20.03.2024: Wie irre ist das denn. Hunderte von LKW mit Lebensmittel und medizinischen Hilfsmitteln stauen sich an der Grenze zu Gaza, doch anstatt die Straße zu öffnen werfen die USA und einige andere Länder Hilfsgüter aus der Luft ab. Die USA haben sogar mit dem Bau eines Hafens für die Versorgung über das Meer begonnen.
Ein Kommentar von Leo Mayer
Luft- und Satellitenaufnahmen zeigen, dass mehr als 2.000 Hilfsgütertransporter am Grenzübergang Rafah auf die Überfahrt warten. Doch Israel lässt nur ein Rinnsal an Lebensmittel und Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangen. Was durchkommt, genügt nicht ansatzweise für zwei Millionen Menschen ohne Wasser und Strom, ohne Essen und Trinken, ohne Medikamente und Sicherheit in Trümmerbergen voller Leichen oder Zeltlagern, wo das Recht des Stärkeren herrscht. Massenaufläufe traumatisierter und verzweifelter Menschen, sobald ein Transport am Horizont auftaucht, sind wenig verwunderlich. Und dann eröffnet Israels Armee auf solche Menschen auch noch das Feuer.
"Es zerreißt einem das Herz, diese Trucks zu sehen", sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei ihrem Ägyptenbesuch am Grenzübergang Rafah zum Gaza-Streifen. Sie sei "äußerst besorgt über die verzweifelte Lage der Menschen". Das Leben in Gaza sei "die Hölle".
UNICEF-Sprecher James Elder ist frustriert darüber, dass so viele Hilfslastwagen, die auf der ägyptischen Seite der Grenze zu Gaza vollgepackt sind, den hungernden Palästinensern, die sie dringend brauchen, von Israel die Einfahrt verwehrt wird. "Der effektivste Weg, der einzige Weg auf dem wir das Leben von vielen Kindern retten, die so verzweifelt bedürftig sind, ist diese Straße", empört sich Elders.
Die Hilfsorganisation Oxfam schreibt in ihrem neuen Bericht, dass die israelischen Besatzungsbehörden ein Lagerhaus voller internationaler Hilfsgüter wie Sauerstoff, Brutkästen, Wasser und Sanitärausrüstung nicht durchgelassen haben, die nun im ägyptischen Al Arish, nur 40 km von der Grenze zu 2,3 Millionen verzweifelten Palästinensern im Gazastreifen entfernt, gelagert werden.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell klagt Israel an, "Hunger als Kriegswaffe" einzusetzen, indem es die Einfuhr lebensrettender Hilfsgüter an den Landübergängen der Enklave verhindert. (12.3.2024)
Am Montag (18.3.2024) empörte er sich, dass sich "auf der ägyptischen Seite Essen für Monate angesammelt hat, während auf der anderen Seite der Grenze die Menschen vor Hunger sterben." Dies erfordert "Reaktionen, nicht nur Besorgnis zu äußern, sondern Entscheidungen zu treffen", sagte Borrell. (https://twitter.com/AJEnglish/status/1769763910339416408)
Doch welche "Entscheidungen" werden getroffen?
Anstatt Druck auf die ultrarechte, rassistische Regierung Netanjahus zu machen, damit Israel die Grenzübergänge öffnet und die Blockade beendet, haben die USA und einige arabische Länder mit dem Abwurf von Hilfsgütern aus Flugzeugen begonnen. Begleitet von einem großen Medienrummel. Dabei sind die Flüge teurer als die transportierten Güter und lösen das Hungerproblem nicht einmal ansatzweise. "Eine dürftige, symbolische Hilfslieferung ohne einen Plan für ihre sichere Verteilung hilft uns nicht, sondern erniedrigt uns zutiefst" heißt es von Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen.
An der Küste des Gazastreifens haben die USA mit dem Bau eines Piers für die Anlandung von Hilfsgütern auf dem Seeweg begonnen. 1.000 US-Soldaten sollen dabei zum Einsatz kommen. In zwei Monaten soll der Hafen fertig werden. Wie viel palästinensische Kinder bis dahin verhungert sind, weiß niemand. Wie auch niemand weiß, wie die Hilfsmittel dann verteilt werden sollen, denn die einzige Organisation, die das bewerkstelligen könnte, das UN-Hilfswerk für Palästina UNRWA, wird auf Wunsch Israels boykottiert und zur Seite geschoben.
Die UNRWA ist für die israelische Armee sogar ein bevorzugtes Ziel: 157 Einrichtungen wurden bombardiert und 152 Mitarbeiter getötet. Vierhundert Palästinenser wurden außerdem bei der Suche nach Lebensmitteln oder in der Nähe von Hilfslieferwagen getötet. UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini ist ratlos: "Jeden Tag teilen wir den Konfliktparteien die Koordinaten aller unserer Einrichtungen in Gaza mit. Die israelische Armee empfängt sie". Und benutzt die Daten für die Zielprogrammierung, könnte man hinzufügen.
25 Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty, Oxfam und Ärzte ohne Grenzen, kritisieren: "Die Staaten können sich nicht hinter der Hilfe aus der Luft oder der Öffnung eines Seekorridors verstecken, um die Illusion zu erwecken, dass sie genug für den Gazastreifen tun."
Die Appelle stoßen wie auch die Videoaufnahmen von hungernden und zerfetzten Zivilisten auf taube Ohren und blinde Augen. Israel hält in seinem Vernichtungskrieg gegen die "menschlichen Tiere" (Kriegsminister Yoav Gallant) die systematische Blockade humanitärer Hilfe trotz gegenteiliger Beteuerungen aufrecht. Hunger wird als Kriegswaffe eingesetzt.
Auch die deutsche Regierung hat sich der Schar von Fallschirmspringern angeschlossen, und zwar in denselben Stunden, in denen fliegende Pakete auf das Baptistenkrankenhaus von Gaza stürzten und die Solarpaneele zerstörten, die angesichts des Treibstoffmangels für die Generatoren und der israelischen Stromblockade für den Betrieb der Krankenstationen unerlässlich sind.
Die Hilfsgüterabwürfe endeten sogar tödlich, als sich die Fallschirme nicht öffneten und die Kisten in Richtung Gaza stürzten, wobei fünf Palästinenser getötet wurden, die die Lieferung der dringend benötigten Hilfsgüter sehnsüchtig erwartet hatten. Ein Palästinenser aus dem nördlichen Gazastreifen schreibt: "Da wir durch abgeworfenen Hilfsgüter getötet werden, haben wir nun alle Formen des Todes erlebt."
"Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Da kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keine Zweifel." Dies sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu Beginn des EU-Gipfels am 26. Oktober 2023.
Vielleicht sind ihm inzwischen Zweifel an der "moralischsten Armee der Welt" gekommen, angesichts der israelischen Gräueltaten, die inzwischen fast 32.000 Menschen getötet haben, 70 Prozent davon Frauen und Kinder, über 73.000 Verwundeten, ungefähr 8.000 unter Trümmern vermissten Menschen, einer durch Flächenbombardement unbewohnbar gemachten Mondlandschaft und der Aushungerung der palästinensischen Bevölkerung. Dass Netanjahu nicht viel von den "sehr humanitären Prinzipien" hält, dämmert möglicherweise inzwischen sogar Scholz und Baerbock, angesichts dessen, dass Netanjahu und sein rechtsextremes Kabinett die vom Internationalen Gerichtshof verhängten "vorsorglichen Maßnahmen" zur Vermeidung eines Völkermordes ebenso ignoriert wie die Forderungen Washingtons, mehr Lebensmittel, Wasser und Medikamente in die eingeschlossene Enklave zu lassen und die Intensität der Militäraktion zu verringern.
Denn sonst wäre nicht nachvollziehbar, wieso sich Deutschland an der Luftbrücke und am Bau des Hafens beteiligt, mit denen die israelische Hungerblockade umgangen werden soll.
Möglicherweise wirkt auch, dass Nicaragua Deutschland auf die Anklagebank des Internationalen Gerichtshofes gebracht hat. Am 8. und 9. April wird die Anhörung in Den Haag stattfinden, bei der sich Deutschland gegen den Vorwurf der Beihilfe zum Völkermord verteidigen muss. Da hofft die Bundesregierung dann wohl, mit den Lebensmittelabwürfen für die hungernde Bevölkerung in Gaza punkten zu können.
Dabei gäbe es eine ganz einfache und wirkungsvolle Methode, den israelischen Vernichtungskrieg und das Leiden der palästinensischen Bevölkerung in Gaza zu stoppen.
Israels Vernichtungskrieg im Gazastreifen verschlingt Unmengen an Munition. Doch der Nachschub rollt. Oder besser gesagt, wird mit Transportmaschinen eingeflogen. So berichtete ein israelischer Fernsehsender bereits Ende Dezember, dass seit dem 7. Oktober 244 amerikanische Transportflugzeuge mehr als 10.000 Tonnen an militärischer Ausrüstung an Israel geliefert haben. Bis heute liefern die USA große Mengen von präzisionsgelenkter Munition, Bomben mit kleinem Durchmesser, große Bunkersprenger, Panzermunition, 155-mm-Granaten für die Artillerie, Kleinwaffen und andere tödliche Rüstungsgüter. Trotz der schwelenden Spannungen zwischen der Biden-Regierung und der Regierung von Netanjahu haben die USA diese Woche eine neue Lieferung von präzisionsgelenkter Munition im Wert von mehr als 1 Milliarde Dollar und den Verkauf von F-35-Kampfbomber im Wert von 2,5 Milliarden Dollar angekündigt.
Deutschland hat im vergangenen Jahr die Rüstungsexporte nach Israel verzehnfacht - der Großteil wurde nach Beginn des israelischen Vernichtungskrieges in Gaza bewilligt. MTU liefert die Dieselmotoren für die israelischen Merkava-Panzer, die in Gaza Wohn- und Krankenhäuser, Einrichtungen der UN und Schulen dem Boden gleichmachen. Verteidigungsminister Pistorius (SPD) hat die Lieferung von 155-mm-Granaten angeboten. Ob geliefert wird, ist Geheimsache. (kommunisten.de, 12.12.2023: "Gemetzel in Gaza mit deutscher Unterstützung. Rüstungsexporte aus Deutschland nach Israel fast verzehnfach")
Der Vernichtungskrieg Israels wäre ohne dieses Unterstützung nicht möglich. Es gäbe keine Hungertoten und keinen Völkermord in Gaza, wenn die USA und Deutschland Israel in den Arm fallen, die Waffenlieferungen stoppen, Verträge wie z.B. das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel aufkündigen, Sanktionen verhängen (wird ja auch gegen Russland wegen dessen Krieg gegen die Ukraine gemacht) und so die Öffnung der Grenzen erzwingen würden.
Aber sie bieten humanitäre Hilfe für eine Bevölkerung an, die sie selbst mitverwüstet haben. Und lassen Israel weiter morden – mit den von ihnen gelieferten Waffen.
Im Sicherheitsrat blockieren die USA jede Resolution für einen Waffenstillstand in Gaza; Deutschland enthält sich in der UN-Vollversammlung und stellt sich so an die Seite der zehn Schurkenstaaten, die einen Waffenstillstand ablehnen. (Zehn Schurkenstaaten für weiteres Morden. Deutschland enthält sicht), was weder Biden noch Baerbock davon abhält, ihre "große Besorgnis" über die humanitäre Situation in Gaza zu äußern und scheinheilig eine Waffenruhe zu fordern.
Die USA, die EU und einige Mitgliedsländer wie Deutschland sind so besorgt über die humanitäre Katastrophe und den Hunger in Gaza, dass sie die Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina streichen und noch mehr Waffen an Israel liefern. Sie sind "besorgt" über das Leiden der Palästinenser:innen in Gaza, halten aber an ihrer "bedingungslosen Solidarität" mit Israel fest. Ungeachtet, dass der Internationale Gerichtshof die Absicht des Völkermordes an der palästinensischen Bevölkerung für "plausibel" hält und Israel gegen eine der wichtigsten Forderungen des Internationalen Gerichtshofs verstößt, nämlich die humanitäre Hilfe angesichts der Gefahr eines Völkermords in Gaza zu verstärken.
Die Heuchelei und die Doppelmoral sind atemberaubend.
Leo Mayer ist verantwortlicher Redakteur von kommunisten.de und Vorstandsmitglied der marxistischen linken