13.04.2023: Wer den gewalttätigen Kontext ausblendet, in dem sich die Ermordung der Familie Dee ereignete, verurteilt unzählige weitere Palästinenser:innen und Israelis zum gleichen Schicksal.
von Ben Reiff
Rabbi Leo Dee bei der Beerdigung seiner Töchter Maia und Rina auf dem Regionalfriedhof Gush Etzion in Kfar Etzion am 9. April 2023. Die Schwestern wurden bei einem Schusswechsel im Jordantal getötet; ihre Mutter Lucy erlag später ihren Verletzungen, die sie bei demselben Anschlag erlitten hatte. (Noam Revkin Fenton/Flash90)
Auf den Nachrichtensendern und in den sozialen Medien wird Rina, 15, und Maia Dee, 20, den britisch-israelischen Schwestern, die am Freitag, den 7. April, bei einem Schusswechsel im besetzten Westjordanland getötet wurden, und ihrer Mutter Lucy, die einige Tage später ihren Verletzungen erlag, gedacht. Die drei waren in einem Auto in der Nähe der Hamra-Kreuzung im Jordantal unterwegs, als sie Berichten zufolge unter Beschuss gerieten. Die israelische Armee fahndet nun nach palästinensischen Verdächtigen.
Die Familie Dee war vor neun Jahren aus dem Vereinigten Königreich in die Siedlung Efrat im Westjordanland eingewandert. Leo, der Vater der Mädchen und Lucys Ehemann, hatte zuvor als Rabbiner in zwei orthodoxen Gemeinden in Nordlondon gearbeitet. "Es gibt keine Worte, die unseren Schock und unsere Trauer über die herzzerreißende Nachricht von der Ermordung beschreiben können", twitterte der britische Oberrabbiner Ephraim Mervis nach der Bekanntgabe des Todes der Schwestern und fügte hinzu, dass die beiden in Großbritannien und in Israel "sehr geliebt" waren. Nachdem bekannt wurde, dass auch Lucy gestorben war, twitterte er: "Unser unbeschreiblicher Schmerz hat noch größere Ausmaße angenommen."
Nachdem Lucy, Maia und Rina auf dem Regionalfriedhof von Gush Etzion in der Siedlung Kfar Etzion beigesetzt worden waren, sagte Rabbi Dee am Montag unter Tränen, dass "unsere siebenköpfige Familie zu einer vierköpfigen Familie geworden ist". Der Verlust eines Familienmitglieds, vor allem wenn es sich um ein junges Kind handelt, ist eine unerträgliche Tragödie; man kann sich kaum vorstellen, welchen Schmerz Rabbi Dee und seine verbliebenen Kinder erleiden, nachdem sie gleich drei engste Familienangehörige auf einmal verloren haben.
Während wir diesen herzzerreißenden Verlust anerkennen, fehlt ein wichtiges Detail in fast jeder dieser Würdigungen und Berichte: Die militärische Besatzung durch Israel.
Dies ins Bild zu rücken bedeutet nicht, die Morde an den Dees zu rechtfertigen - im Gegenteil. Aber diese Tatsache zu ignorieren bedeutet, den Kontext, in dem sie lebten und getötet wurden, nicht zu verstehen und damit zahllose andere zum gleichen Schicksal zu verurteilen.
Wie Hunderttausende von Israelis, die im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, leben, wurden die Dees in das israelische Projekt der kolonialen Expansion in den besetzten Gebieten integriert. Siedlungen wie Efrat, die das Aussehen einer normalen israelischen Stadt oder eines Vororts haben, dienen dazu, Palästinenser in immer kleinere Bantustans zu drängen, um das verfügbare Territorium für Juden zu maximieren - einschließlich derjenigen, die aus dem Ausland zuwandern.
Blick auf die Erweiterung der israelischen Siedlung Efrat von Khirbet an-Nalha aus gesehen, in der Nähe des palästinensischen Dorfes Artas, besetztes Westjordanland, 22. April 2019. (Anne Paq/Activestills)
Seit 1967 hat Israel mehr als zwei Millionen Dunam (ein Dunam entspricht 1.000 m², Anm. der Red.) palästinensisches Land in Privatbesitz im Westjordanland gestohlen, um Hunderte von rein jüdischen Siedlungen und Außenposten zu errichten, sowie die Infrastruktur, die erforderlich ist, um sie miteinander und mit dem Rest des Staates zu verbinden. Jede einzelne dieser Siedlungen ist nach internationalem Recht illegal und verstößt gegen die Vierte Genfer Konvention, die es der Besatzungsmacht ausdrücklich untersagt, ihre Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten anzusiedeln.
Aber alle aufeinander folgenden israelischen Regierungen haben ihre jüdischen Bürger:innen aktiv ermutigt, in diese Gebiete zu ziehen, indem sie alle möglichen finanziellen Anreize geboten haben: subventionierte Wohnungen, Schulbildung und Transportmittel, Steuererleichterungen und sogar höhere Gehälter im öffentlichen Dienst. Hinzu kommen die tief verwurzelten religiösen und rassistischen Ideologien von der Überlegenheit des Judentums, die die radikaleren Teile der Siedlerbewegung antreiben. Es ist kein Geheimnis, dass der israelische Staat in vielen Fällen solche Stimmungen materiell fördert und unterstützt.
Diese illegalen Siedlungen haben sich in Israel völlig verselbstständigt und sind auf etwa eine dreiviertel Million jüdischer Bürger angewachsen. Aber die Existenz der Siedlungen selbst - zusätzlich zu dem umfangreichen Landraub, der ihren Bau und ihre Ausdehnung ermöglicht - erfordert die ständige Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung des Gebiets.
Diese Gewalt nimmt verschiedene Formen an: eine Armee, die seit Jahresbeginn bereits fast 90 Palästinenser:innen im Westjordanland getötet hat, darunter 18 Kinder; ein ausgedehntes Netz militärischer Kontrollpunkte, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen stark einschränken; und eine vom Internationalen Gerichtshof als illegal eingestufte Trennmauer, die tief in das Westjordanland hineingebaut wurde und noch mehr Land konfisziert.
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Dass diese Art von Unterdrückung Widerstand, ja sogar Gewaltausbrüche hervorruft, sollte nicht überraschen: Es ist eine Wahrheit, die so alt ist wie die Geschichte, dass unterdrückte Völker ihre unterdrückende Gesellschaft bekämpfen, wenn sie nach Freiheit streben. In einer prophetischen Anzeige, die im September 1967, nur wenige Monate nach Beginn der Besatzung, in der Zeitung Haaretz veröffentlicht wurde, warnten israelische Aktivist:innen, die der radikal-linken Gruppe Matzpen (dtsch.: Die Sozialistische Organisation in Israel, Anm. der Red.) angehörten: "Das Festhalten an den besetzten Gebieten wird uns in eine Nation von Mördern und Mordopfern verwandeln."
Dieser Satz hätte auch schon zwei Jahrzehnte früher gegolten, als die zionistischen Streitkräfte während der Nakba 1948 mehr als 750.000 Palästinenser vertrieben und auf den Ruinen palästinensischer Dörfer jüdische Städte errichtet haben.Bis heute wird die Rückkehr der Vertriebenen nach Israel gewaltsam verhindert. Das Ziel war damals dasselbe wie heute: die jüdische Vorherrschaft über das Land zu erhalten.
Es ist möglich, Gewalttaten abzulehnen, ohne die Bedingungen zu leugnen, die diese Gewalt unvermeidlich hervorrufen. Doch genau das wird in vielen Reaktionen auf die Morde an den Dees getan, indem sie das brutale Herrschaftssystem, das den Palästinensern aufgezwungen wird, ausblenden, so dass die Taten nicht anders als durch antisemitischen Blutrausch motiviert zu interpretieren sind. Indem sie sich nicht mit diesem System auseinandersetzen, stellen sie sicher, dass sich nichts ändert, bevor der nächste Anschlag seine nächsten Opfer fordert.
Trotz all ihrer komplexen Mechanismen und Bürokratien ist die Aufrechterhaltung der Besatzung ein einfacher Akt der politischen Entscheidung. Wie viele Menschen werden noch sterben, bevor Israel beschließt, sie zu beenden?
Ben Reiff ist ein britischer Autor und Aktivist. https://twitter.com/bentreyf
Text übernommen von
+972 Magazin, 11.4.2023: A British-Israeli tragedy, born out of the occupation
https://www.972mag.com/british-israeli-tragedy-occupation-dee/
eigene Übersetzung
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