08.05.2024: Interview mit dem britisch-palästinensischen Chirurgen: "Berlin hat mich ein Jahr lang aus Europa verbannt, um mich daran zu hindern, vor dem Strafgerichtshof auszusagen. Für Palästinenser ist Bildung das Einzige, was einem niemand wegnehmen kann. Deshalb hat Israel die Universitäten zerstört, um sicherzustellen, dass die Palästinenser keine Zukunftsperspektive haben. Der Gazastreifen ist das Laboratorium des globalen Kapitals für das Management von Bevölkerungsüberschüssen."
Ghassan Abu Sitta, ein für seine humanitären Einsätze in Gaza bekannter britisch-palästinensischer Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, wurde am Samstag (4.5.) von der französischen Grenzpolizei auf dem Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle die Einreise verweigert. Aufgrund eines deutschen Ersuchens ist ihm für mindestens ein Jahr die Einreise in alle Länder des Schengen-Raums verwehrt. Mitte April war er bereits in Deutschland am Flughafen in Berlin an der Einreise gehindert worden. Er hätte damals auf dem Palästina-Kongress in Berlin sprechen sollen, der von der Polizei aufgelöst und verboten wurde.
Ghassan Abu Sitta hat seit der Ersten Intifada medizinische Einsätze in Palästina durchgeführt und an mehreren Kriegsschauplätzen gearbeitet, darunter Syrien, Jemen, Irak und Libanon. Abu Sitta war am 9. Oktober vergangenen Jahres für 43 Tage mit einer Delegation der Organisation Ärzte ohne Grenzen als Chirurg in Gaza gewesen und hatte in Interviews mit internationalen Medien geschildert, unter welchen Bedingungen er als Chirurg in den Krankenhäusern al-Shifa und al-Ahli operieren musste: unter äußerst prekären hygienischen Bedingungen und oft ohne Narkose und Schmerzmittel für die schwerverletzten Patienten, bei denen es sich um Opfer der israelischen Bombardierungen des Gazastreifens handelte. Im Januar hatte er diesbezüglich auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgesagt.
Chiara Cruciati sprach für die italienische kommunistische Zeitung il manifesto mit Ghassan Abu Sitta
Chiara Cruciati: Ich würde gerne mit Ihrer Geschichte beginnen. Sie selbst sind ein Flüchtling, geboren in der Diaspora. Ihre Familie wurde während der Nakba von der paramilitärischen Haganah-Einheit aus Ihrem Dorf in Palästina vertrieben und fand Zuflucht in Khan Younis im Gazastreifen. Während wir hier sprechen, haben 100.000 Palästinenser in Rafah einen Befehl von der israelischen Armee erhalten, das Gebiet zu verlassen. Erleben wir eine neue Nakba?
Ghassan Abu Sitta: Was wir erleben, ist ein Völkermord, den die europäischen Länder und die Vereinigten Staaten seit sieben Monaten schützen, damit er weitergehen kann. Was wir erleben, ist die Tatsache, dass die europäischen Regierungen und die EU sieben Monate lang verhindert haben, dass der Völkermord gestoppt wird, und dass sie die Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht haben, damit ihm nicht die Munition ausgeht, während es tötet. Rafah ist ein weiteres Kapitel in diesem Völkermord, auch wenn die israelischen Militäranalysten selbst sagen, dass es keinen anderen Kriegsgewinn als ein Massaker geben wird. Wenn wir von Völkermord als Kriegsziel sprechen, meinen wir folgendes: Rafah ist ein weiteres Beispiel dafür, dass das militärische Ziel die Tötung von Palästinensern ist.
"Der Unterschied liegt in der systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems als Teil der Militärstrategie."
Chiara Cruciati: Seit der ersten Intifada bringen Sie ihr medizinisches Fachwissen nach Palästina. Sie haben dies während aller Militäroffensiven der letzten zwanzig Jahre getan. Welchen Unterschied sehen Sie in den israelischen Militärpraktiken der Vergangenheit und der Gegenwart?
Ghassan Abu Sitta: Es ist der Unterschied zwischen einer Flut und einem Tsunami. Die heutige Angriffsoffensive unterscheidet sich in Umfang, Größe und Intensität von jedem anderen Krieg in der Geschichte: Der Unterschied liegt in der systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems als Teil der Militärstrategie. Das hat es noch in keinem Krieg gegeben. Ich habe schon viele Kriege erlebt, aber noch nie habe ich die Zerstörung des Gesundheitswesens als Rückgrat des gesamten Projekts gesehen. Denn das Ziel ist es, Gaza unbewohnbar zu machen.
Chiara Cruciati: Was hat man aus den Krankenhäusern gemacht? Ich denke da vor allem an al-Shifa, eine Säule der palästinensischen Gesellschaft und ein lebendiges Archiv des Dramas in Gaza.
Ghassan Abu Sitta: Wir haben es am 17. Oktober gesehen, als sie das al-Ahli zerbombt haben. Dann haben sie alle anderen Krankenhäuser zerstört. Sie verwandelten das al-Shifa in ein Massengrab, und dasselbe taten sie im Nasser in Khan Younis. Sie haben Dr. Adnan Bursh, den Leiter der orthopädischen Chirurgie im al-Shifa, im Gefängnis getötet. Die Zerstörung des Gesundheitssystems erfolgt nicht nur durch die Zerstörung von Gebäuden, sondern auch durch die Ermordung von über 400 Ärzten, Krankenschwestern und Sanitätern (Anm. kommunisten.de: nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind mit Stand 3.5.2024 seit 7. Oktober 2023 insgesamt 496 medizinische Mitarbeiter in Gaza getötet und 1.500 verwundet worden; 309 werden in israelischen Gefängnissen festgehalten.) und die Inhaftierung von Hunderten von ihnen. Sie geschieht durch ihre Liquidierung in israelischen Gefängnissen. Das al-Shifa ist die größte Einrichtung im gesamten Gazastreifen. Es ist die größte Einrichtung. Wenn man sich in Gaza verirrt und nach dem Weg fragt, antwortet man mit dem al-Shifa als Himmelsrichtung. Al-Shifa hat einen Anteil von 30 Prozent am gesamten Gesundheitssystem. Das Hospital wurde von den Briten während der Mandatszeit erbaut, dann von den Ägyptern, von der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Arafat und schließlich von der Hamas erweitert. Es ist die älteste Einrichtung. Deshalb haben die Israelis es zu einem Massengrab gemacht.
"Damit die Palästinenser keine Zukunftsperspektive haben, hat die israelische Armee alle 12 Universitäten in Gaza zerstört und hundert Professoren und Rektoren getötet."
Chiara Cruciati: Der Internationale Gerichtshof warnt vor der plausiblen Gefahr eines Völkermords. Vorgelagert ist die Zerstörung aller Lebensgrundlagen: des Ernährungssystems, des Produktionssektors, des Gesundheitswesens, der Strom- und Wassernetze, aber auch des Bildungssystems. Sie sprechen oft von der Bedeutung der Bildung für die Ausbildung der palästinensischen Generation, die sowohl in Palästina als auch in der Diaspora eine der höchsten Schul- und Hochschulausbildungen hat. Warum ist das so wichtig?
Ghassan Abu Sitta: Für Palästinenser und insbesondere für die Generation meines Vaters, die die Nakba überlebt hat, ist Bildung das Einzige, was einem niemand wegnehmen kann. Als die Generation meines Vaters alles verlor, ihr soziales Netz, ihr Zuhause, ihren sozialen Status, und sich in einer Umgebung wiederfand, die einem echten sozialen Tod gleichkam, war Bildung das Wichtigste, das einem niemand nehmen konnte. Und für alle nachfolgenden palästinensischen Generationen war Bildung das, in das man investieren musste. Um sicherzustellen, dass die Palästinenser keine Zukunftsperspektive haben, hat die israelische Armee alle 12 Universitäten in Gaza zerstört und hundert Professoren und Rektoren getötet.
"Man will mich an der Aussage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag hindern."
Chiara Cruciati: Letzten Monat sollten Sie an einer öffentlichen Veranstaltung in Deutschland teilnehmen, um über Ihre Arbeit in Gaza zu sprechen. Doch Sie wurden am Flughafen festgehalten und abgeschoben. Und nun lastet auf Ihnen ein einjähriges Einreiseverbot in den Schengen-Raum. Was war geschehen?
Ghassan Abu Sitta: Als ich in Deutschland aufgehalten wurde, wurde mir mündlich mitgeteilt, dass das Verbot nur für den Monat April und nur für das deutsche Hoheitsgebiet gelten würde, weil man mich daran hindern wollte, an dieser Konferenz teilzunehmen. Als ich dann eingeladen wurde, vor dem französischen Senat zu sprechen, hätte ich nie gedacht, dass ich am Flughafen Charles de Gaulle aufgehalten werden würde. Ich war schockiert, als mir der Beamte der Einreisebehörde mitteilte, dass Deutschland ein Einreiseverbot für den gesamten Schengen-Raum bis April 2025 verhängt hat.
Chiara Cruciati: In vielen europäischen Ländern wird abweichende Meinung zunehmend kriminalisiert und erreicht ein gefährliches Ausmaß an Repression. Wie ist das Klima in Großbritannien?
Ghassan Abu Sitta: In Europa sind es die Regierungen, die kriminalisieren, in Großbritannien ist es der Machtapparat der Rechten: die Zeitungen von Rupert Mardoch, die Pro-Israel-Organisationen und so weiter. In meinem Fall, und das ist die Meinung meiner Anwälte, ist der Grund, warum Deutschland mich aus ganz Europa verbannt hat, der, mich an der Aussage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu hindern.
Staatsanwalt Karim Khan beklagte sich letzte Woche über den Druck, den europäische Regierungen auf den Gerichtshof ausüben, um keine Haftbefehle gegen Netanjahu, Gallant und Halevi zu erlassen. Ich denke, das Ziel in meinem Fall ist es, mich daran zu hindern, in die Niederlande zu reisen. Ich habe bereits ausgesagt, aber sie werden mich noch einmal anhören, wenn der Fall zu einem Prozess wird.
"Der Gazastreifen ist das Laboratorium des globalen Kapitals für das Management von Bevölkerungsüberschüssen."
Chiara Cruciati: In einem kürzlich erschienenen Artikel in Progressive International Wire schreiben Sie: "Der Gazastreifen ist das Laboratorium, auf das das globale Kapital für das Management von Bevölkerungsüberschüssen schaut. (...) Die Waffen, die Benjamin Netanyahu heute benutzt, sind die Waffen, die Narendra Modi morgen benutzen wird".
Ghassan Abu Sitta: Die israelische Militärindustrie wirbt bereits für die Produkte, die im Gaza-Einsatz verwendet werden. Es gibt eine berüchtigte Aussage von einem der Geschäftsführer eines israelischen Unternehmens, in der er sagt, er wohne nur zehn Minuten vom Labor entfernt. Das Labor ist Gaza. Israel ist nicht nur bei Killerrobotern und Gesichtserkennungssoftware führend, sondern auch bei Quadrocoptern. Das sind die Drohnen, die im Gazastreifen eingesetzt werden - klein und mit einem Scharfschützengewehr ausgestattet, wurden sie schon gegen Krankenhäuser eingesetzt.
Als ich in al-Ahli war, bekamen wir an einem einzigen Tag 30 Verwundete von Quadrocoptern, die um das Krankenhaus herumflogen und auf jeden schossen, der versuchte, es zu betreten.
Diese Technologien und diese Philosophie werden gegen die wirtschaftlich und politisch überschüssige Bevölkerung eingesetzt, gegen die Palästinenser in Gaza, aber nicht nur. Es sind die Slums von Mumbai oder die von Nairobi und Sao Paulo oder die Flüchtlinge, die das Mittelmeer überqueren. Oder die Bevölkerung von Kaschmir, wo die indische Polizei zunehmend israelische Techniken anwendet.
Nach Angaben des israelischen Wirtschaftsministeriums haben die Bestellungen für israelische Waffen, die in diesem Krieg eingesetzt werden, bereits zugenommen. In den kommenden Jahren werden wir Quadrocopter an anderen Orten der Welt sehen, um die überschüssige Bevölkerung, die sozial Unerwünschten, zu "verwalten".
übernommen von il manifesto, 7. Mai 2024: Ghassan Abu Sitta: «A Rafah nessun beneficio militare, l’obiettivo è il massacro»
eigene Übersetzung
siehe auch
Dr Ghassam Abu Sitta berichtet: |