besser war. Es fehlte nicht an Chirurgen, sondern an medizinischer Ausrüstung und Strom. Als ich feststellte, dass die Krankenhäuser nicht funktionieren, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich nichts mehr für Gaza tun konnte, solange ich noch in Gaza war.
Jetzt bin ich Tausende von Kilometern entfernt, aber meine Gedanken sind immer noch in Gaza. Ich denke die ganze Zeit an meine Patienten. Ich denke an ihre Gesichter, ihre Namen und die Gespräche, die wir geführt haben. Sie gehen mir regelmäßig durch den Kopf und ich frage mich: Sind sie noch am Leben, oder sind sie ihren Verletzungen oder dem Hunger erlegen? Ich stecke in dem Tag fest, an dem ich sechs Kinder amputieren musste. Ich stecke in den Tagen fest, an denen ich arbeiten musste, nachdem ich die Nachricht erhalten hatte, dass Kollegen, die ich noch Stunden zuvor gesehen oder mit ihnen gearbeitet hatte, getötet worden waren.
Nach mehr als 200 Tagen dieses Völkermords denke ich immer wieder: "Das haben wir doch alles schon gesehen", und dann wird eine neue Gräueltat aufgedeckt. Krankenhäuser wurden in Schutt und Asche verwandelt. Sie wurden zu Massengräbern von Palästinensern, die von den israelischen Streitkräften kaltblütig ermordet wurden, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
Die abscheulichen Verbrechen in den al-Shifa- und Nasser-Krankenhäusern wurden live auf unsere Bildschirme übertragen, aber die Welt sah unbeteiligt zu. Israel ist nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Viele Länder und akademische Einrichtungen unterstützen und verteidigen Israel weiterhin. Viele beliefern Israel weiterhin mit Waffen.
Ich habe mein Medizinstudium an der Universität von Glasgow absolviert, die ironischerweise einer der größten akademischen Investoren in Unternehmen ist, die weiterhin Waffen an Israel verkaufen. Ich beschloss, an meine Alma Mater zurückzukehren und bei den Wahlen zum Rektor zu kandidieren, weil ich wusste, dass die Haltung der Universität zu Israel nicht die Ansichten ihrer Studenten widerspiegelte, die mit überwältigender Mehrheit die Mitschuld der Universität am Massenmord an den Palästinensern beenden wollten. Ich gewann die Wahl mit einer überwältigenden Mehrheit von 80 Prozent der Stimmen, und die Studenten begrüßten mich am 11. April 2024 in meinem neuen Amt mit einem Überschwang an Zuneigung und Unterstützung.
Infolge meines Sieges, meiner Auftritte in den Medien und meiner Forderungen nach Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit wurde ich zur Zielscheibe mehrerer Verleumdungskampagnen und Gegenstand mehrerer Artikel, in denen unbegründete Behauptungen über mich aufgestellt wurden. Mir wurde sogar die Einreise nach Deutschland verweigert, ich wurde drei Stunden lang festgehalten und schließlich abgeschoben. Ich war auf dem Weg dorthin, lediglich um auf einer Konferenz zu sprechen. (siehe kommunisten.de: Palästina-Kongress aufgelöst: Meinungsfreiheit wird der ultrarechten Netanjahu-Regierung und der "Staatsräson" geopfert.)
Ich kann den ganzen Schrecken nicht begreifen, in dem wir gerade leben. Ein Völkermord findet live im Fernsehen statt - ein Völkermord, an dem viele Staaten, Politiker und angesehene Institutionen mitschuldig sind.
Über 34.000 Palästinenser wurden von Israel ermordet, viele weitere wurden verstümmelt, und der Gazastreifen wurde in Schutt und Asche gebombt. Israel will seine geplante Bodeninvasion in Rafah fortsetzen, was für Hunderttausende von Menschen, die dort Schutz suchen, katastrophale Folgen haben wird. Gegen Israel und seine Verbündeten wurden bereits mehrere Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof eingeleitet. Dennoch handelt Israel weiterhin in dem Bewusstsein völliger Straffreiheit.
Israel hat alle Teile des Lebens im Gazastreifen zerstört: Bäckereien, Schulen, Moscheen und Kirchen; es blockiert die humanitäre Hilfe und schränkt die Stromversorgung ein. Damit will es sicherstellen, dass der Gazastreifen auch nach einem Waffenstillstand unbewohnbar bleibt. Als israelische Soldaten das erste Mal in das al-Shifa-Krankenhaus eindrangen, zerstörten sie medizinische Geräte und Maschinen, um sicherzustellen, dass das Krankenhaus nicht mehr funktionieren kann. Heute ist vom Krankenhaus selbst nur noch wenig übrig.
Obwohl ich Tausende von Kilometern entfernt bin, bleiben mein Herz und meine Gedanken in Gaza, und zum Leidwesen der Befürworter des Völkermords werde ich nie aufhören, mich für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht einzusetzen.
Quelle Al Jazeera, Veröffentlicht am 3. Mai 2024: I spent 43 days in Gaza’s now-destroyed hospitals. My mind is still there.
https://www.aljazeera.com/opinions/2024/5/3/i-spent-43-days-in-gazas-now-destroyed-hospitals-my-mind-is-still-there
eigene Übersetzung
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die redaktionelle Haltung von kommunisten.de wider.
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