13.10.2023: Berufungsgericht hebt Urteil der ersten Instanz auf. Mimmo Lucano war wegen "Solidaritätsverbrechen" in einem absurden Prozess zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt worden ++ Berufungsgericht bestätigt: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist kein Verbrechen. ++ Riace zeigt, dass eine Alternative zu der grausamen und unmenschlichen Immigrationspolitik der Regierungen und Verwaltungen möglich ist.
Die juristische Odyssee von Mimmo Lucano endete am Mittwoch, 11. Oktober 2023 um 17:13 Uhr. Der Gerichtssaal im Erdgeschoss des historischen Gebäudes an der Piazza Castello, vor dem alten aragonesischen Herrenhaus, ist voll mit Genoss:innen, Aktivist:innen, die aus der ganzen Region angereist sind. Der Hauptangeklagte ist nicht anwesend. Er hat es vorgezogen, der Schlussverhandlung zu fernzubleiben, bei der es um die möglichen Erklärungen der Staatsanwaltschaft und das Urteil geht. Mimmo Lucano blieb in Riace, während die Richter der zweiten Abteilung des Berufungsgerichts in Reggio Calabria über seine Zukunft entschieden.
In den letzten Jahren wurde eine neue kriminelle Figur geschaffen: die des Solidaritätsverbrechens. Menschen, die Migranten auf See retten, diejenigen, die einem illegalen Einwanderer Arbeit oder eine Mietwohnung geben, in der er menschenwürdig leben kann, sind die neuen Kriminellen. Der Angeklagte, der diese neue Kriminalität symbolisiert, ist Mimmo Lucano, der in einem absurden Prozess zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt wurde.
Das Urteil vom Mittwoch ist ein Triumph. Das Urteil der ersten Instanz wird aufgehoben. Der ehemalige Bürgermeister von Riace wird wegen eines Bagatelldelikts (Amtsmissbrauch im Zusammenhang mit einem Beschluss vom 5. September 2017) zu einer Freiheitsstrafe von nur einem Jahr und sechs Monaten mit Strafaussetzung verurteilt.
Damit sind die gegen ihn in erster Instanz erhobenen Anklagepunkte, für die er für nicht schuldig befunden wurde, hinfällig: kriminelle Verschwörung, Betrug, Unterschlagung, Fälschung. Das Gericht sprach auch alle anderen 17 Angeklagten frei. Die Anklageschrift wurde daher aufgehoben. In Riace gab es weder ein kriminelles System noch ein Geschäft bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Es ist ein Erfolg für die Verteidigung und eine gerechte Anerkennung für einen Mann, dessen persönliche Selbstlosigkeit und moralische Redlichkeit immer der Kompass seiner Existenz gewesen sind.
"Der heutige Tag ist ein außerordentlicher Sieg für alle Antirassisten. Ein Albtraum ist zu Ende. Diese Vorwürfe haben mich gedemütigt und verleumdet"
Domenico Lucano nach dem Freispruch.
Riace: Dorf des Willkommens
Unter dem Titel "Dorf des Willkommens" wurde das kalabrische Bergdorf Riace für die solidarische Aufnahme von Geflüchteten seit 1998 bekannt. Die Riacesi und ihr ehemaliger Bürgermeister Domenico "Mimmo“ Lucano schufen ein beispielhaftes solidarökonomisches Projekt, in dem Schutzsuchende nach den Strapazen der Flucht freundlich aufgenommen wurden und – zumindest für eine Zeit – im Dorf leben und arbeiten konnten. Gleichzeitig wurde das Dorf, das durch Abwanderung schon die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hatte, wiederbelebt.
Riace setzte nicht nur ein Zeichen gegen die tödliche Flüchtlingspolitik Italiens und der EU, sondern widersetzte sich auch der kalabrischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta und zahlte keine Schutzgelder. Es gab Preise und weltweite Anerkennung für dieses Willkommensmodell, aber auch Angriffe und Repression.
Für die repressive und rassistische Migrationspolitik Italiens und der Europäischen Union war es notwendig, die Aufnahme von Riace zu diffamieren und zu diskreditieren, denn Riace hat gezeigt, dass eine Alternative zu der grausamen und unmenschlichen Politik der Regierungen und Verwaltungen möglich ist. Denn das Modell von Riace ist allein durch die Tatsache, dass es erfolgreich praktiziert wurde, eine ernste Anklage gegen diese Politik.
13 Jahre Gefängnis für Hilfe für Flüchtlinge
Nach dem Rechtsruck mit den Wahlen in Italien 2018 wurde Lucano als Bürgermeister abgesetzt. Am 2. Oktober 2018 wurde Domenico Lucano von der Finanzpolizei im Rahmen einer Operation namens "Xenia" verhaftet. Er bekam Hausarrest und durfte sein Haus nicht mehr verlassen. Der Vorwurf: Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Missbrauch öffentlicher Gelder, weil er die kommunale Müllabfuhr ohne Ausschreibung an zwei örtliche Genossenschaften vergeben hatte. Am 16. Oktober 2018 verbannte das Überprüfungsgericht in Locri den abgesetzten Bürgermeister und seine Frau aus dem Ort; Dominico Lucano durfte Riace nicht mehr betreten. Am 5. September 2019, am selben Tag, an dem der rechtsextreme, rassistische Matteo Salvini sein Amt als Innenminister verlor, hob der Präsident des Gerichtshofs von Locri, Fulvio Accurso, die Verbannung des Ex-Bürgermeisters von Riace auf. Nach 14 Tagen Hausarrest und anschließender 11-monatiger Verbannung konnte Mimmo Lucano gestern wieder nach Hause zurückkehren.
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Ein inquisitorischer Prozess
Am 30. September 2021 wurde Lucan in einem offensichtlich politisch motivierten Verfahren von einem Gericht im kalabrischen Locri zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Damit ging das Gericht weit über die von der Staatsanwaltschaft geforderten 7 Jahre und 11 Monate hinaus.
Für die Beschuldigungen, er sei der Kopf einer kriminellen Vereinigung, habe sich Amtsmissbrauch, Dokumentenfälschung und Betrug zuschulden kommen lassen und öffentliche Mittel veruntreut, gab es keine oder nur gefälschte Beweise. 17 Mitstreiter*innen erhielten ebenfalls teils langjährige Haftstrafen. Hunderttausende Euro Fördermittel sollen zurückgezahlt werden.
In der Urteilsbegründung findet sich ein aufschlussreicher Satz, der die Masse der darin enthaltenen Beleidigungen gegen den Angeklagten noch vergrößert: Das Fehlen von Beweisen für eine unrechtmäßige Bereicherung Lucanos infolge seiner Aufnahmepolitik, so schreiben die Richter, hänge mit "seiner als falsche Unschuld getarnten Gerissenheit" zusammen, die durch sein Haus belegt werde, das "bewusst in bescheidenen Verhältnissen belassen wurde, um die ausgeübte illegale Tätigkeit überzeugender zu verschleiern".
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Die Verurteilten legten Berufung ein und blieben auf freiem Fuß, solange das Verfahren vor dem Berufungsgericht in Reggio Calabria lief. Die Staatsanwaltschaft forderte nun 10 Jahre und 5 Monate für Lucano.
Berufungsgericht bestätigt: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist kein Verbrechen.
Am Mittwoch dann Momente der Rührung, Applaus, geballte Fäuste und befreiende Parolen bei der Verlesung der Urteilsschrift. Das Berufungsgericht hat nur bestätigt, was alle gefordert haben: Die Aufnahme von Männern, Frauen und Kindern die vor Krieg und Elend flüchten ist kein Verbrechen. Euphorisch ist natürlich auch das Anwaltsteam, das Lucano über die Jahre hinweg begleitet hat. "Endlich wird der Gerechtigkeit Genüge getan. Es ist ein Schritt nach vorn für Mimmo, aber auch für das gesamte Justizsystem dieses Landes. Das Berufungsurteil beweist nun auf unanfechtbare Weise, dass Lucano nie etwas für sich selbst getan hat, sondern für andere, für die Schwächsten", sagte der Anwalt Giuliano Pisapia."Es muss jedem klar sein, dass dieser juristische Alptraum, der Lucanos Leben jahrelang ruiniert hat und das 'Modell Riace' endgültig zu zerstören drohte, höchstwahrscheinlich das Ergebnis von 'Untersuchungen' war, die von rechten Politikern nachdrücklich gewünscht wurden", erklärte Filippo Sestito von der Kulturvereinigung Arci: "Wir haben das immer gewusst und deshalb war Mimmo in diesen schrecklichen Jahren nie allein, sondern wurde von denen begleitet, die an den Wert der Menschlichkeit geglaubt haben und immer noch glauben."
Die Mobilisierung für die Freiheit von Mimmo Lucano hat nie aufgehört. In den letzten Tagen fanden in Neapel, Mailand, Bologna und Rom Solidaritätssitins und Mahnwachen statt. In Salerno haben das Antirassistische Forum, das Jugendnetzwerk für Salerno, die Vereinigung Kino und Menschenrechte sowie das Neapolitanische Filmfestival für Menschenrechte eine Demonstration zur Unterstützung von Lucanos Riace abgehalten, die sich an den von Pater Alex Zanotelli ausgerufenen Hungerstreik für Gerechtigkeit anschloss.
Und nun sind alle bereit, die Ärmel hochzukrempeln. Das Global Village von Riace muss wiederaufgebaut werden. Es ist nie zusammengebrochen, hat den Angriffen der Rechten standgehalten. Und es verspricht, wieder mit neuer Menschlichkeit zu glänzen.