19.02.2024: Der bekannte russische Soziologe und Marxist Boris Kagarlitzki ist am Dienstag (13.2.) wegen "öffentlicher Aufrufe zu terroristischen Aktivitäten" von einem russischen Militärgericht zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.
Boris Kagarlitsky (65) ist einer der bekanntesten linken Theoretiker in Russland. Er ist Mitarbeiter des Transnationalen Instituts (TNI) und war - vor seiner Verfolgung in Russland - Professor an der Moskauer Theodor-Schanin-Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Er ist auch Gründer und Chefredakteur der Nachrichtenplattform Rabkor. (https://rabkor.ru)
In seinen Werken zeigt er deutlich die Struktur des modernen Kapitalismus und die Probleme der linken Bewegung auf. Während der Sowjetzeit kritisierte Boris Kagarlitsky die UdSSR für ihre Abweichung von marxistischen Positionen. Im Jahr 1982 wurde er im "Fall der Jungsozialisten" verhaftet und im Lefortovo-Gefängnis inhaftiert. In den neunziger Jahren wandte sich Kagarlitsky gegen die Auflösung des Obersten Sowjets. der die sozialen Bewegungen zur Zeit der Perestroika regte er die sozialen Bewegungen an und befand sich dann erneut in der Opposition gegen die Regime von Jelzin und Putin.
Nachdem er sich zeitweise aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte, um sich auf Publikationen und die Lehre zu konzentrieren, kann Kagarlitsky auf eine 40-jährige Tätigkeit in der internationalen sozialistischen Bewegung zurückblicken, insbesondere in den Antiglobalisierungsbewegungen der frühen 2000er Jahre. Als 2014 der ukrainische Bürgerkrieg begann, unterstützte er zunächst die Gründung der separatistischen Volksrepubliken im Donbass. Gleichzeitig prangerte er stets die Manipulation des Schicksals der Aufständischen durch den Kreml an, der seiner Meinung nach das revolutionäre Potenzial dieser Formationen ausschalten wollte und daher bereit war, mit den westlichen Hauptstädten unter dem Tisch zu verhandeln.[1]
Nach dem Beginn des Krieges um die Ukraine vertrat er internationalistische Antikriegspositionen und positionierte sich öffentlich gegen Russlands Krieg. Trotz des rigorosen Vorgehens des Kremls gegen seine Kritiker:innen blieb Kagarlitzki in Russland.
Im Jahr 2022 wurde er vom Justizministerium der Russischen Föderation als "ausländischer Agent" eingestuft.
Unter dem klassischen Vorwurf der "Rechtfertigung von Terrorismus" führte der russische Inlandsgeheimdienst FSB am 25. Juli 2023 Hausdurchsuchungen bei Kagarlitzky und Mitarbeitern des Medienkanals (Telegram und YouTube) Rabkor durch.
Am 26. Juli 2023 wurde er verhaftet. Der russische Staat beschuldigte ihn der "Rechtfertigung des Terrorismus", ein Begriff, der in Russland häufig verwendet wird, um Kritiker des derzeitigen Regimes zum Schweigen zu bringen. Boris Kagarlitsky hat niemals Terrorismus gerechtfertigt, auch nicht in dem Videoclip und dem Posting in seinem Telegrammkanal, die nach dem Willen der Staatsanwaltschaft die Grundlage des Strafverfahrens bildeten.
Als Reaktion auf seine Verhaftung forderte eine breite internationale Solidaritätskampagne seine Freilassung. Im Dezember schien die Kampagne das Unvorstellbare erreicht zu haben: Kagarlitsky wurde aus dem Gefängnis entlassen und "nur" zu einer Geldstrafe von 600.000 Rubel, etwa 6.000 Euro, verurteilt.
Mahnwachen von Aktivisten der Linksfront und Komsomol-Mitgliedern für die Freilassung von Boris Kagarlitsky
Unmittelbar nach der Verhandlung im Dezember legte die Staatsanwaltschaft jedoch Berufung ein und beantragte fünfeinhalb Jahre Haft mit der Begründung, dass Kagarlitzky sich in einem Konkursverfahren befand und angeblich die Geldstrafe nicht bezahlen konnte.
Kagarlitsky gelang es, diese Geldstrafe und eine weitere Geldstrafe in Höhe von 710.000 Rubel für das Unterlassen des Hinweises, dass er ein ausländischer Agent sei, vor dem Berufungsgericht zu zahlen. Das Gericht berücksichtigte diesen Umstand jedoch nicht und verurteilte Boris Kagarlitsky zu einer fünfjährigen Haftstrafe in einer allgemeinen Strafkolonie.
Boris kam zum Prozess am 13. Februar bereits mit einer gepackten Tasche. Nicht umsonst, wie sich herausstellte. Er wurde direkt im Gerichtssaal verhaftet und in die Untersuchungshaftanstalt in Zelenograd gebracht.
Die Verurteilung von Kagarlitsky zeigt nicht nur das Ausmaß der staatlichen Repressionen in Russland, sondern ist auch ein klarer Angriff auf die russische und internationale Linke, die die sofortige Freilassung von Kagarlitsky fordert und solidarisch mit den politischen Gefangenen weltweit ist - aktuell vor allem auch mit dem im britischen "Guantanamo" inhaftierten Julian Assange.
Anmerkungen
[1] siehe z.B. kommunisten.de, 13.5.2014: Süd-Ost-Ukraine: Die Logik des Aufstands