01.10.2021: Bekommt die zweitgrößte Stadt Österreichs, Graz, die Landeshauptstadt des Bundeslandes Steiermark, demnächst eine kommunistische Bürgermeisterin? ++ Die KPÖ wurde bei der Wahl am 29. September stärkste Partei ++ Elke Kahr über die Pläne der KPÖ
Die am Sonntag, den 26. September, abgehaltene Gemeinderatswahl hat die Wahl einer Kommunistin in das Bürgermeisteramt in Graz, der Landeshauptstadt der Steiermark, in den Bereich des Möglichen gerückt. Falls dafür eine entsprechende Koalition mit anderen im Gemeinderat vertretenen Parteien zustande kommt. Das wäre wohl derzeit ein für ganz Europa einmaliger Vorgang.
Zur allgemeinen Überraschung landete die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) bei dieser Wahl in der Stadt Graz auf Platz 1. Sie wurde stärkste Partei im Gemeinderat. Damit steht ihr das Recht zu, den Bürgermeisterposten zu beanspruchen und entsprechende Gespräche mit anderen Parteien zur Bildung einer tragfähigen Mehrheit im Gemeinderat zu führen.
Bei einer Wahlbeteiligung von 54 Prozent (3,4 % weniger als das letzte Mal 2017) konnte die Grazer KPÖ mit rd. 34.000 Stimmen (28,84 %) die seit 18 Jahren in der Stadtregierung vorherrschende rechtskonservative "Österreichische Volkspartei" (ÖVP) überholen, die mit knapp 31.000 Stimmen nur noch 25,9 Prozent erreichte. Während die KPÖ gegenüber ihrem Ergebnis von 2017 rd. 8.600 Stimmen oder 8,5 % dazugewann und damit 15 Gemeinderatssitze erreichte, verlor die ÖVP fast 17.000 Stimmen oder 11,9 %. Der bisher die Grazer Stadtpolitik entscheidend dominierende ÖVP-Langzeit-Bürgermeister Siegfried Nagl, sah sich gezwungen, noch in der Wahlnacht seinen Rücktritt vom Amt des Stadtchefs bekanntzugeben. Er hatte sich durch das Anschieben mehrerer teurer, aber für Bauunternehmen profitabler Bauprojekte, darunter einer U‑Bahnstrecke, den Missmut vieler Bürgerinnen und Bürger zugezogen. Er hatte deshalb den Beinamen "Beton-Siegi" erhalten.
Aufgrund des Wahlergebnisses erhält die KPÖ nun auch die meisten Stadtsenatsmandate, nämlich drei statt bisher zwei. Stadtsenat oder Stadtrat heißt in Graz zum Unterschied vom Gemeinderat die siebenköpfige Stadtexekutive. Die Stadträte werden nicht vom Gemeinderat gewählt, sondern unter allen im Gemeinderat vertretenen Parteien proportional nach der Stärke der Fraktionen verteilt. Neben den drei nunmehr auf die KPÖ entfallenden Stadträten stellen die ÖVP nun noch zwei und die Grünen und die FPÖ je einen Stadtrat. SPÖ und NEOS sind wegen zu geringer Stimmanteile in der Stadtregierung nicht vertreten.
Bei den im gleichen Wahlgang gewählten 17 Stadtbezirksvertretungen liegt die KPÖ auffälligerweise in allen 8 Innenstadtbezirken vorn, während in den 9 Außenstadtbezirken, wo vielfach die wohlhabenderen Einwohner in Villengegenden zu Hause sind, weiterhin die ÖVP führend bleibt ("rote" Kernstadt, "schwarzer" Außenring).
Die KPÖ-Spitzenkandidatin Elke Kahr (59 Jahre), die schon seit 1993 Mitglied des Gemeinderats ist und seit 2005 als KPÖ-Stadträtin zunächst das Ressort Wohnungswesen, später das Ressort Verkehrswesen leitete, zeigte sich m Wahlabend vom Ausmaß ihres Wahlerfolgs selbst höchst überrascht. "Dieses Ergebnis ist überwältigend. Wir können es noch gar nicht fassen", sagte sie in ersten Äußerungen dazu. "Das ist für uns ein Riesenerfolg und mehr als erfreulich, ich habe mir das in dem Ausmaß nicht erwartet." Sie dankte den Wählerinnen und Wählern, aber zugleich auch den Spitzenkandidat*innen der anderen Parteien, weil der Wahlkampf "trotz allem ein sehr fairer" gewesen sei.
Elke Kahr erklärte, sie wolle "sehr sorgsam und umsichtig mit dem Ergebnis umgehen, damit Soziales in der Stadt nicht untergeht – für ein Graz, in dem jeder Platz haben muss". Sie werde mit allen im Gemeinderat vertretenen Parteien Gespräche suchen, einschließlich ihrem Vorgänger Nagl von der ÖVP. Als am ehesten möglich wird in Medienkommentaren eine Koalition der KPÖ mit den Grünen und der SPÖ betrachtet. Bei einem Gemeinderat mit 48 Sitzen liegt die Mehrheit bei 24 + 1. Das wäre durch eine Koalition der 15 KPÖ-Mandate mit den 9 Mandaten der Grünen und 4 Mandaten der SPÖ erreichbar - vorausgesetzt, ein entsprechender politischer Wille zur Zusammenarbeit kann sich durchsetzen und die Koalitionspartner widerstehen dem auf sie ausgeübten massiven Druck, die Wahl von Elke Kahr zur Grazer Bürgermeisterin zu verhindern.
Der "Erdrutschsieg" der Grazer KPÖ, wie er in einigen Medienberichten genannt wurde, hat natürlich in der etablierten Politikerkaste Österreichs und in den vorherrschenden bürgerlichen Medien einige Aufregung ausgelöst. Wie ist so etwas möglich? Der Erklärungsbedarf ist groß. Selbst Österreichs Bundeskanzler und ÖVP-Bundesvorsitzender Sebastian Kurz meinte, sich dazu äußern zu müssen: "Dass die Kommunisten in Österreich eine Wahl, wenn auch eine regionale, gewinnen können, ist etwas, das nachdenklich stimmen sollte".
Manche Kommentatoren versuchten sich mit "Pfeifen im Walde" zu trösten. Der Wahlsieg in Graz sei ein lokaler "Sonderfall". Gewählt worden sei ein altmodischen, geschichtlich überholtes und gescheiterten Politikmodell. Deshalb werde der kommunistische Erfolg in Graz nur eine kurzfristige Episode bleiben.
Andere griffen zum Strohhalm diffamierender Behauptungen, dass sich die Kommunisten die Stimmen nur mit Geld gekauft hätten. Hintergrund dafür war die Praxis der Grazer KPÖ, dass alle ihre gewählten Mandatsträger von ihren Politvergütungen nur etwa 2.000 Euro pro Monat für sich selbst behalten und den weitaus größeren Rest (etwa 4.000 € und mehr) in einen Sozialfonds einzahlen. Daraus werden einmalige Unterstützungszuschüsse, maximal 200 €, an Menschen in sozialer Not ausgezahlt. Damit wurde schon vielen Grazerinnen und Grazern bei der Bezahlung von Mietrückständen oder in anderen Notlagen aus der Patsche geholfen, natürlich ohne dass dafür eine irgendwie geartete politische Gegenleistung verlangt wurde.
Zumeist mussten allerdings auch bürgerliche Kommentatoren doch irgendwie eingestehen, dass die Grazer KPÖ und insbesondere ihre Spitzenkandidatin Elke Kahr ihren Wahlerfolg in erster Linie ihrem unermüdlichen Einsatz für soziale Anliegen ihrer Mitmenschen verdanken, und dies nicht nur in Worten, sondern in spürbaren und nachvollziehbaren Taten.
Bereits seit 1992 betrieb die Grazer KPÖ mit großem Zuspruch aus der Bevölkerung von Montag bis Donnerstag täglich bis 22 Uhr und an Wochenenden von 10 – 20 Uhr einen "Mieternotruf". Außerdem hielt Elke Kahr persönlich mindestens an zwei Tage in der Woche in ihrem Büro Sozialsprechstunden ab. Da gab es Beratung, Auskünfte und Hilfe bei Fragen wie Mieterhöhungen, Betriebskosten-Abrechnungen, Kündigungs- und Räumungsklagen.
Anders als die anderen. Einblick in die tägliche Arbeit von KPÖ-Stadträtin Elke Kahr. |
Der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier (Lehrstuhl an der Uni Graz) nannte als Gründe für den Aufwärtstrend der Kommunisten, "dass die KPÖ als die sozialpolitische Partei weit über die kommunistische Partei hinaus den Platz besetzt hat, ursprünglich, historisch gesehen, und da reden wir von zwei Jahrzehnten, noch mit Ernest Kaltenegger (früherer KPÖ-Gemeinde- und Wohnungs-Stadtrat 2005 – 2010, Red.), mit dem Thema leistbares Wohnen, mittlerweile aber für immer mehr sozialpolitische Themen, und auch durch den Niedergang der SPÖ in Graz."
Der in Wien tätige Politikexperte Thomas Hofer erklärte gegenüber dem österreichischen Rundfunk ORF: "Die KPÖ ist in Graz nicht erst seit gestern einfach sehr authentisch und sehr glaubwürdig beim Thema Sozialpolitik etabliert… Das heißt, da gibt es auch viele Bürgerliche - ich bin selbst Steierer, ich kenne viele Bürgerliche -, die angekündigt haben, schon letzte Zeit, sie werden jetzt KPÖ wählen."
Das deutsche ARD-Studio Wien ließ seinen Korrespondenten am Tag nach der Wahl berichten: "Elke Kahr gilt als bodenständig, sachkundig, verlässlich und ist seit bald drei Jahrzehnten in der Kommunalpolitik aktiv. Dass ihr knapp ein Drittel der Bevölkerung von Graz das Vertrauen ausgesprochen hat, führt die KPÖ-Politikerin unter anderem auf ihren Kurs in der Sozialpolitik zurück." Er zitierte die Aussage von Elke Kahr gegenüber dem ORF: " Was wichtig ist: dass man vor allem auf jene achtet, die es dann schlichtweg schwerer haben - egal, ob sie arbeiten oder arbeitsuchend sind, ob es ältere Menschen oder Jüngere sind … Und ich stehe absolut für ein Weltbild und eine Gesellschaft, die zusammenführt und nicht trennt."
Dabei verstecken die führenden Kommunalpolitiker der KPÖ in Graz ihre kommunistische Überzeugung nicht hinter ihrer sozialpolitischen Arbeit. Elke Kahr hat in Interviews mehrfach betont, dass sie sich selbst als "Marxistin" versteht. Auf die Frage, was sie nach 24 Jahren Stadtpolitik antreibt, antwortete sie: "Der Glaube an eine sozial gerechtere Welt, in der auch die, die jetzt alle vergessen, zu ihrem Recht kommen." Zugleich lautete ein auf den Werbematerialen der Grazer KPÖ verbreiteter Slogan: "Wir treten für einen Systemwechsel in Richtung Sozialismus ein, um die Klimakrise zu bewältigen."
Im Mittelpunkt des Wahlkampfs der Grazer KPÖ standen allerdings die tatsächlichen Alltagsprobleme der Mitmenschen. So hieß es in einer ihrer Veröffentlichungen: "Das tägliche Leben wird immer teurer. Viele Menschen arbeiten schwer für wenig Lohn oder sind ohne Arbeit. Die Politik kürzt aber bei den Sozialleistungen. So darf es nicht weitergehen. Wir treten ein für: Arbeitsplätze bei der Stadt ausbauen, Arbeitslosengeld anheben, Wohnungsunterstützung und Sozialhilfe verbessern, Zugang zur Grazer Sozialcard erleichtern, Stadtteilzentren sichern."
Ein besonderer Schwerpunkt bildete dabei die Wohnungsproblematik: "Die KPÖ setzt sich ein für Mietzinsobergrenzen für alle Wohnungen, Betriebskosten senken,, Delogierungsstopp, Licht und Wärme garantieren, keine Abschaltungen, 1000 neue Gemeindewohnungen". Außerdem gehörte dazu die Forderung nach einer "Leerstandsabgabe" für längere Zeit leerstehenden Wohnraum, was zwar "kein Allheilmittel" sei, aber neben einer Beschränkung der Miethöhe und der Errichtung von Wohnungen durch die öffentliche Hand ein nötiges Instrument zur Senkung der Wohnkosten sei.
In anderen Materialien wandte sich die Grazer KPÖ gegen die anschwellende Teuerungswelle, wobei die Steigerung der Wohnkosten und der Energiekosten im Mittelpunkt stehen. Elke Kahl erklärte dazu: "Diese alarmierende Entwicklung darf man nicht mit Schweigen übergehen, auch wenn Wahlen vor der Tür stehen.." Es sei natürlich vor allem Aufgabe der schwarz-grünen österreichischen Bundesregierung, hier gegenzusteuern, aber auch die Stadt Graz könne einen Beitrag zur Dämpfung der Preisentwicklung leisten. Deshalb seien für die KPÖ "das Einfrieren der städtischen Tarife und Gebühren und ein deutliches Senken des Preises für die Grazer Jahreskarte Bedingungen für Verhandlungen nach der Gemeinderatswahl, von denen wir nicht abgehen werden".
Mit gleicher Entschiedenheit engagierte sich die Grazer KPÖ dafür, dass die weitere Reduzierung der Bettenzahlen in umliegenden Krankenhäusern und "Spitalschließungen" gestoppt werden muss. Der neben Elke Kahr tätige und für das Gesundheitswesen zuständige KPÖ-Stadtrat Robert Krotzer erklärte dazu weiter: "Es braucht einen breiten Ausbau der kassenärztlichen Versorgung – vor allem für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die durch die Lockdowns immer mehr geworden sind. Die Gesundheitsfrage führt uns direkt zur Systemfrage. Es wird deutlich, dass der Kapitalismus dem Wohlergehen diametral zuwiderläuft. Jetzt geht es um breite Bündnisse zur (Reform) des Gesundheitswesens, für Personalaufstockungen und für Verbesserung der Arbeitsbedingungen".
Da Elke Kahr im Stadtrat zuletzt für das Verkehrsressort in Graz zuständig war, hieß es in einem von der KPÖ veröffentlichten Material unter der Überschrift "Für eine mobile Stadt" aber auch: "Vorrang für den öffentlichen Verkehr, für RadfahrerInnen und Fußgänger! Verkehrsstadträtin Elke Kahr hat auf diesem Weg viel erreicht. Es ist gelungen, das Radwegnetz zu erweitern. Es gibt mehr Buslinien, neue Straßenbahnlinien, Graz hat mehr Fußgänger- und Begegnungszonen und neue Wohnstraßen wurden geschaffen. In der aktuellen Diskussion sagen wir klar. Straßenbahn und S-Bahn haben Vorrang vor einer U‑Bahn."
Das Grazer Wahlergebnis für die KPÖ kann offenbar als ein Beleg dafür angesehen werden, dass eine bürgernahe, den Menschen zugewandte, offene, sozial und ökologisch engagierte und auch durch das persönliche Verhalten glaubwürdige Politik durchaus in der Lage sein kann, durch etablierte Kreise geschürte antikommunistische Vorurteile und Sperren in den Hintergrund zu drängen und zu überwinden. In diesem Sinn lässt sich das Grazer Wahlergebnis als ein ermutigendes Signal weit über den lokalen Grazer Rahmen hinaus zur Kenntnis nehmen.
Elke Kahr über die Zukunftspläne der KPÖ |
txt: Georg Polikeit