25.04.2017: Die Hegemoniekrise tritt nun auch in Frankreich offen zu Tage: "An einem bestimmten Punkt lösen sich die gesellschaftlichen Gruppen von ihren traditionellen Parteien, da sie diese nicht mehr als Ausdruck ihrer Klasse oder Klassenfraktion anerkennen." (Antonio Gramsci)[1] Die Kandidaten der beiden ehemaligen Volksparteien, die selbst 2012 noch 60% auf sich vereinen konnten, kommen gemeinsam gerade mal auf 26%. Die Sozialdemokratie ist in einem weiteren Kernland pulverisiert (6,2% für ihren Kandidaten Hamon).
Das Manöver Macron ist hingegen voll aufgegangen: 23,7% aus dem Stand und ohne Parteiorganisation im Rücken. Der ehemalige Investmentbanker und jener Wirtschaftsminister, der die harten neoliberalen Reformen unter Präsident Hollande zu verantworten hat, wurde aus der sterbenden Sozialdemokratie herausgelöst und mit sehr viel Geld erfolgreich als Quereinsteiger positioniert.
Zu diesem Manöver nochmal Gramsci: In Hegemoniekrisen "wechselt die traditionell führende Klasse, die Menschen und Programme aus und gewinnt die Kontrolle wieder, die ihr zuvor noch mit großer Geschwindigkeit zu entgleiten schien."
Darin zeichnet sich ein Trend ab, der sich in vielen Ländern beobachten lässt: In den 1990er und 2000er Jahren war die Sozialdemokratie für den Neoliberalismus ein verlässlicher Partner, da sie die Arbeiter_innen band und daher "Reformen" gegen deren Interesse ermöglichte. In dem Moment, wo sie diese Führung zunehmend (u.a. an Rechtspopulisten) verliert, wird sie abgestoßen.
In den französischen Wahlen können wir eine Tendenz erkennen, die längst auch in anderen Ländern unter der Oberfläche vor sich geht: Die Verklammerung von Liberalismus und Arbeiter_innenbewegung löst sich und gibt ihre Bestandteile frei.
Das ist eine brandgefährliche Situation, öffnet aber auch Chancen.
Dieser Prozess stärkt in einigen Ländern vor allem die extreme Rechte (wobei für Frankreich anzumerken ist, dass Le Pen im Vergleich zu 2012 trotz der mit Hollande verbundenen Enttäuschung "nur" 2,9% dazu gewann) und lässt die sozialen Interessen der gesellschaftlichen Mehrheit vorerst ohne entsprechende Repräsentation zurück.
Übersehen wird dabei aber oft, dass es gleichzeitig zu überraschenden Durchbrüchen und parteiförmigen Re-Organisierungsversuchen kommt (SYRIZA, PODEMOS, Bernie Sanders...). Dafür steht heute das Wahlergebnis von Mélenchon.
Ähnlich wie in den USA zimmerten die liberalen Medien und ihre Intellektuellen ausschließlich an der die Herrschaftverhältnisse stabilisierenden Konfliktachse "liberal vs. rechtspopulistisch". Wie wichtig mittlerweile die Konfliktachse "liberal vs. rechtspopulistisch" geworden ist, um die gegebenen Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten und linke Alternativen zu marginalisieren, zeigt sich daran, dass heute nirgendwo zu finden ist, dass Le Pen trotz Hegemoniekrise und der Enttäuschung über Hollande "nur" 2,9% (im Vergleich zu 2012) dazu gewonnen hat.
Obwohl in dieser Anordnung eine Stimme für eine linke Alternative (Sanders/Mélenchon) als haarsträubende Vergeudung erschien, erreicht Mélenchon heute dennoch 19,2% der Stimmen. Sowie auch schon die überraschenden Ergebnisse von PODEMOS/SYRIZA sollte dies aber weniger als eine erfolgreiche links-populistische Strategie (die mit der Gefahr verbunden ist, zentrale Kerne emanzipativer Praxis über Bord zu werfen) gelesen werden, sondern als verzerrter parteiförmiger Ausdruck der gesellschaftlichen Umbrüche und Kämpfe seit der Krise 2008ff.
So setzte sich 2016 in Frankreich – nicht zuletzt aufgrund der Besonderheiten seines ökonomischen Entwicklungsmodelles verzögert – jener Bewegungszyklus fort, der 2011 in Südeuropa begann: In 60 Städten kam es zu Platzbesetzungen, Nuit-Debout mündete in eine Streikbewegung, die das Benzin knapp werden ließ und Millionen in Paris auf der Straße protestieren ließ.
Eine Bewegung, welche die Regierung (darunter tatkräftig Macron) nur unter zur Hilfe Name des Ausnahmezustandes zum Schweigen bringen konnte.
Vorerst. Denn die Situation ist weiterhin offen – nicht nur in Frankreich. Es gilt sie zur Re-Organisierung zu nutzen und sich von den Rückschlägen und Mühen nicht entmutigen zu lassen.
[1] Gefängnishefte, Heft 7, S. 1577 u.f., ausführlich zur Hegemoniekrise in Frankreich in Prokla Nr. 185, http://bit.ly/2juxpp5
Quelle: Lukas Oberndorfer, 23.4.2017, https://www.facebook.com/lukas.oberndorfer/posts/1319455458150061
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