13.08.2024: Im Zusammenhang mit der Positionierung gegen die genocidale Kriegsführung der Netanjahu-Regierung gegen die Bevölkerung in Gaza und der Kritik an der Solidaritätsbewegung für die Rechte der Palästinenser:innen wird gerne die "Antisemitismus-Keule“ geschwungen und die uneingeschränkte Solidarität mit Israel als "deutsche Staatsräson“ beschworen und eingefordert.
Jüngst sind zwei Bücher erschienen, die Erhellendes beitragen, um die Beziehungen Deutschlands zum Staat Israel und zur palästinensischen Nationalbewegung besser verstehen zu können.
Whitewashing and Statebuilding: Israel und die "deutsche Staatsräson“
"Der deutsche Bundestag war gespickt mit alten Nazis, die in allen Parteien – außer der KPD - vertreten waren. Die Bonner Republik war ein Amalgam aus der judenfeindlichen Nazi-Erbmasse und den antikommunistischen Zugaben der West-Alliierten“
Die Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland, die 1949 das Grundgesetz beschließen sollten, kamen unvermeidlich in großer Mehrheit aus der Nazi-Schule. Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, war kein Nazi, hatte ihnen aber die Steigbügel gehalten, als er 1933 im Reichstag für das Ermächtigungsgesetz Hitlers stimmte, womit das Parlament sich selbst abschaffte und der Nazi-Partei alle Macht überließ. Chef des Bundeskanzleramtes unter dem ersten Kanzler Adenauer wurde Hans Globke, der ein sehr aktiver und findiger juristischer Spezialist der Nazis beim Ausarbeiten ihrer "Rassengesetze" gewesen war, der rechtlichen Grundlage der Exklusion und schließlich der Vernichtung der Juden und Jüdinnen und aller "Nicht-Arier". "Der deutsche Bundestag war gespickt mit alten Nazis, die in allen Parteien – außer der KPD - vertreten waren. Die Bonner Republik war ein Amalgam aus der judenfeindlichen Nazi-Erbmasse und den antikommunistischen Zugaben der West-Alliierten“ (Conrad Schuhler).
In seinem jetzt auch auf deutsch erschienen Buch "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“ (2018 war es unter dem Titel "Germany and Israel: Whitewashing and Statebuilding“ erstveröffentlicht worden) beleuchtet Daniel Marwecki (Jahrgang 1987, lehrt Internationale Beziehungen an der University of Hong Kong) die Beziehungen zwischen der jungen Bundesrepublik Deutschland und dem neugegründeten Staat Israel.
Adenauer erinnert sich später als Ex-Kanzler an die Anfänge der deutsch-israelischen Zusammenarbeit. In dem Fernsehinterview mit dem Journalisten Günter Gaus aus dem Jahr 1965 antwortet er bei der Frage der Bedeutung einer deutsch-jüdischen Aussöhnung: “Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden müssten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen wollen.” Um dann als entscheidenden Punkt hinzuzufügen, der heute wohl als antisemitische Verschwörungstheorie gelten würde: ”Die Macht der Juden – auch heute noch, insbesondere in Amerika, – sollte man nicht unterschätzen“
Nach Marweckis Recherchen war Deutschland bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 erste Schutzmacht des jüdischen Staates, erst danach übernahmen die USA diese Rolle. Deutsche Reparationszahlungen und vor allem Waffenlieferungen halfen, aus Israel eine Regionalmacht im Nahen Osten zu machen.
Marwecki zitiert den israelischen Historiker Tom Segev, der einmal pointiert festgestellt hat, dass nach 1945 der deutsche Weg nach Washington - sprich in den Westen – über Jerusalem geführt habe, während der israelische Pfad unter den Schutzschirm der USA über Bonn verlaufen sei. Erst mit dem Sechs-Tage-Krieg 1967, als Israel seine Stellung als militärisch bedeutsame Regionalmacht unter Beweis gestellt habe, hätten die USA Deutschland als Schutzmacht des jüdischen Staates abgelöst; sehr zur Erleichterung der Regierenden in Bonn, die sich spätestens im Zuge der Ölkrise der 1970er-Jahre um ihre Beziehungen zur arabischen Welt sorgten.
Marweckis Resümee lautet, dass die "deutsche Wiedergutmachung“ vor allem der Bundesrepublik selbst geholfen hat – als kostengünstiges Konjunkturprogramm (bezahlt wurde mit Waren der deutschen Industrie), vor allem aber als Eintrittsbillett für die westliche Welt (wo eine Verständigung mit Israel als Voraussetzung verstanden wurde). Die Waffenhilfe blieb größtenteils geheim oder wurde notfalls geleugnet.
"Wenn Deutsche über Israel reden, reden sie eigentlich über sich selbst."
Mit dem Ende des Kalten Kriegs entwickelte sich daraus der Grundsatz, Israels Sicherheit als deutsche "Staatsräson“ zu verstehen. Dahinter verberge sich, so Marwecki, eine "Entlastungshoffnung“. Die guten Beziehungen zum jüdischen Staat sollen die Deutschen ein wenig von der eigenen Schuld erlösen. Die Beziehungen sind so zu einem Teil der deutschen Vergangenheitsbewältigung geworden – auch dies im deutschen Interesse.
"Von Moral kann kaum die Rede sein“
"Warum ist diese Geschichte so unbekannt? Schließlich wird ständig über die deutsch-israelischen Beziehungen gesprochen.“
"Ich gehe in meinem Buch von der These aus: Wenn Deutsche über Israel reden, reden sie eigentlich über sich selbst. Das erklärt diese vielen Ersatzdebatten wie etwa bei der Berlinale. Diese aufgeladenen Diskussionen befassen sich mit der Vergangenheit und Antisemitismus, aber nie mit der deutschen Rolle im Nahen Osten. Außerdem eignet sich diese frühe Aufbaugeschichte nicht sehr gut für das heutige Moralnarrativ. Man kann mit Adenauer keine gute Versöhnungsgeschichte schreiben, weil er diese selbst so nicht schreiben wollte. Die deutsche Schuld für den Holocaust kommt darin ja kaum vor. Dem wollte ich mit meinem Buch etwas entgegensetzen, das die realen deutsch-israelischen Beziehungen behandelt.“[1]
Deutschland blockiert Haftbefehl gegen Netanjahu & Co und verschafft Israel Zeit für den Völkermord |
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina
Den "Nahostkonflikt“ aus palästinensischer Perspektive rekonstruiert Rashid Khalidi, ein us-amerikanisch-palästinensischer Historiker, der Professor der Columbia University in New York und Direktor des dort ansässigen Nahost-Instituts ist.
Khalidis Buch will keinen umfassenden Überblick über die palästinensische Geschichte geben, sondern konzentriert sich auf sechs Wendepunkte im Kampf um Palästina, die er als "Kriegserklärungen“ bezeichnet. Diese sechs Ereignisse, von der Balfour-Deklaration von 1917 bis zur Belagerung des Gazastreifens durch Israel und seinen wiederholten Kriegen gegen die dortige palästinensische Bevölkerung, verdeutlichen seiner Meinung nach sowohl den kolonialen Charakter dieses "Hundertjährigen Krieges“ als auch die entscheidende Rolle von externen Mächten.
Vieles von dem, was Khalidi in seinem Buch darlegt, hat unlängst der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) im Juli 2024 in einem Gutachten festgestellt. (siehe kommunisten.de, 23.7.2024: "Internationaler Gerichtshof: Israel ist ein Apartheidstaat")
Israel macht sich "systematischer Diskriminierung, Segregation und Apartheid“ schuldig
Israels Besatzung palästinensischen Landes – Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gaza – ist illegal und muss beendet werden. Die Besatzung zielt der Einschätzung des Gerichts zufolge auf permanente Kontrolle und kommt somit einer Annexion gleich. Auch Israels Siedlungspolitik, ein Kernelement der Besatzung, ist demnach illegal. Israels Praktiken in Palästina konstituieren in den Augen der Mehrheit des Gerichts Apartheid – genauer: einen Verstoß der Internationalen UN-Antirassismuskonvention, die Rassentrennung und Apartheid verbietet. Konkret forderte der IGH in seinem Gutachten auch umfassende Reparationen und ein Rückkehrrecht für Palästinenser, die seit Beginn der Besatzung 1967 zwangsvertrieben wurden.
Erste Kriegserklärung: "Balfour-Deklaration“ (1917) und Völkerbund-Mandat (1922)
Das Osmanische Reich wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer brüchiger; die Balkan-Kriege (1912/13) und vor allem der Erste Weltkrieg führten schließlich zu dessen Ende. Mit der osmanischen Herrschaft war damit etwas zusammengebrochen, das seit über zwanzig Generationen das einzige bekannte Regierungssystem in Kleinasien gewesen war. Nach Kriegsende sahen sich damit die Menschen in weiteren Teilen der arabischen Welt einschließlich Palästina mit der Besetzung durch europäische Armeen konfrontiert.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte das palästinensische Volk angesichts der mächtigen Triade aus britischem Empire, zionistischer Bewegung und dem Völkerbundmandat keine guten Karten
Vor dem Ersten Weltkrieg war Palästina, ethnisch gesprochen, ein weitgehend arabisches Land. Um dort einen jüdischen Staat errichten zu wollen, brauchte die zionistische Bewegung mächtige ideologische und politische Bundesgenossen. Im Einklang mit der kolonialen Logik gab und gibt es eine Unmenge an Literatur, die beweisen soll, dass Palästina vor der Kolonisierung unfruchtbar, leer und rückständig war; von vereinzelten wurzellosen nomadischen Beduinen bevölkert, die keine feste Identität und keine Bindung an das Land hatten. So kam es zur Vorstellung, dass erst die Arbeit und Tatkraft der neuen jüdischen Einwanderer diesen vernachlässigten Landstrich zu einem blühenden Garten machen könnten. Der Slogan "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ fasste diese Haltung zusammen.
Die erste Schutzmacht der zionistischen Siedler:innen war Großbritannien. Die Briten eroberten Palästina gegen Ende des Ersten Weltkrieges und hatten in der "Balfour-Deklaration“ (1917) aus eigenen strategischen Interessen den Zionisten Unterstützung bei der Gründung eines "jüdischen Nationalheims“ versprochen. Dazu gehörten die Erleichterung jüdischer Einwanderung einschließlich des Rechts auf Landerwerb. 1922 erließ der Völkerbund sein Mandat für Palästina, das die britische Herrschaft formell bekräftigte. In der Völkerbund-Erklärung, die die "Balfour-Deklaration“ zur Grundlage nahm, tauchen die Palästineser:innen als Volk mit nationalen oder politischen Rechten nirgends auf. "Ob so beabsichtigt oder nicht, die Erklärung markierte den Beginn eines ausgewachsenen kolonialen Konflikts, eines hundertjährigen Angriffs auf das palästinensische Volk, der darauf abzielte, für andere eine exklusive ‚nationale Heimat‘ auf dessen Kosten zu schaffen.“(Khalidi)
Mit der Etablierung des Faschismus in Deutschland und in anderen europäischen Staaten und der damit einsetzenden Flucht jüdischer Bürger:innen nach Palästina (auch wegen diskriminierender Einwanderungsgesetze z.B. in den USA, Großbritannien, Schweiz) kommt es bis Ende der 30er Jahre zu einer qualitativen Veränderung in Palästina: Der jüdische Bevölkerungsanteil wuchs auf mehr als 30 % an und der jüdische Wirtschaftssektor überholte erstmals den arabischen.
Das Resumee des Autors: Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte das palästinensische Volk angesichts der mächtigen Triade aus britischem Empire, zionistischer Bewegung und dem Völkerbundmandat keine guten Karten; außerdem hatte es keine ernst zu nehmenden Verbündeten.
"Zionismus ist nicht nur Siedlerkolonialismus. Zionismus ist nicht nur Ergebnis der europäischen Verfolgung des jüdischen Volkes. Zionismus ist auch nicht nur Ausdruck einer jahrhundertelangen Sehnsucht nach Rückkehr ins Land Israel. Zionismus ist all das, in Kombination. Eine Bewegung, die sich von Anfang an bewusst und explizit als siedlerkoloniales Projekt verstanden hat. Das ist kein antisemitisches Hirngespinst eines bigotten Historikers, der versucht, eine puristische, nationale Bewegung mit biblischen Wurzeln zu verleumden. Die zionistische Bewegung verstand sich als koloniales Projekt: Das sagte Herzl, das sagte Jabotinsky, das sagte Ben-Gurion. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie Historiker dies bestreiten können."
Rashid Khalidi, Frankfurter Rundschau, 06.05.2024 [2]
Zweite Kriegserklärung: Resolution 181 der UN-Generalversammlung (1947)
Damit beginnt die Zweite Kriegserklärung: Die Resolution 181 der UN-Generalversammlung (29.11.1947) forderte die Teilung Palästinas in einen großen jüdischen Staat und einen kleineren arabischen Staat mit einem internationalen "Corpus Separatum“, das Jerusalem umfasste.
Die USA und die UdSSR, die beiden Siegermächte des 2. Weltkrieges, stimmten zu.
Die Folge der Resolution (die einen Verstoß gegen den in der UN-Charta verankerten Grundsatz der Selbstbestimmung darstellt) war die Nakba, die massenhafte Vertreibung von Palästinenser:innen. "Wie eine langsame, scheinbar unaufhaltsame Walze ging die Nakba über das Land, und verwandelte den größten Teil Palästinas von einem mehrheitlich arabisches Land in einen neuen Staat mit einer deutlichen jüdischen Mehrheit.“ Die Nakba zerriss Familien und Gemeinschaften und verteilte die Palästinenser:innen vor allem auf die angrenzenden Länder (Syrien, Libanon, Jordanien).
Erste Schutzmacht des Staates Israel war nun nicht mehr Großbritannien sondern die USA. Die anfänglichen Hoffnungen der UdSSR, dass sich Israel als ein fortschrittliches Gegengewicht in der Region gegenüber den mit Großbritannien verbandelten reaktionären arabischen Monarchien entwickeln könnte, zerstoben schnell. Neben den USA war vor allem auch die Bundesrepublik maßgeblicher Finanzier des jüdischen Staates.
Dritte Kriegserklärung: Juni-Krieg (1967) und UN-Resolution 242
Seit 1967 resultiert das besondere Bündnis der USA mit Israel, das sich in zukünftiger bedingungsloser politischer und militärischer Unterstützung manifestieren sollte.
Die dritte Kriegserklärung an die Palästinenser:innen war für Khalidi dann die in der Folge des Juni-Krieg von 1967 verabschiedete UN-Resolution 242 des Sicherheitsrates. "Wie schon 1947 wurde eine neue, für sie nachteilige internationale Rechtsformel verabschiedet. Die Resolution behandelt die gesamte Frage als eine Angelegenheit zwischen den arabischen Ländern und Israel, von der Präsenz der Palästinenser:innen ist nicht die Rede. Am Wichtigsten ist vielleicht, dass die Resolution 242 die Waffenstillstandslinien von 1949 als Israels De-facto-Grenzen legitimierte und damit indirekt die Eroberung des größten Teils Palästinas im Krieg von 1948 billigte.“
Seit 1967 resultiert das besondere Bündnis der USA mit Israel, das sich in zukünftiger bedingungsloser politischer und militärischer Unterstützung manifestieren sollte.
Parallel dazu formierte sich auch die palästinensischen Nationalbewegung neu. Unmittelbar nach dem Krieg von 1967 übernahmen die palästinensischen Widerstandsgruppen die Führung in der 1964 von der Arabischen Liga unter Federführung von Ägypten gegründeten PLO. Jassir Arafat wurde als Vorsitzender der Fatah, der größten dieser Gruppen, dessen Repräsentant und sollte es bis zu seinem Tod (2004) bleiben.
Vierte Kriegserklärung: Israelische Intervention im Libanon (1982)
Die vierte Kriegserklärung war die groß angelegte israelische Intervention im Libanon 1982, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der PLO war. Diese Invasion hatte in mehrfacher Sicht eine neue Qualität: Es war die erste direkte us-amerikanische Militärintervention im Nahen Osten (abgesehen von einem kurzen Libanon-Einsatz 1958) und gleichzeitig Israels erster Versuch eines gewaltsamen Regime-Change in der arabischen Welt.
Mit dem Krieg gelang es zwar, die PLO politisch und militärisch zu schwächen (das Hauptquartier und die militärischen Kämpfer mussten Beirut verlassen) – gleichzeitig hatte es aber zwei gegensätzliche Effekte: Zum einen führte es zum Aufstieg der Hisbollah im Libanon, die unter den Eindrücken der Massaker in Sabra und Schatila massenhaft Zulauf erhielten. Zum anderen wurde die palästinensische Nationalbewegung in Palästina selbst gestärkt – fünf Jahre später sollte die Erste Intifada ausbrechen.
Fünfte Kriegserklärung: Erste Intifada (1987) und Oslo-Prozess (1993)
Nach zwei Jahrzehnten einer relativ kontrollierten Besatzung löste die Erste Intifada 1987 – nach Khalidi die fünfte Kriegserklärung - eine Welle des Widerstands gegen Israels Landnahme und Militärherrschaft in Palästina aus. Neben Demonstrationen umfasste die Intifada unterschiedlichste Aktionen, die von Streiks, Boykotten und Steuerstreiks bis hin zu unterschiedlichsten Formen des zivilen Ungehorsams reichten. Sie führte letztlich zu den israelisch-palästinensischen Verhandlungen in Washington.
"Im Kern ging es immer um die Sicherheit Israels, seiner Besatzung und seiner Siedler, während die Kosten und die Verantwortung für die Unterwerfung der palästinensischen Bevölkerung nun an die Palästinenser übergingen.“
Khalidi fungierte dabei als einer der Berater der palästinensischen Delegation. Daran anknüpfend kam es dann 1993 in Oslo zur Einigung Israels mit der PLO.
Das Ergebnis bewertet der Autor aus palästinensischer Sicht sehr kritisch. Die israelische Besatzung und der Siedlungsbau wurden dadurch nicht beendet. Das weitreichendste Ergebnis war, dass "die PLO als Subunternehmer für die Besatzung“ eingesetzt wurde. "Im Kern ging es immer um die Sicherheit Israels, seiner Besatzung und seiner Siedler, während die Kosten und die Verantwortung für die Unterwerfung der palästinensischen Bevölkerung nun an die Palästinenser übergingen.“
Sechste Kriegserklärung: Zweite Intifada (ab 2000)
Die Enttäuschungen über die Ergebnisse des "Oslo-Prozesses“, die schwindende Aussicht auf einen eigenen Staat und die heftige Rivalität zwischen der PLO und der Hamas bildeten den Zündstoff für die Zweite Intifada ab 2000 – die sechste Kriegserklärung.
Die Hamas war während der ersten Intifada gegründet worden. Sie warb für sich als militante islamische Alternative zur PLO und lehnte den Verzicht auf den bewaffneten Kampf und die Hinwendung zur Diplomatie ab und bekräftigte den Anspruch auf ganz Palästina – nicht nur auf die 1967 von Israel besetzten Gebiete.
Im Gegensatz zur Ersten Intifada war die Zweite nach Einschätzung von Khalidi ein Rückschlag für die palästinensische Nationalbewegung und führte dazu, dass die Palästinenser:innen in der Folge nicht nur eine sondern zwei machtlose Behörden unter der Besatzung hatten.
Die Hamas gründete im Gazastreifen ihre eigene Autonomiebehörde, während der Zuständigkeitsbereich der in Ramallah sitzenden Autonomiebehörde auf weniger als 20% des Westjordanlandes schrumpfte.
Khalidi zur Perspektive in Israel-Palästina
In seinem "Ausblick“ des Ende 2019 abgeschlossenen Manuskripts schreibt Khalidi: "Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass Israel versuchen könnte, die Vertreibungen von 1948 und 1967 zu wiederholen und sich eines Teils oder aller Palästinenser zu entledigen.“
Fünf Jahre später scheint diese Möglichkeit näher gerückt zu sein. Wir erleben gegenwärtig die siebente Kriegserklärung.
In seiner Nachbemerkung zur deutschen Ausgabe (März 2024) seines Buches schreibt Rashid Khalidi: "Das Leid, dass die palästinensische wie israelische Zivilbevölkerung seit dem 7. Oktober 2023 erlitten hat, ist gemessen an den zivilen Opfern die tödlichste aller Phasen dieses langen Krieges seit 1948. Angesichts der militärischen und menschlichen Auswirkungen auf Israel, und trotz des schrecklichen Blutzolls, den die Zivilbevölkerung von Gaza entrichten muss, wird das Konzept der Hamas vom bewaffneten Kampf wohl kaum verschwinden, solange sich kein politischer Horizont für eine echte Selbstbestimmung für die Palästinenser auftut.“
"Unter den Palästinensern muss es eine grundlegende Reorganisation der palästinensischen Nationalbewegung geben. Und einen einheitlichen Konsens.
Und in einem Interview im Mai 2024 äußert sich Rashid Khalidi zur Perspektive in Israel-Palästina folgendermaßen: "Unter den Palästinensern muss es eine grundlegende Reorganisation der palästinensischen Nationalbewegung geben. Und einen einheitlichen Konsens. Dies ist ein palästinensisches Problem. Israel muss seine Besessenheit von Gewalt im Umgang mit Palästinensern überwinden. Und die Vorstellung, dass es in Israel nur ein Volk mit einem Recht auf Selbstbestimmung gibt. Das 2018 von der Knesset verabschiedete Gesetz mit Verfassungsrang ‚Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes‘ besagt, dass es nur ein Volk in diesem Land gibt, das ein Recht auf nationale Selbstbestimmung hat: das jüdische Volk. Wenn man sich damit nicht auseinandersetzt, wird es nie eine Lösung geben, nur mehr Krieg und mehr Widerstand. Schließlich muss auch der Westen etwas ändern. Die amerikanische, sowjetische, später französische, britische und deutsche Unterstützung für Israel war für die Unterdrückung des palästinensischen Volkes unerlässlich. Ohne diese Unterstützung könnte nichts von dem, was wir heute sehen, geschehen.
Wenn dieser Konflikt gelöst werden soll, muss er zwischen den Machthabern auf beiden Seiten gelöst werden. Ich kann nicht einfach sagen, dass ich mich nicht mit der jetzigen israelischen Regierung zusammensetze, weil dieser General oder jener Minister Blut an den Händen hat. Dies ist die gewählte Regierung Israels. So auch umgekehrt: Wen immer die Palästinenser am Ende als ihren Vertreter bestimmen, und das hoffentlich auf demokratische Weise, sind diejenigen, mit denen Israel und die Welt zu tun haben werden.”[2]
Nachbemerkung
Zurück zum Buch. Khalidi hat kein trockenes wissenschaftliches Werk verfasst, sondern liefert eine "erzählte Geschichte“, wie der Autor im Vorwort schreibt: "Ich erzähle diese Geschichte zum Teil, vermittelt durch die Erfahrungen von Palästinensern, die diesen Krieg miterlebt haben. Viele von ihnen sind Mitglieder meiner Familie. Auch meine eigenen Erinnerungen und Erlebnisse habe ich mit einbezogen. Hinzu kommen Dokumente aus dem Besitz meiner eigenen und anderer Familien, sowie eine Vielzahl von Erlebnisberichten aus erster Hand. Ich glaube, dass diese Erzählweise dazu beiträgt, die Geschichte Palästinas aus neuer Perspektive zu beleuchten, in einer Weise, die bislang noch fehlt.“
Besonders eindrucksvoll gelingt ihm diese Verbindung von Fakten und Erleben im vierten Kapitel (Libanon-Krieg), wo er und seine Familie unmittelbar Beteiligte waren.
Das Buch hat mich an ein vor vierzig Jahren veröffentlichtes Buch erinnert, in dem Hans Lebrecht, ein jüdischer deutscher Kommunist über seine Erfahrungen in Palästina/Israel in den 30er und 40er Jahren berichtet: "Ich kam Ende September 1938, nachdem ich den nach mir fahndenden Nazi-Gestapohäschern durchs Netz schlüpfte, als 'Tourist' nach Palästina. Es ging mir wie vielen anderen: Ich wußte zwar, dass dort 'Unruhen' herrschten, mir war aber nicht im geringsten bewußt, was es damit für eine Bewandtnis hatte.“
Neben seinen persönlichen Erfahrungen bietet sein Buch eine nach wie vor lesenswerte Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Palästinenserfrage vom 19. Jahrhundert bis 1982.[3]
txt: Günther Stamer
Daniel Marwecki: "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“
Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 212 Seiten, 22 Euro
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina
Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand
Unionsverlag Zürich 2024, 384 Seiten, 26 Euro
Anmerkungen
[1] Deutsche Israelpolitik: "Von Moral kann kaum die Rede sein“, ND 6.4.24
[2] Frankfurter Rundschau 6.5.24 Historiker Rashid Khalidi über Israels Gaza-Krieg: "Was Vertreibung und Tötung angeht, gab es noch nie etwas in diesem Ausmaß“ (fr.de)
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/historiker-rashid-khalidi-ueber-israels-gaza-krieg-was-vertreibung-und-toetung-angeht-gab-es-noch-nie-etwas-in-diesem-ausmass-93054065.html
[3] Hans Lebrecht, Die Palästinenser. Geschichte und Gegenwart, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/Main 1982