Analysen

11.04.2024: Achtzig Jahre nach dem Holocaust sitzt Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord auf der Anklagebank ++ Zusammenfassung der Vorträge Nicaraguas und Deutschlands vor dem Internationalen Gerichtshof am 8. und 9. April 2024

 

 

Achtzig Jahre nach dem Holocaust sitzt Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord auf der Anklagebank. Angeklagt von Nicaragua. Zwei Länder, die nicht direkt in den Krieg in Gaza verwickelt sind, sitzen hier vor dem höchsten Gericht. Beide Länder haben die Völkermordkonvention von 1948 unterzeichnet, und deshalb argumentiert Nicaragua, dass Deutschland eine eigene Verpflichtung hat, diese Konvention zu erfüllen und keinen Völkermord zu unterstützen.

In einer 43-seitigen Eingabe an den Internationalen Gerichtshof IGH (engl. International Court of Justice ICJ) argumentiert Nicaragua, dass Deutschland mit seiner militärischen und politischen Unterstützung für Israel "die Begehung von Völkermord" an den Palästinenser im Gazastreifen unterstützt und damit gegen die UN-Völkermordkonvention verstoßen habe. [1]

"Durch die Lieferung von militärischer Ausrüstung und die Streichung der Mittel für das UNRWA [UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge] ... erleichtert Deutschland die Begehung von Völkermord", heißt es in dem Antrag. Und weiter: "Das Versagen Deutschlands ist in Bezug auf Israel umso verwerflicher, als Deutschland eine selbsternannte privilegierte Beziehung zu diesem Land unterhält, die es ihm ermöglichen würde, sein Verhalten sinnvoll zu beeinflussen."

Deutschland wird vorgeworfen, Israel kontinuierlich mit Waffen zu beliefern, selbst nachdem der IGH entschieden hat, dass es "plausibel" ist, dass Israel an der Gruppe der Palästinenser Völkermord begehe und zur Vermeidung eines Völkermordes vorsorgliche Maßnahmen gegen Israel verhängt hat.

Ausführlich und chronologisch listet die Anklageschrift das Verhalten Deutschlands gegenüber Israel seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 auf. Dabei wird deutlich, dass Deutschland die zahlreichen Berichte der UN, Debatten im Sicherheitsrat, die Vorträge zahlreicher Experten von UN, IKRK und internationalen Hilfsorganisationen über Art und Auswirkungen des israelischen Krieges gegen Gaza ignoriert und weitere Lieferungen von Waffen, Munition und Ausrüstung an Israel zugesagt hat.

Nicaragua fordert das Gericht auf, fünf vorläufige Maßnahmen zu erlassen, über die das Gericht in einem Eilverfahren entscheiden soll.

  1. Erstens soll Deutschland insbesondere seine Militärhilfe, einschließlich militärischer Ausrüstung aussetzen.
  2. Zweitens soll Deutschland unverzüglich sicherstellen, "dass die bereits an Israel gelieferten Waffen nicht zur Begehung von Völkermord verwendet werden, nicht zu Völkermord beitragen oder in einer Weise eingesetzt werden (…), die gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt."
  3. Drittens soll Deutschland "unverzüglich alles tun, um seinen Verpflichtungen aus dem humanitären internationalen Recht nachzukommen."
  4. Viertens soll Deutschland seine Entscheidung, die Finanzierung des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) auszusetzen, zurücknehmen und sicherstellen, "dass die humanitäre Hilfe das palästinensische Volk erreicht, insbesondere in Gaza".
  5. Fünftens soll Deutschland die Lieferung von militärischer Ausrüstung an Israel einstellen, damit diese nicht weiter zur "Begehung schwerer Verbrechen gegen das Völkerrecht verwendet werden können".

Die Umsetzung dieser Maßnahmen sei angesichts der sich rapide verschlechternden humanitären Lage im Gazastreifen "immer dringlicher und notwendiger"

Das von Nicaragua angestrengte Verfahren sollte eigentlich auch Kanada, Großbritannien und die Niederlande betreffen. Da Kanada und Großbritannien den IGH nicht anerkennen und die Niederlande einen Dialog mit Nicaragua aufgenommen haben, blieb nur Deutschland übrig.

 

Pistorius Gallant  

siehe auch

 

Berlin nach Den Haag wegen Mittäterschaft.  

 

Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant Israels. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr Rüstungsexporte im Wert von 326,5 Millionen Euro an Israel genehmigt - zehnmal so viel wie im Vorjahr. Darunter waren direkte Kriegswaffen wie tragbare Panzerabwehrwaffen, Munition, Zünder und Treibladungen im Wert von 20,1 Millionen Euro. Neben Kriegswaffen wurden auch sonstige Rüstungsgüter wie gepanzerte Fahrzeuge, militärische Lastwagen oder Motoren für die israelischen Merkava-Panzer geliefert.

Das Internationale Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) teilte Anfang des Jahres mit, dass in der Zeit von 2019 bis 2023 30 Prozent der von Israel importierten Waffen aus Deutschland kamen. Die USA lieferten im gleichen Zeitraum 69 Prozent der von Israel importierten Rüstungsgüter. USA und Deutschland zusammen liefern demnach 99 Prozent aller Waffen, die Israel einsetzt.

Deutschland hat wie eine Reihe anderer Länder die Gelder für das UN-Hilfswerk für Palästina UNRWA eingefroren, nachdem Israel den Vorwurf erhob, dass UNRWA-Mitarbeiter die Hamas beim Angriff am 7. Oktober unterstützt haben sollen. Deutschland ist mit 202 Millionen US-Dollar im Jahr 2022 nach den USA weltweit der zweitgrößte Geber des UNRWA. Nachdem Israel seine Vorwürfe nicht stichhaltig beweisen konnte, haben die meisten Länder die Finanzierung wieder aufgenommen. Im Unterschied zu Kanada, Schweden, Australien, Dänemark, Finnland, … hält die deutsche Regierung die Gelder immer noch zurück. Zwar hat das Außenministerium am 25. März erklärt, 45 Millionen Euro für die Arbeit des UNRWA bereit zu stellen, allerdings nur für dessen Arbeit "außerhalb des Gazastreifens".

"Von großer Bedeutung für alle Staaten, die Waffen herstellen und Staaten und andere Parteien mit Waffen beliefern."

Die Klage Nicaraguas ruft nicht nur wegen des sich in aller Öffentlichkeit vollziehenden Völkermordes in Gaza großes Interesse hervor, sondern auch, weil ihre Bedeutung über den konkreten Fall hinausgeht. So äußerte der irische Menschenrechtsanwalt und Juraprofessor an der Universität Galway, Raymond Murphy, gegenüber Al Jazeera:
"Im Kern dieses Falles geht es um zwei rechtliche Fragen - was bedeutet die Verpflichtung, das Verbrechen des Völkermordes zu verhindern und zu bestrafen, und was genau sind die Verpflichtungen, die sich aus den Genfer Konventionen und dem Gemeinsamen Artikel 1 ergeben, der alle Staaten dazu verpflichtet, das humanitäre Völkerrecht zu achten und dessen Einhaltung zu gewährleisten.
Der Fall ist nicht nur für den Gazastreifen von großer Bedeutung, sondern auch für alle Staaten, die Waffen herstellen und Staaten und andere Parteien mit Waffen beliefern, die letztendlich für Verstöße gegen das Völkerrecht, das humanitäre Recht, die Konvention gegen Völkermord und eine ganze Reihe anderer internationaler Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten und anderen gefährdeten Gruppen verwendet werden."

Am Montag und Dienstag (8. und 9. April) fand in Den Haag die Anhörung der beiden Parteien statt.

Nicaragua beschuldigt Deutschland der Beihilfe zum Völkermord im Gazastreifen

Am Montag erläuterte die nicaraguanische Delegation ihre Klage gegen Deutschland.

ICJ Nica Germany Delegation NicaVertretung Nicaraguas

 

"Deutschland scheint nicht in der Lage zu sein, zwischen Selbstverteidigung und Völkermord zu unterscheiden"

In seiner Eröffnungsrede sagte Carlos Jose Francisco Arguello Gomez, nicaraguanischer Botschafter in den Niederlanden und Leiter der nicaraguanischen Delegation, dass "schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, einschließlich Völkermord, in Palästina stattfinden" und "offen begangen werden".

"In dem uns vorliegenden Fall geht es um schwerwiegende Ereignisse, die das Leben und Wohlergehen von Hunderttausenden von Menschen und sogar die Vernichtung eines ganzen Volkes betreffen". In einer solchen Situation müsse es vermieden werden, dass andere Staaten Schritte unternähmen, "um den Täter zu unterstützen", sagte er. "Deutschland hat gegen diese Verpflichtung, die allen Staaten auferlegt ist, verstoßen", sagte Gomez.

ICJ Nica Germany Carlos Gomez Nica


Nicaragua erklärte in seiner Stellungnahme, es sei "nachvollziehbar", dass Deutschland eine "angemessene Reaktion" des Verbündeten Israel auf die Hamas-Angriffe im Oktober unterstütze.

Gómez nannte es zwar "verständlich", dass die Bundesregierung wegen der Verbrechen des Holocaust eine besondere Verantwortung gegenüber Israel wahrnehme. Aber dabei dürfe Berlin nicht das jüdische Volk mit der israelischen Regierung verwechseln.

Von Beginn des Krieges an habe Deutschland seine unerschütterliche Unterstützung Israels mit dem Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt. So sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im Parlament: "Die Sicherheit Israels ist Teil der deutschen Staatsraison".

"Erstaunlicherweise scheint Deutschland nicht in der Lage zu sein, zwischen Selbstverteidigung und Völkermord zu unterscheiden", sagte Gomez.

Dabei stehe es "außer Frage, dass Deutschland sich zumindest des ernsthaften Risikos eines Völkermordes bewusst war", setzte er hinzu.

Als die Zahl der zivilen Todesopfer im Gazastreifen immer weiter anstieg, sagte Scholz am 26. Oktober, er habe "keinen Zweifel" daran, dass "die israelische Armee bei allem, was sie tut, auch die Regeln des Völkerrechts respektieren wird" - eine Aussage, die in direktem Widerspruch zu der des UN-Generalsekretärs steht, der zwei Tage zuvor gesagt hatte, dass "nichts die kollektive Bestrafung der Palästinenser rechtfertigen kann".

Nach der Entscheidung des IGH vom 26. Januar "wurde der Alarm ausgelöst und die Zeichen für Völkermord blinkten rot". "Dies verpflichte die Staaten, zu handeln, um Völkermord zu verhindern", so Gomez. Trotz dieser Klarheit "leistet Deutschland bis heute militärische Unterstützung für Israel", sagte er.

Deutschland habe seine Unterstützung für die UNRWA "auf Geheiß Israels" eingestellt, aber wiederholt Warnungen "der wichtigsten Institutionen der Welt vor Völkermord und anderen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht durch Israel in Palästina" ignoriert.

"Es spielt keine Rolle, ob eine Artilleriegranate aus Deutschland direkt an einen israelischen Panzer geliefert wird, der ein Krankenhaus oder eine Universität beschießt, oder ob diese Artilleriegranate dazu dient, Israels Vorräte für einen späteren Einsatz aufzufüllen"

"Deutschland muss sich darüber im Klaren sein, dass die Munition, die militärische Ausrüstung und die Kriegswaffen, die es an Israel liefert, dessen Menschenrechtsverletzungen in Gaza erleichtern", sagte Gomez. "Es spielt keine Rolle, ob eine Artilleriegranate aus Deutschland direkt an einen israelischen Panzer geliefert wird, der ein Krankenhaus oder eine Universität beschießt, oder ob diese Artilleriegranate dazu dient, Israels Vorräte für einen späteren Einsatz aufzufüllen", fügte er hinzu.

"Deutsche Rüstungsunternehmen profitieren direkt von dieser Situation" und haben nach dem 7. Oktober noch mehr Waffen geliefert als zuvor, warf er der deutschen Regierung vor.

"Wenn Israel weiterhin so hemmungslos agiert wie seit seiner Staatsgründung und dabei von Staaten wie Deutschland bedenkenlos unterstützt wird, dann wird sich in Zukunft eine neue Generation von Palästinensern erheben", warnte der nicaraguanische Botschafter. Das Verfahren vor dem IGH sei "eine Chance, diesen Zyklus zu unterbrechen".

"erbärmlich ... einerseits humanitäre Hilfe zu leisten und andererseits die militärische Ausrüstung zu liefern, um sie zu töten".

Nach dem Delegationsleiter ergriff der Rechtsexperte der nicaraguanischen Delegation, der deutsche Anwalt Daniel Müller, das Wort.

ICJ Nica Germany Daniel Mueller

 

"Meine Aufgabe heute Morgen ist es, einige der Fakten darzulegen, die dem Streit zwischen Nicaragua und der Bundesrepublik [Deutschland] zugrunde liegen, der vor den Gerichtshof gebracht wurde", eröffnete Müller seinen Vortrag. Er werde sich auf die Fragen konzentrieren, die für Nicaraguas Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen relevant sind, nämlich dass Deutschland seine Militärhilfe für Israel sofort einstellen und seine Entscheidung, die Finanzierung des UNRWA einzustellen, rückgängig machen soll.

Er sagte, Deutschland habe die Unterstützung Israels mit Hilfe und Waffen auch nach dem Urteil des IGH nicht eingestellt, das als Reaktion auf die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel erging, in der Israel aufgefordert wurde, einen Völkermord zu verhindern und die erforderliche humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu leisten.

"Deutschland ist verantwortlich für die Verletzung des Völkerrechts und seiner internationalen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Situation in Gaza", so Müller weiter. Er verwies auf eine Erklärung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock vom 24. März, in der sie die Lage in Gaza als "Hölle" bezeichnete und in der es hieß, dass die Hilfslieferungen wieder aufgenommen werden müssten.

Dem entgegen gefährde die Aussetzung der UNRWA-Finanzierung durch Deutschland ein "lebenswichtiges" Mittel zur Unterstützung des palästinensischen Volkes. "Das UNRWA ist der wichtigste Partner für die Hilfe für die Menschen im Gazastreifen."

"Es steht außer Frage, dass Deutschland die Bedeutung des UNRWA für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen und in den anderen besetzten palästinensischen Gebieten voll und ganz zu schätzen weiß", sagte Müller.

"Um es einfach auszudrücken: Die höchsten deutschen Beamten haben erkannt, dass die Situation in Gaza Zweifel an der Einhaltung elementarer Regeln des internationalen Rechts aufkommen lässt und dass diese Fragen angegangen werden müssen", sagte Müller.

"Doch während wir hier sprechen, geht der Export deutscher Waffen und militärischer Ausrüstung nach Israel weiter, die für diese schweren Verstöße gegen das Völkerrecht verwendet werden könnten", fügte er hinzu.

Daniel Müller nannte es "eine erbärmliche Entschuldigung gegenüber den palästinensischen Kindern, Frauen und Männern, einerseits humanitäre Hilfe zu leisten, einschließlich durch Luftabwürfe, und andererseits die militärische Ausrüstung zu liefern, die verwendet wird, um sie zu töten und zu vernichten...".

"Deutsche Hilfe und Unterstützung für Israel entspricht genau der Definition von 'Mittäterschaft' in Artikel 3 der UN-Völkermordkonvention"

Alain Pellet, französischer Jurist und international anerkannter Experte für den Bereich des Völkerrechts, legte in seinem Vortrag dar, wie das Verhalten Deutschlands in Bezug auf die aktuelle Situation in Palästina" seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht gerecht wird".

Deutschland, so Pellet, sei "nur durch seine eigenen Verstöße gegen seine eigenen internationalen Verpflichtungen im Zusammenhang mit dieser schrecklichen Situation" in Gaza verantwortlich.

Deutschland sei "durch seine eigenen Verstöße gegen seine eigenen internationalen Verpflichtungen" dafür verantwortlich, dass es damit die "schweren Verletzungen allgemeiner internationaler Rechtsnormen gegen das palästinensische Volk nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in den besetzten Gebieten und in Israel selbst ermöglicht oder begünstigt" habe. "Dies rechtfertigt sowohl den an Deutschland gerichteten Antrag Nicaraguas als auch das Ersuchen um vorläufige Maßnahmen", sagte Pellet.

Der Fall gegen Deutschland lasse sich in zwei große Bereiche unterteilen:

• Deutschlands Verantwortung für sein Versäumnis, die vom Völkerrecht geforderten Maßnahmen zur Verhinderung von Völkermord und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zu ergreifen.
• Die Verantwortung Deutschlands für seine Handlungen oder Unterlassungen, die die Begehung von Völkermord und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht erleichtert haben und weiterhin erleichtern.

Im Vorgriff auf die Verteidigung Deutschlands, dass es selbst keinen Völkermord begehe und nicht direkt in den Gaza-Krieg verwickelt sei, äußerte Pellet, dies sei eine "Pontius-Pilatus-ähnliche" Argumentation, die nicht auf die vor dem Gericht vorgebrachten Argumente eingehe.

Er wiederholte, dass Nicaragua Deutschland nicht beschuldigt, Völkermord zu begehen, sondern vielmehr seine eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Verhinderung von Völkermord und schweren Verletzungen des internationalen und humanitären Rechts nicht einzuhalten. "Im Gegenteil, Deutschland macht weiter wie bisher", sagte Pellet.

Pellet verwies auf Artikel 3 der UN-Völkermordkonvention, in dem die "Beihilfe zum Völkermord" als strafbare Handlung aufgeführt ist. "Deutschland war und ist sich des Risikos bewusst, dass die von ihm gelieferten Waffen von Israel verwendet werden könnten, um einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen", sagte Pellet und fügte an: "Es ist äußerst dringend, dass Deutschland seine Hilfe für Israel zu diesem Zweck aussetzt. Diese Hilfe und Unterstützung entspricht genau der Definition von 'Mittäterschaft' in Artikel 3."

Video der Anhörung der Rechtsvertretung Nicaraguas am 8. April 2024: https://webtv.un.org/en/asset/k1q/k1qoqif0lq

Deutschland weist Anschuldigungen zurück

Am Dienstag, 9. April, verteidigte sich Deutschland gegen den Vorwurf, mit seiner bedingungslosen Unterstützung des israelischen Angriffs auf die palästinensische Enklave einen Völkermord im Gazastreifen "zu ermöglichen". Die Rechtsvertretung Deutschlands erklärten, dass die von Nicaragua angestrengte Klage "keine sachliche oder rechtliche Grundlage" habe. Deutschland setze sich gleichermaßen für das Selbstverteidigungsrecht Israels und für den Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein. Zudem liefere man keine Waffen, die direkt in Kampfhandlungen eingesetzt werden könnten, sondern nur "allgemeine Rüstungsgüter".

ICJ Nica Germany Delegation D 1Vertretung Deutschlands

 

Die deutsche Delegation wurde von Tania Ruth Hilde Freiin von Uslar-Gleichen, frühere Vizepräsidentin des Bundesnachrichtendienstes und seit 2022 Beauftragte für Fragen des allgemeinen und besonderen Völkerrechts im Auswärtigen Amt, geleitet.

Nicaraguas Klage "eklatant einseiti"

In ihrer Eröffnungsrede sagte sie, dass Nicaraguas Klage übereilt und eklatant einseitig sei, auf fadenscheinigen Beweisen beruhe und wegen mangelnder Zuständigkeit abgewiesen werden sollte. Deutschland verletze weder die Völkermord-Konvention noch humanitäres Völkerrecht.

"Deutschland hat sich immer für die Förderung und Stärkung des humanitären Völkerrechts und der humanitären Grundsätze eingesetzt", so Uslar-Gleichen. "Dies leitet auch unsere Reaktion auf den Konflikt, um den es hier [in Gaza] geht. Deutschland tut alles, um seiner Verantwortung gegenüber dem israelischen und palästinensischen Volk gerecht zu werden. Deutschland weist die Vorwürfe Nicaraguas entschieden zurück."

ICJ Nica Germany Tania von Uslar Gleichen


"Wir stehen zu Israels Recht auf Sicherheit und Selbstverteidigung, bestehen aber darauf, dass dessen Grenzen strikt respektiert werden", äußerte Uslar-Gleichen. "Wir haben unser Möglichstes getan, um unseren politischen Einfluss geltend zu machen, um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten. Wir werden auch weiterhin alles tun, um unserer eigenen Verantwortung, die sich aus dem humanitären Völkerrecht und der Völkermordkonvention ergibt, gerecht zu werden."

Uslar-Gleichen sagte, dass Deutschland aus der Vergangenheit gelernt habe und deshalb voll und ganz an der Seite Israels stehe und dessen Existenz und Sicherheit verteidige." Unsere Geschichte ist der Grund, warum die Sicherheit Israels im Mittelpunkt der deutschen Außenpolitik steht", sagte sie.

Sie räumte ein, dass es ein Dilemma sei, in dem sich Deutschland und andere Länder jetzt befänden - mit der Unterstützung für Israel auf der einen Seite und der humanitären Situation in Gaza auf der anderen. "Deutschland tut sein Möglichstes, um seiner Verantwortung sowohl gegenüber dem israelischen als auch dem palästinensischen Volk gerecht zu werden", so Uslar-Gleichen.

Seit dem 7.Oktober keine Kriegswaffen an Israel. Umfassende humanitäre Hilfe für die Palästinenser

Nach Uslar-Gleichen wurde dem deutschen Rechtsvertreter Christian Tams das Wort erteilt. Er wies die Behauptung Nicaraguas zurück, Deutschland verstoße gegen die UN-Völkermordkonvention von 1948, indem es Israel Waffen liefere und das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) "defundiere".

ICJ Nica Germany D Christian Tams


Christian Tams sagte, die verteidigungspolitische Zusammenarbeit Deutschlands mit Israel beruhe auf einem "soliden Rechtsrahmen, der die Einhaltung des Völkerrechts gewährleistet". Die Bundesregierung prüfe vor jeder Exportgenehmigung sorgfältig, dass mit dem Material nicht gegen die Völkermordkonvention verstoßen werde.

Seit dem 7. Oktober seien 98 Prozent der deutschen Rüstungsexporte nach Israel keine Kriegswaffen wie Munition, Panzer etc., die in Gaza verwendet werden könnten, sondern "allgemeine Rüstungsgüter" von "defensiver Natur" wie Schutzwesten, Helme und Ferngläser. Und von den vier Fällen, in denen Kriegswaffenexporte genehmigt wurden, betrafen drei Waffen, die für den Einsatz im Kampf ungeeignet und für die Ausbildung bestimmt waren, behauptete er. Bei der gelieferten Artilleriemunition habe es sich um "Übungsmunition" gehandelt.

Tams äußerte sich nicht zu dem Punkt, dass es sich in dem einen Fall u.a. um 3.000 tragbare Panzerabwehrwaffen handelt, die nach dem 7. Oktober nach Israel geliefert wurden, oder zu anderen Panzerfäusten, schweren Torpedos, Kriegsschiffen oder Motoren für israelische Panzer die 2023 geliefert wurden, und dass die Regierungssprecherin Christiane Hoffmann noch am 5. April bestätigt hat, dass es keine "Bedingungen" für Waffen an Israel gebe.

Tams listete detailliert die Zusammensetzung der deutschen Rüstungsexporte nach Israel bis in die jüngste Zeit auf. Am 21. März hatte die Bundesregierung der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen die Auskunft über aktuelle Zahlen für dieses Jahr noch verweigert mit der Aussage "Fehler in der Datenerfassung".

Er behauptet zudem, die Waffenlieferungen an Israel seien zurückgegangen. In Wahrheit liegen die Exportgenehmigungen von November 2023 bis Januar 2024 über dem Vorjahresniveau.

Tams betonte, Deutschland habe sich schon früh im Gaza-Krieg für die Unterstützung der Palästinenser eingesetzt, unter anderem durch die Bereitstellung von humanitärer Hilfe in Höhe von Hunderten von Millionen Euro für die besetzten palästinensischen Gebiete.

Zudem habe Deutschland dem UNRWA nicht, wie von Nicaragua behauptet, die Mittel entzogen, sondern am 27. Januar nach Anschuldigungen gegen UNRWA-Mitglieder, beschlossen, keine weiteren Mittel für das Hilfswerk zu bewilligen. Dies habe keinerlei Folgen für die aktuelle Arbeit von UNRWA, das über genügend Mittel bis Ende Mai verfüge. Deutschland habe die Mittel für andere UN-Hilfsorganisationen aufgestockt und außerdem die Finanzierung der UNRWA-Maßnahmen im besetzten Westjordanland und in Jordanien wieder aufgenommen.

Mit der Beteiligung an den Abwürfen von Hilfsgütern aus der Luft – Tams zeigte demonstrativ ein Foto (siehe unten) – wirke Deutschland aktiv an der Bekämpfung der humanitären Notlage in Gaza mit.

ICJ Nica Germany Vortrag D 1aus dem Vortrag von Christian Tams


Deutschland argumentiert, Völkermord muss "tatsächlich begangen" sein, um über "vorläufige Maßnahmen" zu entscheiden

Der Brite Samuel Wordsworth, Rechtsbeistand und Anwalt Deutschlands, argumentierte, dass der Internationale Gerichtshof keine vorläufigen Maßnahmen gegen Deutschland anordnen könne, weil der tatsächliche Völkermord, der angeblich von Israel begangen werde, noch nicht nachgewiesen ist. Der Völkermord müsse "tatsächlich begangen" werden – was im Falle Israel nicht beweisen sei -, nur dann könne der Vorwurf erhoben werden, dass keine Maßnahmen zur Verhinderung ergriffen wurden. Zudem müsse Israel als Prozessteilnehmer anwesend sein, um gegen Deutschland vorläufige Maßnahmen verhängen zu können.

ICJ Nica Germany Samuel WordsworthSamuel Wordsworth.
Im Hintergrund Sevim Dagdelen, die als einzige deutsche Bundestagsabgeordnete an der Anhörung teilnahm.


"Die angeblichen Verstöße Israels gegen das Völkerrecht bilden die wesentliche Grundlage von Nicaraguas Antrag und Ersuchen", so Wordsworth vor dem Gericht. "Nicaragua muss jedoch nachweisen, dass das Gericht zumindest prima facie [Anm.: Beweis des ersten Anscheins] in der Lage ist, seine Zuständigkeit auszuüben, und das kann es nicht, da ein unverzichtbarer Dritter, nämlich Israel, offensichtlich fehlt."

Nach Auffassung von Wordsworth könne der IGH auch deshalb keine vorläufigen Maßnahmen gegen Deutschland verhängen, weil Nicaragua die "Verbalnote" mit der Ankündigung der Klage an eine falsche deutsche Adresse gesendet habe und nicht an die deutsche Botschaft in Managua. So habe Deutschland gar nicht ins Gespräch mit Nicaragua kommen und die Vorwürfe ausräumen können.

In der Anklageschrift Nicaraguas für den IGH heißt es in Punkt 27: "Nicaragua informierte Deutschland über seine Klage in einer Verbal-Note mit Datum vom 2. Februar 2024, die vom nicaraguanischen Außenministerium an das deutsche Außenministerium über seine ständigen Vertretungen in New York geschickt worden ist."

Nicaraguas Fall ist ein "Stellvertreterprozess

"Die Situation in Gaza ist unerträglich", räumte die deutsche Rechtsexpertin Anne Peters zu Beginn ihres Vortrages ein. "Zu viele Leben sind zerstört worden. Zu viele Lebensentwürfe wurden zerschlagen. Wir alle wollen, dass dies ein Ende hat, aber diese Art von strategischem Rechtsstreit zwischen Stellvertretern wird uns diesem Ziel nicht näher bringen."

ICJ Nica Germany D Anne Peters


Dann sagte sie, dass die Klage Nicaraguas gegen Deutschland den "Plausibilitätstest" nicht bestehen würde.

Damit das Gericht einstweilige Maßnahmen anordnen kann, so Peters, müsste es zunächst feststellen, dass es plausible Verstöße seitens Israels gibt - und dann, dass es plausible Verstöße seitens Deutschlands gibt. "Hier wird das Gericht insbesondere feststellen müssen, ob es plausible Verbindungen zwischen dem Verhalten Deutschlands und dem Verhalten des abwesenden Drittstaates Israel gibt, was Nicaragua nicht nachgewiesen hat", so Peters.

"Dieser Versuch, einstweilige Maßnahmen gegen einen Staat unter Berufung auf das Verhalten eines anderen Staates zu beantragen, überfordert die Plausibilitätsprüfung bis zum Äußersten. Nicaragua hat erstaunlich wenig über das anwendbare Recht gesagt und sich fast ausschließlich auf Spekulationen und Schlussfolgerungen verlassen."

Nicaragua habe keine Beweise erbracht, dass deutsche Waffen in Gaza gegen humanitäres Völkerrecht eingesetzt worden seien. Zudem habe Deutschland dargelegt, dass es immer das Völkerrecht respektiere und sehr "restriktiv" bei Rüstungsexporten verhalte, die der parlamentarischen Kontrolle unterliegen würden und sehr "transparent" seien.

Die Rüstungsexporte seien für die Selbstverteidigung Israels, es gäbe von deutscher Seite keine Anstachelung zu einem Völkermord. Die deutsche Regierung habe Israel "pro-akitv" zur Einhaltung der Normen ermahnt, von Israel humanitäre Hilfe für Gaza verlangt und vor einem Angriff auf Rafah gewarnt. Wie Christian Tams hob sie den Abwurf von Hilfsmitteln aus Flugzeugen der Bundesluftwaffe hervor.

Als letzter der deutschen Rechtsvertretung wiederholte Paolo Palchetti im Wesentlichen die von den anderen Anwälten bereist vorgetragenen Argumente.

Video der Anhörung der Rechtsvertretung Deutschlands am 9. April 2024: https://webtv.un.org/en/asset/k11/k11f8yi2w

 

ICJ Nica Germany Richterbank
Wie bei der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel wird es wahrscheinlich Jahre dauern, bis der IGH ein endgültiges Urteil in der Klage Nicaraguas gegen Deutschland fällt.

Es wird jedoch erwartet, dass das Gericht innerhalb weniger Wochen eine vorläufige Entscheidung über die von Nicaragua beantragten vorläufigen Maßnahmen trifft.

 

Anmerkungen

[1] ICJ: APPLICATION INSTITUTING PROCEEDINGS
https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/193/193-20240301-app-01-00-en.pdf


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Mehr als 2 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Palästina-Flüchtlinge, zahlen den verheerenden Preis für die Eskalation im Gazastreifen.
Zivilisten sterben, während die Welt zusieht. Die Luftangriffe gehen weiter. Familien werden massenweise vertrieben. Lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige. Der Zugang für humanitäre Hilfe wird nach wie vor verweigert.
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Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

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