02.02.2021: Die Halbherzigkeit des gegenwärtigen "Lockdowns" hängt damit zusammen, dass die Regierenden seit dem Beginn der Pandemie neben ihrer Eindämmung ein zweites Ziel verfolgt haben, das dazu im Widerspruch steht: Die Kapitalverwertung sollte möglichst nicht behindert werden. In der Pandemiebekämpfung darf die nicht lebensnotwendige Produktion nicht länger tabu sein. Sie muss zeitweilig eingestellt werden, meint Thomas Sablowski und weist die Einwände von Alex Demirović gegen #ZeroCovid zurück.
Autos bauen, Menschen opfern? Eine Kritik der deutschen Coronapolitik
Von Thomas Sablowski
Mittlerweile gestehen sogar Teile der Regierenden in Bund und Ländern ein, dass ihre Politik zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie gescheitert ist. Jedoch scheinen sie nach wie vor nicht in der Lage, daraus angemessene Konsequenzen zu ziehen. Glaubt jemand ernsthaft, dass die Pandemie durch das Tragen von OP-Masken anstatt von Stoffmasken eingedämmt werden kann? Oder dass etwa nächtliche Ausgangssperren die Infektionszahlen signifikant senken können – im Winter und in einer Situation, in der das Nachtleben ohnehin seit langem weitgehend brach liegt? Oder dass Ausflüge in die verschneiten Wälder für die hohen Infektionszahlen verantwortlich sind?
Halbherzig und kapitalorientiert
Die Halbherzigkeit des gegenwärtigen "Lockdowns" hängt damit zusammen, dass die Regierenden seit dem Beginn der Pandemie neben ihrer Eindämmung ein zweites Ziel verfolgt haben, das dazu im Widerspruch steht: Die Kapitalverwertung sollte möglichst nicht behindert werden. Bereits bei dem Lockdown während der ersten Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 betrafen die Maßnahmen der Regierungen in Bund und Ländern nur die "Freizeit" – und jene Sektoren der Wirtschaft, die damit unmittelbar zusammenhängen: etwa Restaurants und Hotels, den gesamten Kulturbereich. Dabei handelt es sich um jene Teile des Binnenmarkts, die nur in geringem Maß der Weltmarktkonkurrenz unterliegen. Das Herzstück der deutschen Wirtschaft, der Exportsektor und seine Schlüsselindustrien wie der Maschinenbau und die Automobilindustrie wurden nicht angetastet. Dass es im Frühjahr 2020 trotzdem zu gravierenden Einbrüchen der Produktion kam, war nicht beabsichtigt und ergab sich aus der Unterbrechung von Zulieferungen aus China und aus Italien. Während in Italien Arbeiter aus Sorge um ihre Gesundheit streikten und damit die Regierung zwangen, Teile der Industrie für mehrere Wochen stillzulegen, gab es so etwas in Deutschland nicht. Kaum war der halbherzige Lockdown im März 2020 beschlossen, drängten die Lobbyisten des Kapitals in den Wirtschaftsverbänden, den Medien und der Politik schon wieder zu "Lockerungen".
Nachdem die Regierenden dem Druck nachkamen und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie schrittweise aufhoben, setzten sie zunächst alles daran, zukünftig einen zweiten flächendeckenden Lockdown zu vermeiden. Dazu diente unter anderem die Delegation der Verantwortung an untergeordnete staatliche Ebenen. Es sollte nun in der Verantwortung der einzelnen kreisfreien Städte und Landkreise liegen, neue Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen, wenn die "Inzidenz" auf mehr als 30 neue Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen steigen sollte.
Als die Inzidenz dann tatsächlich in den ersten Landkreisen und Städten wieder auf mehr als 30 neue Infektionen pro 100.000 Einwohner stieg, wurden jedoch keine energischen Maßnahmen ergriffen. Vielmehr erhöhte man den Schwellenwert zunächst auf 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner und ließ dann das vereinbarte Ziel stillschweigend ganz fallen. Erst als die Inzidenz flächendeckend nach oben schnellte und die Gesundheitsämter längst nicht mehr die Ausbreitung der Infektionen nachverfolgen konnten, fanden sich die Regierenden in Bund und Ländern zu neuen Maßnahmen bereit.
Dabei folgte der zweite halbherzige Lockdown weitgehend den Mustern des ersten.
Bereits im Dezember zeigte sich, dass die im November umgesetzten Maßnahmen keine ausreichende Wirksamkeit entfalteten. Doch eine weitergehende Einschränkung von Produktion und Arbeit blieb weiterhin außer Betracht, es wurde nicht einmal öffentlich darüber diskutiert. Dabei hätte die Weihnachtszeit gut genutzt werden können, um mit relativ geringen politischen und ökonomischen Kosten eine konsequente Pause, einige Wochen Sonderurlaub mit Lohnfortzahlung für den größten Teil der Bevölkerung durchzusetzen. Diese Chance wurde vertan.
Während Schulen und Kindertagesstätten erneut geschlossen wurden, wurden die Betriebe offengehalten, mussten sich die Beschäftigten weiterhin dem Infektionsrisiko auf dem Weg zur Arbeit und am Arbeitsplatz aussetzen. Die Unternehmen und Verwaltungen gestatteten ihren Beschäftigten noch nicht einmal die Nutzung des "Home Office" bzw. das "mobile Arbeiten" im selben Umfang wie im Frühjahr 2020. Erst jetzt, nachdem auch die vor Weihnachten verabredeten Maßnahmen sich als unzulänglich erwiesen haben, sinnieren einzelne Politiker darüber, ob man nicht die Unternehmen dazu bewegen könnte, ihre Beschäftigten wieder verstärkt im "Home Office" arbeiten zu lassen und ob man sie nicht zu konsequenteren Maßnahmen des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz verpflichten könnte.
Zwischen Sozialdarwinismus und der Abwägung politischer Kosten
Seit den ersten Diskussionen über den Lockdown und seine "Lockerung" im Frühjahr 2020 bewegt sich die politische Debatte zur Eindämmung der Pandemie zwischen dem Pol der Sozialdarwinisten vom Schlage der FDP und AfD, die bereit sind, ein Massensterben in Kauf zu nehmen, die Alten und Kranken dem ununterbrochenen gesellschaftlichen Normalbetrieb zu opfern, und jenen Politikern, die zumindest vor einer Situation noch zurückschrecken, in der Kranke nicht mehr behandelt werden können, weil es in den Intensivstationen keine freien Plätze mehr gibt. Wird deutlich, dass wie in Kriegszeiten "Triage" praktiziert wird, dann könnten die politischen Kosten für die Regierenden doch zu hoch werden, so vermutlich die Annahme. Eine "Überlastung" des Gesundheitswesens "zu vermeiden", bedeutet für sie faktisch, die Ärzte und Pfleger*innen gerade so weit zu belasten, dass die Kapazitäten in den Krankenhäusern ausgelastet werden und weitere Maßnahmen des Infektionsschutzes vermieden werden können.
Dabei verschwimmt zunehmend auch der Unterschied zwischen der rechten Opposition und den Regierungsparteien, da ein Massensterben auch in Deutschland längst stattfindet. Bis zum 6. Mai 2020, als sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder auf weitgehende "Lockerungen" nach dem ersten Lockdown verständigten, waren in Deutschland "an und mit" Corona laut Robert-Koch-Institut (RKI) 6.996 Menschen gestorben. Damals hielten sich die Regierenden noch zugute, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bisher gut durch die Pandemie gekommen sei. Bis zum 28. Oktober 2020, als der "Lockdown light" beschlossen wurde, summierten sich die Toten auf 10.183. Am 13. Dezember, als die erneute Schließung von Kitas, Schulen und Einzelhandelsgeschäften beschlossen wurde, lag die Zahl der Verstorbenen bereits bei 21.787. Und nach dem jüngsten mir vorliegenden Situationsbericht des RKI vom 19. Januar 2021 sind inzwischen 47.622 Menschen "an und mit" COVID-19 gestorben. Wir erleben also einen exponentiellen Anstieg der Todesfälle trotz der Maßnahmen der Regierung. Und auch eine verdeckte Form der Triage findet statt, denn die meisten Alten werden gar nicht mehr in den Krankenhäusern behandelt – man lässt sie einfach in den Alten- und Pflegeheimen sterben. Wie berichtet wurde, ist das Durchschnittsalter der Patienten auf den Intensivstationen inzwischen deutlich gesunken und liegt bei etwa 60 Jahren. "Wenn wir wie in der ersten Welle die Menschen aus den Pflegeeinrichtungen noch alle auf die Intensivstationen bringen würden, dann wären die Intensivstationen schon längst überlaufen", sagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach in der Talkrunde von Maybrit Illner im ZDF am 14. Januar. Die Regierungen testen also, wie weit sie gehen können – die Grenzen des Zumutbaren verschieben sich.
Dass erfolgreichere Politiken zur Eindämmung der Pandemie möglich sind, zeigen beispielsweise viele Länder in Ostasien und Südostasien sowie im pazifischen Raum. Während die kumulative Zahl der "an und mit" COVID-19 Verstorbenen in Deutschland laut dem WHO-Situationsbericht vom 10. Januar 2021 inzwischen bei 48,2 pro 100.000 Einwohner liegt, liegt sie in China bei 0,3, in Japan bei 3,2, in Südkorea bei 2,2, in Vietnam bei 0,0, in Thailand bei 0,1, in Australien bei 3,6, in Neuseeland bei 0,5.
Das Ausbleiben einer klaren linken Antwort
Der Linken insgesamt ist es leider bisher nicht gelungen, sich auf eine eigenständige Position zur Eindämmung bzw. Beendigung der Pandemie zu einigen und diese öffentlich stark zu machen – eine Position, die sich sowohl von der sozialdarwinistischen Rechten absetzt als auch die Unzulänglichkeit der Regierungspolitik scharf kritisiert.
Dabei ist es nicht so, dass es keine alternativen Positionen gegeben hätte. Verena Kreilinger, Winfried Wolf und Christian Zeller, die jüngst den Aufruf "Zero COVID" [1] mit auf den Weg gebracht haben, haben beispielsweise in ihrem Buch Corona, Krise, Kapital die Widersprüchlichkeit der Regierungspolitiken frühzeitig kritisiert und für einen konsequenten Infektionsschutz plädiert, der auch vor tieferen Eingriffen in die Kapitalverwertung nicht zurückschreckt. Ich selbst habe bereits im März 2020 vorgeschlagen, die nicht notwendige Arbeit temporär einzustellen, und auf das italienische Beispiel verwiesen [2]. Attac hatte die Kampagne "Was wirklich wichtig ist" gestartet, die darauf zielte, Produktion und Arbeit nicht nur zwecks Infektionsschutz auf den Prüfstand zu stellen, sondern die Krisensituation zum Einstieg in eine sozialökologische Transformation und den dauerhaften Umbau der Produktionsstrukturen zu nutzen.
Diese Vorschläge sind angesichts der zweiten Welle der Pandemie, die die Dimensionen der ersten Welle bei weitem übertrifft, heute aktueller denn je. Die Linke war jedoch von Anfang an zerrissen zwischen der Kritik an den Einschränkungen der Grundrechte und der Thematisierung der zerstörerischen Folgen eines Lockdowns einerseits und der Kritik an dem unzulänglichen Infektionsschutz und der halbherzigen Regierungspolitik. Obwohl die Befürchtung, dass im Windschatten des staatlichen Ausnahmezustands dauerhafte Einschränkungen von Grundrechten durchgesetzt werden, durchaus ernst zu nehmen ist, erweist sich die Vielstimmigkeit der Linken hier als Schwäche. Dies gilt auch für die Partei DIE LINKE. Ihr Vorstand hat meines Wissens keine Beschlüsse zu der zentralen Frage gefasst, wie ein Massensterben verhindert werden kann. Die Beschlüsse und Forderungen der Partei beschäftigen sich lediglich mit nachgeordneten Fragen wie z.B. der Einkommenssicherung in der Krise, die zwar auch wichtig sind, aber eine Antwort auf die Frage, wie die massenhaften Erkrankungen und das Massensterben beendet werden können, nicht ersetzen. Bodo Ramelow, als Ministerpräsident einer der prominentesten Politiker der Partei DIE LINKE, der für eine eher lockere Politik war, als die COVID-19-Fallzahlen in Thüringen noch relativ niedrig waren, sagte am 8. Januar im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, er habe sich geirrt und es sei notwendig, die Wirtschaft weiter herunterzufahren, um die Infektionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das erregte Aufsehen, doch zwei Tage später berichtete die Tagesschau unter Verweis auf Äußerungen des Parteivorsitzenden Bernd Riexinger, DIE LINKE fordere nicht, die Produktion einzustellen, sondern nur die Möglichkeit des Home Office konsequenter zu nutzen und Maßnahmen des Infektionsschutzes am Arbeitsplatz verbindlich durchzusetzen. Dies ist m.E. ein Beispiel dafür, wie sich die Partei durch widersprüchliche Verlautbarungen ihrer Spitzenpolitiker selbst schwächt.
Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist Zur Kritik des Aufrufs #ZeroCovid Von Alex Demirović |
Falsche Einwände gegen "Zero-COVID"
An diesem Punkt ist es auch notwendig, auf einige Kritiken einzugehen, die gegen den Aufruf "Zero COVID" und den Vorschlag einer zeitweiligen Einstellung der nicht lebensnotwendigen Arbeit vorgebracht wurden [3]:
Ein Einwand lautet, dass die im Aufruf "Zero COVID" geforderte "Beendigung" der Pandemie, die Senkung der Infektionen auf null und die völlige Ausrottung des SARS-CoV-2 unrealistisch seien.
Dies zeige auch die Situation selbst in Ländern wie China, wo es trotz rigider Maßnahmen immer wieder zu neuen Infektionen komme. Die Menschheit müsse sich vielmehr darauf einstellen, dauerhaft mit dem Virus zu leben. Es mag sein, dass SARS-CoV-2 tatsächlich nicht völlig ausgerottet werden kann. Es ist aber bemerkenswert, dass die gleichen Personen, die diese Kritik an dem Aufruf vorbringen, auch betonen, dass die Politiker unter hoher Ungewissheit handeln, dass unser Wissen über das Virus unvollkommen ist und die Einschätzungen über die richtigen Maßnahmen auch in der Virologie und Epidemiologie umkämpft sind.
Spricht gerade dies nicht dafür, sich vorläufig das ambitioniertere Ziel zu setzen, die Krankheit ganz los zu werden? Vielleicht wissen wir noch nicht genau, ob wir mit SARS-CoV-2 wie mit den Grippe-Viren dauerhaft leben müssen oder ob wir einen Zustand erreichen können, der mit dem Kampf gegen die Pocken vergleichbar ist, die als besiegt gelten. Alle bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 wesentlich gefährlicher als die Grippe-Viren ist, eine wesentlich höhere Morbidität und Mortalität bewirkt. Wäre es da nicht angemessen, wie bei SARS und MERS eine Strategie der Ausrottung und nicht nur der Eindämmung zu verfolgen? Und selbst wenn die Neuinfektionen nicht auf null gesenkt werden können – ist es dann nicht notwendig, sie auf ein so niedriges Niveau zu senken, dass die Infektionsketten wieder nachvollziehbar sind? Wie sollen wir ansonsten den Tod vieler und dauerhafte Gesundheitsschäden bei vielen, die COVID-19 überleben, verhindern? Wie und wann sollen wir ansonsten zu einem einigermaßen normalen Alltag zurückkehren, zur Öffnung der Schulen und Kitas, der Kinos und Theater, zu einem Leben ohne "social distancing"?
Und selbst wenn es immer wieder zu lokalen Ausbrüchen von COVID-19 kommt – würden diese sich nicht viel besser kontrollieren lassen, wenn das allgemeine Infektionsniveau drastisch gesenkt wird – so wie es in vielen Ländern in Ost- und Südostasien der Fall ist? Es ist unredlich, einfach zu sagen, auch in jenen Ländern kursiere das Virus, und dabei die qualitativen Unterschiede zwischen den Ländern zu vernachlässigen. In jenen Ländern sind Schulen, Kitas und Kultureinrichtungen längst wieder geöffnet, verläuft das Leben weitgehend normal. Wäre es nicht, nachdem sich die allermeisten seit langem – mit unzureichenden Ergebnissen – einer rigiden Disziplin in ihrer Freizeit unterworfen haben, angebracht, einfach mal ein paar Wochen lang andere Maßnahmen auszuprobieren? Was ist denn die Alternative zu dem Vorschlag, die nicht lebensnotwendige Produktion und Arbeit temporär einzustellen? Eine Antwort auf diese Fragen bleiben die Kritiker des Aufrufs schuldig.
Ein zweiter Einwand lautet, die Senkung der Neuinfektionen auf null sei das falsche Ziel. Es gehe eher darum, die "Risikogruppen" der Alten und chronisch Kranken effektiv zu schützen und die Zahl der Todesfälle zu senken. Die Alten und Kranken würden gegenwärtig trotz des Lockdowns sterben.
Natürlich spricht nichts dagegen, etwa die besonders gefährdeten Personen in Alten- und Pflegeheimen, Gefängnissen, Flüchtlingsunterkünften und anderen Sammelunterkünften besser zu schützen. Es sollte beispielsweise selbstverständlich sein, dass kein Besucher und kein Pfleger ohne entsprechenden Schnelltest ein Alten- und Pflegeheim betreten darf. Das Pflegepersonal müsste täglich vor Arbeitsantritt getestet werden. Natürlich müsste die für die Tests notwendige Zeit als Teil der Arbeitszeit gerechnet werden und bei diesem notwendigen Mehraufwand das Personal entsprechend aufgestockt werden. All die sinnvollen Maßnahmen zu einem stärkeren Schutz bestimmter Risikogruppen stehen jedoch nicht im Widerspruch zu der Einstellung der nicht lebensnotwendigen Arbeit für einige Wochen. Man sollte das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dies gilt umso mehr, als die "Risikogruppen" sich ja nicht auf die Menschen in den Alten- und Pflegeheimen beschränken, sondern de facto einen großen Teil der Bevölkerung umfassen, der nicht isoliert werden kann und wie der Rest der Gesellschaft das Recht hat, an einem normalen Alltagsleben teilzunehmen. In Deutschland sind etwa 22 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre. Nimmt man die chronisch Kranken hinzu, umfassen die "Risikogruppen" etwa 40 Prozent der Bevölkerung.
Ein dritter Einwand lautet, eine Verschärfung des Lockdowns erfordere auch ein verstärktes polizeiliches Agieren. In einem Kommentar in der taz war von einer "halbtotalitären Fantasie" die Rede.
Unterstellt wird, dass die Menschen, wenn sie nicht mehr arbeiten müssen, anstatt zuhause zu bleiben, umso mehr die Gelegenheit nutzen, sich mit anderen zu treffen. Angesichts von 20-30 Prozent der Bevölkerung, die die Einschränkungen ohnehin ablehnen und das Virus für nicht gefährlicher als die Grippe halten, sei ein effektiverer Lockdown nur durch mehr Repression durchzusetzen. Die Unterstützer des Aufrufs "Zero COVID" würden also nach dem autoritären Staat rufen. – Ich glaube nicht, dass die Erwerbstätigen in ihrer Freizeit mehr Menschen treffen als auf dem Weg zur Arbeit und am Arbeitsplatz. Ich denke, es ist eher das Gegenteil der Fall. Hier wird auch ein seltsames Menschenbild artikuliert.
Selbst wenn 20-30 Prozent der Bevölkerung Vorsicht nicht für geboten halten, könnte die Einstellung der nicht notwendigen Arbeit immer noch ein höheres Maß an Infektionsschutz ermöglichen, als es gegenwärtig der Fall ist. Vor allem wäre es möglich, hier an den vorhandenen Klassenkonflikten anzuknüpfen, anstatt den Infektionsschutz weiter zu individualisieren. Das sollte gerade aus einer sozialistischen Perspektive von Interesse sein. Denn die Beschäftigten haben zwar ein Interesse an sicheren Einkommen, aber sie haben auch ein Interesse, ihre Gesundheit zu schützen.
Die Linke und die Gewerkschaften sollten sich also konsequent für Einkommenssicherung und Gesundheitsschutz einsetzen.
Zudem müsste die Einstellung der nicht notwendigen Arbeit in dem Maße weniger autoritär von oben durchgesetzt werden, in dem es gelänge, Diskussionen in den Betrieben darüber zu führen, was lebensnotwendige Arbeit ist und was nicht und worauf einmal ein paar Wochen lang verzichtet werden könnte. Das Beispiel Italien zeigte im Frühjahr 2020, dass auch ein solcher Lockdown "von unten" unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Zugegebenermaßen rächt sich hier allerdings die gegenwärtig mangelhafte Verankerung der deutschen Linken in den Betrieben und die subalterne sozialpartnerschaftliche Haltung der Gewerkschaften, für die die Wettbewerbsfähigkeit, sprich: Profitabilität "ihrer" Unternehmen Voraussetzung alles anderen ist.
Ein Problem besteht darin, dass sich beispielsweise Jörg Hofmann, der Vorsitzende der IG Metall, am 18.1.2021 im Interview mit der Augsburger Allgemeinen gegen ein Herunterfahren der Industrie ausgesprochen hat, weil sonst die Wertschöpfung und die Einkommen wegfallen würden. Und Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der IG BCE, sprach sich sogar gegen eine Home Office-Pflicht aus, wie die Süddeutsche Zeitung am 18.1.2021 berichtete. Aber vieles spricht dafür, dass die volkswirtschaftlichen Kosten des gegenwärtigen, halbherzigen Lockdowns, der viel länger andauert, letztlich viel höher sein werden als ein kürzerer, aber wirksamer Lockdown.
Grundsätzlich ist die Schließung von Betrieben viel leichter und mit weniger polizeilichem Aufwand durchzusetzen als die Überwachung der gesamten Bevölkerung in der Freizeit. In dem Maße, in dem die temporäre Einstellung der nicht notwendigen Arbeit wirksam ist, ermöglicht sie ein weniger polizeiliches, weniger repressives Agieren, da dann diejenigen, die sich nicht an Vorsichtsmaßnahmen halten, weniger ins Gewicht fallen. Es hängt also vor allem von den Lohnabhängigen und ihren Organisationen, von den Gewerkschaften und der Linken ab, ob sie den Infektionsschutz selbst in die Hand nehmen. In dem Maße, in dem sie das tun, erledigt sich die Frage des staatlichen Autoritarismus.
Ein vierter Einwand lautet, das in dem Aufruf "Zero COVID" vorgeschlagene europaweit koordinierte Vorgehen sei zu voraussetzungsvoll, da die Interessen der europäischen Staaten zu unterschiedlich seien, und sei gleichzeitig unzulänglich, da die Verflechtungen global seien und die Pandemie daher nicht alleine in Europa besiegt werden könnte.
So richtig dies einerseits ist, so klar ist m.E. auch, dass es ein riesiger Fortschritt wäre, wenn wir tatsächlich eine europaweit koordinierte Politik der Eindämmung der Pandemie hätten. Noch besser wäre natürlich eine globale Koordination, aber warum sollte man nicht eine europaweite Koordination als notwendigen Zwischenschritt anstreben? Es ist auch seltsam, dass der Sinn einer europäischen Koordinierung von Personen bezweifelt wird, die bei anderer Gelegenheit, nämlich in den Diskussionen um die Eurokrise, den Grexit und den Brexit immer gegen nationale Alleingänge, für ein Festhalten an der Europäischen Währungsunion und für eine Vertiefung der europäischen Integration plädiert haben. Aus meiner Sicht spricht jedenfalls viel mehr für eine europäische Koordinierung bei der Eindämmung der Pandemie als für das Währungsregime der EU. Falls ein europäisch koordiniertes Vorgehen nicht möglich sein sollte, spricht aber auch nichts dagegen, die Bemühungen um eine Eindämmung der Pandemie auf nationaler Ebene zu intensivieren. Ein synchrones europäisches Handeln kann aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtungen in Europa auch erzwungen werden, wenn einzelne Staaten vorangehen. Dies hat der erste Lockdown im Frühjahr 2020 gezeigt, als die streikenden italienischen Arbeiter die Einstellung der Produktion in Italien erzwangen und daraufhin auch die Produktion in Deutschland und in anderen Ländern eingestellt werden musste.
Kritisiert wird auch, dass die Zero-COVID-Strategie darauf hinauslaufe, die Außengrenzen absolut dicht zu machen. Richtig ist, dass Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen auch in den Ländern im asiatisch-pazifischen Raum, die die Pandemie erfolgreich eingedämmt haben, noch in Kraft sind. Dafür ist allerdings vor allem die Politik in den Staaten Europas und Amerikas verantwortlich. Staaten, die die Pandemie erfolgreich eingedämmt haben, müssen sich vor einem Wiedereintrag des Virus aus Staaten mit hoher Inzidenz schützen. Grundsätzlich sind aber Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen zwischen Staaten, die ähnlich hohe Inzidenzen haben, unnötig und sinnlos. In dem Maße, in dem es Staaten gelingt, die Inzidenz auf beinahe null zu senken, können zwischen ihnen Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen abgebaut werden.
Ein fünfter Einwand kritisiert, dass ein härterer Lockdown mit noch höheren Kollateralschäden verbunden sei. Dem kann entgegengehalten werden, dass durch einen wirksamen Lockdown, der auch die zeitweilige Einstellung der nicht lebensnotwendigen Arbeit umfasst, die Kollateralschäden eher minimiert werden, als bei der jetzigen Form des halbherzigen Lockdowns, bei dem kein Ende absehbar ist, oder gar bei einer "Lockerung", die zu einer weiteren Explosion der Krankheits- und Todeszahlen, zu einer andauernden Überlastung des Gesundheitswesens und zu weiteren Folgeschäden führt.
Tatsächlich ist die temporäre Einstellung weiter Teile der Produktion und Arbeit auch notwendig, um endlich wieder zum Normalbetrieb in Schulen und Kitas zurückzukehren, Kindern, Jugendlichen und allen anderen normale soziale Kontakte zu ermöglichen und die psychischen und psychosomatischen Schäden eines endlosen Lockdowns und eines endlosen "Social Distancing" zu vermeiden. Es geht nicht nur darum, das Massensterben zu beenden, sondern auch darum, die Produktion einer "verlorenen Generation" zu verhindern.
Ein sechster Einwand macht geltend, dass nicht alle Betriebe geschlossen werden können.
Das hat allerdings auch niemand verlangt. Es geht vielmehr darum, gemeinsam zu bestimmen, welches die lebensnotwendigen Bereiche sind, in denen die Arbeit aufrechterhalten werden muss. Dies könnte wie gesagt in einem demokratischen Prozess von unten geschehen. Die Eindämmung der Pandemie könnte damit auch ein Präzedenzfall für das sein, was man "Arbeiterkontrolle" oder auch "Wirtschaftsdemokratie" nennt. Selbstverständlich gilt es, dabei die stofflichen Zusammenhänge der Produktion zu berücksichtigen. In Italien hat die Regierung im Frühjahr 2020 anhand der Klassifikation der Wirtschaftszweige einfach dekretiert, welche Betriebe schließen müssen. Das war natürlich kein wirtschaftsdemokratischer Prozess. Wären die Entscheidungen auf der Basis betrieblicher, demokratischer Diskussionen von unten getroffen worden, so wäre sicherlich eine viel feingliedrigere Schließung von Betrieben möglich gewesen. Das Regierungshandeln war demgegenüber relativ grob, aber es erwies sich auch als praktikabel.
In Deutschland ginge es darum, eine entsprechende Diskussion überhaupt zu beginnen. Dabei könnte man sich zunächst einmal an der damaligen italienischen Liste der temporär herunterzufahrenden Wirtschaftszweige orientieren. Damals wurde etwa die Hälfte der Produktion stillgelegt. Die Liste der Wirtschaftszweige, die weiterproduzieren durften, war fünf Seiten lang.
Die Vertreter des Kapitals argumentieren nicht mit den stofflichen Zusammenhängen, sie wenden vielmehr ein, die Bereiche mit hoher Wertschöpfung dürften nicht geschlossen werden, da sie notwendig wären, um die kompensatorischen Maßnahmen der Regierung zu finanzieren. An diesem Argument ist richtig, dass unter kapitalistischen Bedingungen der Staat tatsächlich immer als abgeleiteter Bereich erscheint. Der Staat kann nur in dem Maße handeln, in dem er die privaten Akteure besteuern bzw. sich bei den privaten Akteuren verschulden kann. Dies setzt die Generierung von Einkommen in der kapitalistischen Produktion voraus. Staaten, die geringere Finanzspielräume als Deutschland haben, könnten dabei rasch an die Grenzen dessen geraten, was unter kapitalistischen Bedingungen machbar ist. Aber wollen wir nicht ohnehin Sozialismus, also eine Produktionsweise, die auf der demokratischen, planmäßigen Koordination der Produktion und Verteilung der Güter beruht, die also den Umweg über das Geld, den Markt und die Verteilung von Einkommen obsolet macht und die Trennung zwischen dem privaten Bereich der Ökonomie und dem öffentlichen Bereich der Politik aufhebt?
Abgesehen davon: Gerade der deutsche Staat, der in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung weit oben steht, hat auch unter kapitalistischen Bedingungen noch weit größere finanzielle Spielräume, als er bisher genutzt hat. Selbst die weitgehend richtige NO-COVID-Strategie einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, zu der auch der Chef des Münchener Ifo-Instituts, Clemens Fuest, gehört, bleibt an diesem Punkt widersprüchlich und falsch. In ihrem Konzept, das am 18. Januar 2021 unter dem Titel »Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2« veröffentlicht wurde [4] , heißt es: "Da es mit hohen Fixkosten verbunden ist, große Fabriken zu schließen und später wieder zu öffnen, sollten insbesondere Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr, z.B. hochautomatisierte Fabriken, und sehr hoher Wertschöpfung pro Beschäftigtem (insbesondere das produzierende Gewerbe) weiter produzieren dürfen." Dieser Vorschlag läuft darauf hinaus, gerade relevante Teile des monopolistischen Industriekapitals weiterhin bei den Maßnahmen des Infektionsschutzes außen vor zu lassen. Sicherlich gibt es in der Industrie hochautomatisierte Bereiche, in denen die Ansteckungsgefahr gering ist. Allerdings gibt es auch Bereiche, in denen trotz eines hohen Einsatzes an fixem Kapital eine große Zahl von Menschen relativ dicht nebeneinander arbeitet, z.B. in der Endmontage der Automobilindustrie. Und selbst die verstreuten Arbeiter*innen der hochautomatisierten Bereiche treffen sich in großer Zahl beispielsweise in der Kantine.
Gesundheit vor Verwertung!
Grundsätzlich muss der Gesundheitsschutz hier Vorrang vor Verwertungsgesichtspunkten haben; da es um die Einstellung der Produktion für wenige Wochen geht, dürfte das auch ökonomisch verkraftbar sein, wenn es durch solidarische Maßnahmen der Arbeitsplatzsicherung und Einkommensumverteilung begleitet wird. Die Entlassung von Beschäftigten muss unterbunden werden. Die Löhne müssen weiter gezahlt werden. Soloselbständige und kleine Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten müssen schnell und unbürokratisch staatliche Finanzhilfen erhalten. Größere Unternehmen, die bankrottgehen, müssen verstaatlicht werden, um die Arbeitsplätze zu erhalten.
Im Frühjahr 2020 wurden die Infektionszahlen durch den ersten Lockdown und die damalige Einschränkung der Produktion in Deutschland bereits auf das erforderliche niedrige Niveau gesenkt. Dass dies möglich war, haben wir auch den streikenden Arbeitern in Italien und der Gesundheitspolitik in China zu verdanken, sonst wäre die Einschränkung der Produktion hierzulande nicht in diesem Maße erfolgt. Leider wurde die Chance, die sich daraus ergab, verspielt. Sonst hätten wir heute hier eine ähnliche Situation wie in den Ländern des ostasiatisch-pazifischen Raums. Es gilt, nun endlich aus diesen Erfahrungen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Anmerkungen
[1] Der Aufruf wurde binnen einer Woche von mehr als 70 000 Menschen unterzeichnet. Siehe: zero-covid.org/.
[2] Siehe: ifg.rosalux.de/2020/03/23/was-ist-notwendige-arbeit-und-wer-entscheidet-darueber/;
ifg.rosalux.de/2020/03/28/gewerkschaftlicher-erfolg-in-der-corona-krise-in-italien/.
[3] Ich beziehe mich hier auf Diskussionen, die im wissenschaftlichen Beirat von Attac, am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und in anderen Zusammenhängen geführt wurden. Eine ausführliche Kritik von Alex Demirović an dem Zero COVID-Aufruf ist hier nachzulesen (oder hier). Siehe dazu auch den vorangegangenen Artikel Die Pandemie besiegen von Verena Kreilinger und Christian Zeller.
[4] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/no-covid-strategie.pdf
Der Artikel von Thomas Sablowski ist bei der Zeitschrift LUXEMBURG erschienen und wurde von dort übernommen.
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/autos-bauen-menschen-opfern/