20.07.2020: Ohne aktives und gemeinsames Eingreifen der Gewerkschaften verbunden mit einer entsprechenden Mobilisierungsstrategie werden die Krisenlasten und - folgen von Corona einseitig auf die Lohnabhängigen abgewälzt, meint Falk Prahl und untersucht zwei neue gewerkschaftliche Veröffentlichungen zu dieser Thematik:
Durch separat geführte "Häuserkämpfe" der Einzelgewerkschaften wird sich der weitere soziale Abstieg großer Beschäftigungsgruppen, wenn überhaupt, nur bedingt verhindern lassen. Die Kapitalseite nutzt die Krise für seine rabiaten Umstrukturierungspläne zu Lasten der Beschäftigten. Hier wären eigentlich koordinierte Aktionen der DGB Gewerkschaften angesagt.
In der Zustandsbeschreibung der aktuellen Situation und beim Aufstellen von sinnvollen und berechtigten Forderungen sind die Gewerkschaften, im Gegensatz zur Mobilisierung ihrer Mitglieder, schon etwas weiter. Dies zeigen beispielhaft zwei aktuelle Dokumente aus dem gewerkschaftlichen Bereich.
Da wäre einmal die aktuelle Ausgabe der wirtschaftspolitischen Information der Abteilung Wirtschaftspolitik von ver.di, die den Titel trägt "Sozialstaat in der Corona-Krise". [Anlage]
Diese Broschüre beginnt mit einem Lob des "Sozialstaates" und der "Großen Koalition", die angeblich schnelles und entschlossenes ökonomisches Handeln an den Tag gelegt hat. Der "Sozialstaat" agiere als Krisenmanager mit zahlreichen Konjunkturprogrammen, Rettungs- und Solidaritätsfonds und Hilfen für Länder und Gemeinden. Hier hätte man jedoch die regierungsamtliche Erzählung des "guten Krisenmanagements" durchaus hinterfragt können, wurden doch noch vor, zu Beginn und während der Corona-Krise durchaus Fehler und Versäumnisse sichtbar, die Bestandteil eine kritischen Analyse sein sollten.
Weiterhin hätte im allgemeinen Teil der Broschüre zumindest ein kurzer Hinweis auf die z.T. fatalen Auswirkungen der neoliberalen Politik der diversen Bundesregierungen bspw. in Bezug auf den infrastrukturellen Bereich und die öffentlichen Daseinsvorsorge ihren Platz finden müssen. Denn entgegen der Auffassung einiger Kommentator*innen, die den Neoliberalismus im Zuge der Corona-Krise beerdigen wollen, bzw. seinen Bankrott voraussehen gilt es in Wirklichkeit umso mehr, diesem den Kampf anzusagen.
Beim Thema Arbeitsmarktpolitik wird in der ver.di Broschüre schwerpunktmäßig das Thema Kurzarbeit als Beschäftigungssicherungselement behandelt. Kritisiert wird, dass das Kurzarbeitergeld nur bedingt den bisherigen Lebensstandard der betroffenen Beschäftigten gewährleistet. Hier werden dann die Möglichkeiten aufgezeigt, über tarifvertragliche bzw. betrieblich ausgehandelte Regelungen zu einer Aufstockung der Zahlungen zu gelangen.
Bezogen auf die Tatsache, dass immer weniger Firmen unter eine Tarifbindung fallen, wird festgestellt ".. in Branchen und Unternehmen mit ohnehin niedrigem Lohnniveau … geraten die dort Beschäftigten in Kurzarbeit besonders unter finanziellen Druck. Hier kann und muss eine höhere Tarifbindung und eine Stärkung der Mitbestimmung Abhilfe schaffen: Auch gesetzliche Mittel – etwa die häufigere und leichtere Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – sind gefragt. Diese Feststellung ist keineswegs neu, das Problem der abnehmenden Tarifbindung diskutieren wir vielmehr seit vielen Jahren. Die Corona- Krise unterstreicht aber die Notwendigkeit einer Trendumkehr."
Da stellt sich doch die Frage, wer diese notwendige Trendumkehr wie erreichen will?
Leider wird kein kritisches Wort über die Frage verloren, wer von der Kurzarbeiterregelung hauptsächlich profitiert, nämlich die Kapitalseite und auch bzgl. der Frage, wer die Kurzarbeit letztendlich finanziert, schweigt man sich aus. Das Kurzarbeiter*innengeld wird aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung finanziert, die wiederum vor allem von den sozialversicherungspflichtigten Beschäftigten gefüllt wird. Die Corona-Krise wird ein riesiges Loch in diese Kasse reißen und es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass dann auch steuerfinanzierte Milliarden in diesen Bereich fließen, wie sie momentan Unternehmen aller Art zufließen.
Neben der bereits erwähnten schwindenden Tarifbindung befasst man sich in der Broschüre auch mit den steigenden prekären Beschäftigungsverhältnissen, dem Konstrukt der Werkverträge, deren Verbot nunmehr ein Gebot der Stunde sei. Weiterhin geht man auf die besondere Situation der "Soloselbständigen" und der "Minijobber" ein. Auch hier wird festgestellt, dass sich ver.di und der DGB schon lange dafür aussprechen, die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu überführen. Kritisiert werden weiterhin Versuche der Kapitalseite und von Teilen der CDU Stimmung gegen den Mindestlohn zu machen.
In einem separaten Abschnitt wird auf die stärkere Benachteiligung der Frauen eingegangen, die die Hauptlast der weggefallenen Betreuungsmöglichkeiten zur tragen hatten bzw. haben. Bezgl. der Betreuungsmöglichkeiten spricht sich ver.di für mehr pädagogisches Personal in Krippen, Kitas und an den Schulen aus.
Im Kapitel "Versorgungslücken der sozialen Sicherung" wird auf die Defizite "unseres" Sozialstaates eingegangen, es wird u.a. ausgeführt, dass " .. auf entsicherten Arbeitsmärkten .. die schwere wirtschaftliche Krise Geringverdienende und prekär Beschäftigte mit voller Wucht trifft. In den letzten drei Jahrzehnten wuchs der Niedriglohnsektor, atypische und prekäre Beschäftigung nahmen stark zu. Gleichzeitig erodierten die Tarifverträge. Folglich gehörten Geringverdienende, Minijobber, Leiharbeiterinnen, Teilzeitbeschäftigte, Werkvertragsnehmer und Soloselbständige zu den ersten Opfern der Krise." Und weiter wird festgestellt "wer seine Arbeit verliert, ist aber immer öfters von Armut bedroht. Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung wurde in den 2000er Jahren mit den Hartz-Gesetzen empfindlich geschwächt."
Im Abschnitt "Gesundheit als Ware" wird auf die besonders angespannte Situation im Gesundheits- und Pflegebereich eingegangen, von denen viele "hausgemacht" seien. Die negativen Folgen der andauernden Privatisierung in diesen Bereichen haben gerade zu Beginn der Pandemie dramatische Engpässe offenbart. "Deswegen musste die Bundesregierung die erlös- und profitorientierte Krankenhaussteuerung (DRG-Preissystem) krisenbedingt aussetzen. Darüber hinaus hat der Personalmangel in den Krankenhäusern inzwischen dramatische Formen angenommen." Es wird geschlussgefolgert, "..die Corona-Pandemie zeigt nachdrücklich, wie wichtig ein gutes gemeinwohlorientiertes Gesundheitssystem für die Gesellschaft ist."
Im Abschnitt "Städte, Gemeinde und Daseinsvorsorge" befassen sich die Autoren u.a. mit den systemrelevanten Berufsgruppen aus den Bereichen Energieversorgung, ÖPNV, der Müllentsorgung und der Polizei ohne die die Infrastruktur und das öffentliche Leben des Landes zusammengebrochen wären. Ver.di spricht sich bzgl. des zentralen Bereichs der öffentlichen Daseinsvorsorge, dem ÖPNV, für ein umfassendes Investitionsprogramm aus, mit dem eine Verdoppelung der Beförderungsleistung erreicht werden kann, mit einem entsprechenden Personalaufbau um 60%.
Im letzten Abschnitt der Broschüre mit dem Titel "Sozialstaatsfinanzierung in der Krise" macht ver.di Vorschläge zur Finanzierung der Krisenlasten u.a. durch eine umverteilende Steuerpolitik "Ein zentrales Element für eine umverteilende Steuerpolitik wäre die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer auf Millionenvermögen, möglichst mit progressiven Sätzen, wie es auch der DGB fordert. Wir werden daran arbeiten, gemeinsam mit Sozialverbänden, sozialen Bewegungen und Parteien gesellschaftliche Mehrheiten für einen sozial-ökologischen Umbau zu organisieren, der sich an den gesellschaftlichen Bedarfen statt Profitmaximierung orientiert, zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führt und zu dessen Finanzierung die großen Vermögen beitragen."
Hier stelle sich die Frage, wann und wie ver.di und die anderen DGB Gewerkschaften die gesellschaftlichen Mehrheiten schaffen und mobilisieren wollen. Es reicht hier nicht aus nur die Lippen zu spitzen, es muss jetzt auch mal kräftig gepfiffen werden!
Beim zweiten beispielhaften Dokument, das nur kurz angesprochen werden soll, handelt es sich um die Ergebnisse einer Umfrage im Auftrag der Hans Böckler Stiftung (HBS), die im Pressedienst der Stiftung vom 10.07.20 veröffentlicht wurde. [Anlage] Hier wird u.a. ausgeführt, dass 26% der Erwerbstätigen während der Corona-Krise schon Einkommensverluste hinnehmen mussten und die soziale Ungleichheit sich verschärft hat.
Die Untersuchung ergab auch, dass sich in der Corona-Krise die traditionellen Rollenmuster zwischen Mann und Frau wieder verfestigt haben. Es sind die Mütter, die sich in der Hauptsache um die Kinder kümmern. Weiterhin wird festgestellt, dass zwar ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung mit dem "Krisenmanagement" der Bundesregierung zufrieden ist, diese Zustimmung jedoch mit dem jeweiligen sozialen Status abnimmt. So sind bei den Haushalten mit geringem Einkommen nur noch 46% mit dem Agieren der Bundesregierung zufrieden.
Eine Schlussfolgerung, die hier hätte gezogen werden müsste, ist, dass sich die Gewerkschaften stärker um die Einkommensschwachen und gesellschaftlich schlechter gestellten Menschen kümmern müssten. Auf solche Schlussfolgerungen verzichtet diese Untersuchung jedoch gänzlich.
Auch ist zu kritisieren, dass dieses Dokument nicht ohne einen gewissen nationalen Pathos auskommt. Ist dort doch Folgendes zu lesen: "Angesichts der enormen weltweiten Erschütterungen durch die Pandemie zeigt sich die deutsche Gesellschaft bislang vergleichsweise stabil. Ein handlungsfähiger Sozialstaat, belastbare Arbeitnehmerrechte mit Tarifverträgen und Mitbestimmung, eine lösungsorientierte Politik und ein meist sozialpartnerschaftlicher Ansatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wirken ganz offensichtlich positiv. Aber unsere Stabilität ist fragil. Sie kann ins Kippen geraten, wenn diejenigen, die schon vorher finanziell und sozial schlechter gestellt waren, in der Krise noch weiter zurückfallen." So ganz scheint man der "Sozialpartnerschaft" dann wohl doch nicht zu trauen.
Diesem Dokument fehlt es völlig an einer, zumindest im Ansatz formulierten Handlungsorientierung, die darauf ausgerichtet wäre, zum einen die scheinbaren Erfolge des Krisenkorporatismus zu sichern und zum anderen zu verhindern, dass die erwähnten schlechter gestellten Menschen zukünftig nicht noch schlechter gestellt werden und sich somit für rechte Populisten, Organisationen und Parteien weiteres Potential eröffnet.
Erschöpft sich die Untersuchung der HBS in der Reflexion gesellschaftlicher und arbeitsmarkpolitischer Phänomene in Zeiten von Corona, ohne eine klare gewerkschaftliche Handlungsorientierung, ist das Papier von ver.di schon ein Stück weiter, in der Orientierung auf gesellschaftliche Allianzen, um zu verhindern, dass die Lohnabhängigen die Zeche der Corona-Krise zahlen müssen.
Eine klare Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und Erscheinungen und daraus hergeleitete Forderungen sind die eine Seite der Medaille, auf die andere Seite gehört dann eine entsprechende (kämpferische) Strategie der Gewerkschaften zur Durchsetzung der eigenen Forderungen. Fehlt diese, dann greift hier die Erkenntnis von Bertolt Brecht "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren".
txt: Falk Prahl, marxistische linke, aktiv mit und in ver.di