30.11.2016: Mit der Koalitionsvereinbarung im Land Berlin und dem Treffen von Bundestagsabgeordneten steht Rot-Rot-Grün plötzlich im Mittelpunkt der politischen Debatte. Die CSU hat auf ihrem Parteitag schon den Kampf gegen die "Linksfront" eröffnet. Mario Candeias und Michael Brie stellen in ihrem Artikel fest, dass es keine Bedingungen für einen Richtungswechsel gibt. "Sie müssen erst entstehen. Die Aufhebung der Gesprächsblockaden zwischen SPD, Grünen und LINKEN sind dafür ein unverzichtbarer Schritt", meinen sie. Sie fragen, wie die Linke auf den Widerspruch reagieren soll, dass ein Richtungswechsel nach links fast aussichtslos erscheint und doch immer dringender wird. Und schlussfolgern: "In der heutigen Situation gehören alle bisherigen Vorstellungen, wie linke Politik zu machen ist, auf den Prüfstand."
Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Doppelstrategie
Die Zukunft ist abhanden gekommen. Die neoliberale Utopie ist erschöpft, aber ebenso sind es die linken Alternativen. Die Jahrzehnte eines zunächst konservativ-orthodoxen Neoliberalismus von Thatcher bis Kohl, seiner Verallgemeinerung unter den Regierungen Blair bis Schröder und schließlich seine autoritäre Vertiefung und Verankerung in den Jahren der Krise haben soziale Ungleichheiten und eine Polarisierung der Gesellschaft bewirkt, die kaum noch zu beherrschen ist. Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: „Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster“. Ein solches Monster ist die neue Rechte in ihren verschiedenen Formen.
Das politische Feld wird gegenwärtig nicht entlang der Konfliktlinie links gegen rechts strukturiert, sondern entlang der Polarisierung zwischen einem liberalen und einem illiberalen Kapitalismus, zwischen der Verteidigung des globalisierten Kapitalismus mit veränderten Mitteln (Clinton, Merkel, May usw.) und der Wendung hin zu einem sozial-nationalen und autoritären ethnorassistischen Festungskapitalismus (Trump, Le Pen, Petry usw.). Die gute Nachricht ist: Die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei. Die schlechte: Es sind genau die falschen Alternativen, die sich auftun. Eine solidarische demokratische Antwort auf die Krise fehlt bisher. Es dominiert der „Verlust einer allgemeinen, positiven Idee des Guten“ (Eribon).
Das Bedürfnis nach dieser Idee des Guten ist groß. Immer neue Bewegungen und Initiativen setzen diese Idee auf die Tagesordnung. Occupy Wallstreet und die Kampagne für Bernie Sanders, der heftig entbrannte Kampf um die Labour Party, Nuit Debut und die militanten Streiks gegen die neuen Arbeitsgesetze in Frankreich, die Indignad@s und der Aufstieg von Podemos in Spanien, das Wirken für Selbstorganisation und Solidarstrukturen wie die Kämpfe für eine linke Regierung in Griechenland und um deren Kurs– die Liste kann fortgeführt werden. Bei uns gehören die Willkommensinitiativen für die nach Deutschland Geflüchteten, die Demonstrationen gegen CETA und TTIP oder die De-Growth-Bewegung dazu. Viele drängen auf eine neue Politik eines guten Lebens, auf eine demokratische Lebensweise in der Würde und Solidarität gelebt werden. Aber gerade in Deutschland, dem neoliberalen Machtzentrum der EU, fehlt die integrierende Kraft, dem Neuen in die Welt zu helfen. Den solidarisch Vielen mangelt das Einigende, aus dem die Macht erwächst, einen Richtungswechsel der Politik einzuleiten. Dazu beizutragen das demokratische Lager der Solidarität zu konstituieren und sichtbar zu machen ist die gemeinsame strategische Aufgabe der Linken. Hoffnung und Macht müssen in einem Dritten Pol, einem Pol der Solidarität zusammenfinden, um in die hegemoniale Konstellation, die gegenwärtige Konfliktlinie zwischen „oben“ und „rechts“ wirksam zu intervenieren.
Zeiten quälend langsamer Entwicklung und jäher Wendungen
Die letzten Jahrzehnte waren nur scheinbar Zeiten der Stabilität. In Wirklichkeit ist die internationale Lage immer bedrohlicher geworden. An den Süd- und Ostgrenzen der EU sind Kriege entbrannt oder schwelen vor sich hin, sind Staaten zerstört, zerfallen, ohne Perspektive. Die Versuche, die EU vor allem durch Märkte und den Euro zu integrieren, haben das Projekt der EU an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Wo vor zweieinhalb Jahrzehnten die Hoffnung herrschte auf soziale Partizipation und Wohlstand, wachsen vor allem Angst und Unsicherheit. So wird es nicht weitergehen. Schon jetzt ist aus der gestaltenden Politik des Neoliberalismus Politik im permanenten Krisenmodus und Ausnahmezustand geworden. Vor Jahren konnte man sagen, dass die Barbarei auf uns zukriecht. Jetzt marschiert sie im Laufschritt.
Eine solche Situation erzeugt Spannungen, die sich in den letzten Jahren immer heftiger entladen haben. Auch linke Politik muss sich darauf einstellen, langfristige Abwehrkämpfe mit dem sehr schnellen Agieren in offenen Situationen zu verbinden; der „Stellungskrieg“ kann rasch zum „Bewegungskrieg“ werden und wieder zum Stillstand kommen. Noch ist die Linke aber auf eine derart widersprüchliche Strategie wechselnder Momente weder intellektuell noch organisatorisch oder politisch vorbereitet.
Wir sind in einer Situation, in der kein Richtungswechsel der Politik möglich ist, aber durchaus Modifikationen – rechte wie linke, autoritäre wie auch demokratische. Es wird wieder über zu starke Ungleichheit, über Klassen und Verwerfungen in der „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey) diskutiert. Entsprechend wird wieder über größere Investitionsprogramme debattiert, über den Stopp der Absenkung des Rentenniveaus oder das Zurückdrängen von Leiharbeit und prekäre Beschäftigung. In der Außenpolitik stehen sich Scharfmacher und jene deutlicher gegenüber, die nach kooperativen Lösungen suchen. Schon zuvor wurden einige Modifikation der Agenda-Politik erreicht: dazu gehören der Mindestlohn und flexiblere Regelungen bei der Rente mit 67. Mehr davon wäre durchaus möglich. Es handelt sich um partielle Zugeständnisse, um wachsenden Protest die Spitze zu nehmen, bestimmte Gruppen einzubinden, ohne an der grundsätzlichen Ausrichtung der Politik etwas zu ändern –also gerade auch deshalb, um den Richtungswechsel zu vermeiden. Einem solchen Richtungswechsel stehen die oligarchischen Machtstrukturen von Politik, Konzernen und Beratungsagenturen, verfestigte Interessen selbst von Teilen der organisierten Arbeiter_innen und regionalen Standorten sowie institutionelle Blockaden auf globaler, EU- und nationalstaatlicher Ebene gegenüber. Ein Richtungswechsel muss bezahlt werden. Dies ist bei Fortsetzung der Austeritätspolitik unmöglich.
Aber ein neoliberales Weiter-So ist nicht gesichert. Die Krise ist zu tief. Deshalb muss die Linke sich auch auf eine politische Krise einstellen, in der die herrschenden Eliten nicht mehr wie bisher weiter machen können, die bisherige Politik weder wirksam noch legitim erscheint, daher der Widerstand massiv zunimmt, auch unter der Fahne der neuen Rechten. Jederzeit ist eine neue scharfe Finanzkrise und Wirtschaftskrise denkbar, die akute Verschärfung internationaler Konflikte (auch unter den Großmächten) oder massive terroristische Attacken, akute Umweltkatastrophen, das schnelle Auseinanderfallen der EU nach der Präsidentschaftswahl in Frankreich – solche Ergebnisse sind wieder möglich geworden. Dies hat eine nervöse Spannung bei den Herrschenden ausgelöst, die die Grundlagen und Gewissheiten ihrer Politik erschüttert und sich durch die neue Rechte schon jetzt auf herausgefordert sehen. Teile der Herrschenden verbindend zunehmend auch Hoffnungen mit dieser Neuen Rechten und rechnen sich Chancen aus.
In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten (Klein 2016) ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt: zu sehr ist sie mit internen Macht, Profilierungs- und Distinktionskämpfen beschäftigt. Es fehlt aber auch das Vorstellungsvermögen und vielleicht die Kraft, sich der Härte der Situation und den Gefahren der Krise zu stellen.
In der heutigen Situation gehören alle bisherigen Vorstellungen, wie linke Politik zu machen ist, auf den Prüfstand. Eine Perspektive des Richtungswechsels nach links scheint fast aussichtslos und wird doch dringender, sozialökologische Transformation immer unwahrscheinlicher und doch akuter. Wie aber kann die Linke sich auf diese Widersprüche einstellen?
Sagen, was ist, so Ferdinand Lassalle, ist die erste revolutionäre Tat. Was die Linke in Deutschland zuerst braucht, sind eine konsequente Analyse und eine offene strategische Diskussion. Viel zu sehr sind die verschiedenen Gruppen „bei sich“, haben Angst, dass Veränderungen auch Gefahren mit sich bringen, verweigern sich der offenen selbstkritischen Diskussion ebenso wie schwierigen Experimenten. Eine gemeinsame Handlungs- und Machtperspektive kann aber nicht spontan entstehen, sondern muss geschaffen werden. Dies erfordert keine kleinlich trennenden Debatten, sondern verbindende Perspektiven, die eine gemeinsame Erzählung und entsprechende Praxen ermöglichen. Dazu muss zunächst aber versucht werden, Klarheit herzustellen und nicht im Brei unendlicher Mehrdeutigkeiten zu versinken, mit denen alles und jedes gerechtfertigt werden kann.
Die drei Kampflinien der Linken in dieser Krise
Die gesellschaftliche Linke sieht sich in eine komplizierte Situation von drei Kampflinien gestellt. Erstens muss gerade sie die liberale Demokratie verteidigen, die sie zu Recht wegen ihrer Verkürzung auf eine formale Demokratie mit formal politischer Gleichheit und beschränkt auf das politische Feld (bei Immunisierung ökonomischer Herrschaft) immer kritisiert hat. Aber der Verlust dieser Demokratie öffnet das Tor zu offener Barbarei. Zweitens muss sie die soziale Demokratie (Abendroth) sogar in ihrer sozialdemokratisch verengten Form eines umverteilenden, paternalistischen Sozialstaates schützen. Seine autoritäre „Modernisierung“ und austeritätspolitische Aushöhlung hatte einen dreifachen Effekt: Mit der Rentenabsenkung ist Angst vor Altersarmut entstanden. Mit dem Niedriglohnsektor und der Ausbreitung prekärer Jobs ist Angst um Arbeit und Einkommen allgemein geworden. Mit der Spaltung bei Bildung und Chancen haben Menschen Angst um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel. Diese dreifache Angst zerstört Demokratie und solidarischen Zusammenhalt, ist der Boden für Rassismus und Gewalt. Soziale, individuelle und öffentliche Sicherheit, das wird immer offensichtlicher, sind die unverzichtbaren Voraussetzungen von Freiheit und Selbstbestimmung.
Freilich kann die Linke nicht dabei stehenbleiben, Angriffe auf die liberale und soziale Demokratie abzuwehren. Sie muss darüber hinaus drittens eigene solidarische Praxen gesellschaftlicher Organisierung entwickeln und zu einem ausstrahlungskräftigen Dritten Pol, einem Pol der Solidarität werden. Das Bündnis mit bürgerlichen Kräften bei der Verteidigung der liberalen Demokratie ist nur dann überzeugend, wenn zugleich wirksam der Kampf gegen die herrschende Politik geführt wird, einer Politik, die hauptverantwortlich ist für die Aushöhlung der Demokratie und damit für den Aufstieg rechter Kräfte. Die Verteidigung der sozialen Demokratie in ihrer alten Form reicht nicht, denn sie ist schon lange nicht mehr zukunftsfähig, bietet keine Antworten auf die Fragen einer völlig veränderten Klasse von Lohnarbeitenden, deren Zusammensetzung weiblicher, migrantischer, heterogener geworden ist. Die Linke muss deshalb den Politikwechsel zunächst bei sich selbst vornehmen.
Die strategischen Aufgaben der Linken
Dies erfordert einen Perspektivwechsel: eine neue Klassenpolitik, die die Vielfältigkeit von Interessen des linken Mosaiks nicht negiert. Ein bloßes Zurück zum alten Klassenkampf kann es nicht sein. Rassismus, Geschlechterverhältnisse und soziale Fragen, Ökologie und Frieden etwa sind untrennbar verwoben. Differenzen sollten also nicht als Nebenwiderspruch behandelt, sondern Interessen aktiv verbunden werden. Das geht nur, wenn man es mit den Leuten selbst macht, präsent ist, in ihrem Lebensalltag gemeinsam organisiert, in den Vierteln und im Betrieb, Menschen zur Selbstermächtigung befähigt. Auf dieser Basis kann auch eine Glaubwürdigkeit der Partei DIE LINKE zurückgewonnen werden, auf die eine funktionierende parlamentarische Vertretung aufsetzen kann, und die eine Anziehung entwickelt auch für die Vielen, die nicht politisch aktiv werden wollen oder können.
Wenn wir über Zukunft sprechen wollen, müssen wir also die neuen Demokratiebewegungen ernst nehmen. Die repräsentative Demokratie hat ihre Stärken, doch ist die damit in Europa verbundene soziale Demokratie längst entleert. Repräsentation und Selbstorganisation müssen in ein neues Verhältnis gebracht werden. Dafür braucht es andere Institutionen, auch der eigenen Organisierung, nicht zuletzt der Partei. Es müssen Organisationen entstehen, in denen es möglich ist, Veränderung selbst in die Hand zu nehmen, oft im Kleinen, aber mit Blick auf das Ganze.
Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Die Partei DIE LINKE arbeitet dem griechischen Beispiel von solidarity4all folgend, an Modellprojekten für die Organisierung in sozialen Brennpunkten, an aufsuchende Praxen in den Nachbarschaften. In solchen Initiativen als organisatorischen Knoten kann „das Selbstbild der Menschen, von dem, was sie erreichen können“, verändert, kann „mit ihnen zusammen das Verständnis ihrer eigenen Fähigkeit zur Macht“ entfaltet werden (Wainwright 2012, 122), für ein neues inklusive WIR. Denn die Erfahrung des Gemeinsamen verleiht Handlungsfähigkeit und gibt den Glauben an eine machbare Veränderung und die eigene Zukunft zurück. Hier können auch Ansätze einer neuen emanzipatorischen und demokratischen Form von Sozialstaatlichkeit entwickelt werden.
Solche Ansätze sind damit nicht nur ein wirksames Gegenmittel gegen (rechten) Populismus, sondern können auch Abhängigkeiten gegenüber einer (linken) Regierung mindern und Klientelismus vorbeugen. Sie beschränken sich nicht auf ein „bürgerschaftliches Engagement“, das die Defizite des ausgedünnten Sozialstaates kompensiert, sondern zielen mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und der direkten Aneignung auf seine Rekonstruktion und demokratischen Umbau. Ausbau und Demokratisierung des Sozialstaates sollen aus dieser Perspektive Mittel und Entscheidungsmacht in die Zivilgesellschaft umleiten: „In and against the state“ (John Holloway).
Darüber hinaus bedarf es eines klaren Gegnerbezugs, ein konstitutives Außen. Denn die heutige Situation ist bewusst so gemacht worden. Es geht gegen die regierende politische Kaste, die Konzerne und Vermögenden, die sich aus der Finanzierung des Gemeinwesen verabschiedet haben, die Normalität der Korruption und Gier, den Konkurrenzfetisch, der das Gemeinsame, das Gewebe der Gesellschaft zersetzt – und gegen deren politischen Zwilling, den sich radikalisierenden Rechtspopulismus, der Schutz auf Kosten der Herabwürdigung anderer gesellschaftlicher Gruppen anstrebt, Hass predigt und Gewalt sät.
Im Gegensatz dazu sollten wir klar sagen, dass wir an einem Ende des Kapitalismus arbeiten, an einer Gesellschaft, die Bernie Sanders unbekümmert Sozialismus nennt. Dazu gehören ganz selbstverständliche Dinge wie eine kostenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung sowie bezahlbares Wohnen für alle; entgeltfreie öffentlichen Dienstleistungen von Bibliotheken bis zum öffentlichen Personennahverkehr; demokratische Mitsprache, die etwas bewegt; der ökologische Umbau der Städte, des Verkehrs, der Energieversorgung und Landwirtschaft; viel mehr Zeit füreinander und zum Leben. Hier scheint das Unabgegoltene vergangener Zukünfte auf, von der Französischen Revolution über die Russische Revolution bis hin zu 1968 oder 1989. Wie Corbyn sagt: „Für uns mag das seit 40 Jahren das gleiche sein, für die junge Generation ist das brandneu.“ Es geht um Wege im Kapitalismus, die über ihn hinausführen.
So wird das Wort Sozialismus wieder sprechbar. Die Leute sind irritiert, sehen bei Wikipedia nach, informieren sich. Wir sollten nicht dahinter zurück bleiben, unsere Vorstellungen einer solidarischen, demokratischen, feministischen, antirassistischen Post-Wachstumsalternative bei einem neuen alten, bei einem unabgegoltenen Namen zu nennen und gemeinsam dafür zu streiten, was er bedeuten soll im 21. Jahrhundert: Sozialismus – eine gute, eine solidarische, eine gerechte Gesellschaft, das Einfache, das schwer zu machen scheint. Nicht alle in der Mosaiklinken oder im Dritten Pol werden dies unterschreiben aber es sollte als selbstverständlich akzeptiert sein, das eine Transformationslinke innerhalb des Mosaiks für Sozialismus steht.
Und dabei sollten wir uns nicht scheuen, deutlich zu machen, wie wir fühlen. Die Rechten arbeiten mit Angst, Ressentiment und Hass. Wir müssen dagegen die Solidarität und die Hoffnung setzen, nicht als Appell, sondern als konkrete Praxis. Es ist gut und es tut gut, solidarisch zu sein. Eine solidarische Praxis übrigens, die sich sowohl an Geflüchtete und Minderheiten richtet als auch an die sozial Deklassierten und die verunsicherte Mitte: Hartz-IV-Bezieher, Arbeitslose und Niedriglöhner, an jene, die im Hamsterrad rennend, versuchen ein „gutes Leben“ zu verdienen und vielleicht manchmal sauer sind, über die vermeintlich weniger „Leistungsfähigen“. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass nicht nur ihre Interessen wahrgenommen werden, sondern ihrer Lage und ihrer Existenz Empathie entgegen gebracht wird. Wir müssen lernen, Verbindungen herzustellen, die jenseits des Diskursiven liegen und die das hervorbringen, was im Spanischen mit „Illusión“ bezeichnet wird: Illusión: ist kaum übersetzbar, wörtlich aus dem Latein „etwas ins Spiel bringen/auf die Bühne werfen“, eine Vorstellung und ein Gefühl davon, wie es werden könnte, noch nicht real, aber spürbar. Ernst Bloch nannte es den Vorschein einer anderen Welt. Es ist das Begehren, anders leben und anders sein zu wollen. Wir müssen das üben, es ist die andere Seite der sachlichen Analyse und Auseinandersetzung, beides muss sich befruchten.
Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden. Am Punkt elektoraler Vereinseitigung treffen sich traditionelle Parlamentsorientierung genauso wie ein rein diskursiv konstruierter Populismus. Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern. Gelingt es jedoch den Wärmestrom der Hoffnung wieder in Gang zu setzen, der seine Kraft aus der Erfahrung von Solidarität und Selbstermächtigung zieht, kann auch über Regierung anders gesprochen werden.
Die Gretchenfrage: Wie steht eine linke Partei zur Regierungsbeteiligung?
Es ist ein schlechtes und empirisch widerlegtes Argument, dass gesellschaftliche und politische Opposition nichts bewegt. Auch aus der Opposition kann man den Herrschenden Feuer unter ihren Stühlen machen, damit sie sich bewegen müssen. Wenn sie vor der Linken keine Angst, keinen Respekt haben, dann hilft alles nichts. Weder Bismarcks Sozialstaatsreformen noch die betriebliche Mitbestimmung oder die Adenauersche Rentenreform wären ohne handlungsfähige Opposition entstanden. Es gäbe keinen Atomausstieg und keinen Mindestlohn. Es kann umgekehrt belegt werden, dass die Linke sich durch Regierungsbeteiligung oft geschwächt, ja sogar zerstört hat, wenn damit keine linke Machtoption verbunden war und sich zur Geltung brachte. Auch in Deutschland. Die SPD ist unter der Regierung von Gerhard Schröder zu einer Partei der sozialen Ungerechtigkeit geworden und hat sich davon bis heute nicht erholt. Die Grünen haben einen NATO-Angriffskrieg mitgetragen und die Agenda 2010. Links sieht anders aus. Auch die PDS und die Partei DIE LINKE hat große Schwierigkeiten, bei Regierungsbeteiligungen auf Landesebene zur Stärkung der Linken in der Gesellschaft beizutragen. Die eigentlich entscheidende Frage ist also nicht, Regierungsbeteiligung ja oder nein, sondern welche Kraft die Linke mit welchen Mitteln in der jeweiligen konkreten Situation entwickeln kann.
Zumeist wird über die Frage von Regierungsbeteiligung völlig falsch diskutiert. Im Vordergrund wird gestellt, welche Reformen im Einzelnen durchgesetzt werden können und welche nicht. Aber die Frage, die an Regierungsbeteiligungen gestellt werden muss, ist nicht nur, was dabei erreicht werden kann, sondern ob damit die linken gesellschaftsverändernden Kräfte gestärkt werden oder nicht. Wie Rosa Luxemburg sagte: Es kommt vor allem auf das Wie an! Das Was steht auf tönernen Füßen, wenn keine gesellschaftlichen und politischen Kräfte dahinter stehen, die es verteidigen und ausbauen. Das Wirken für einzelne Reformen, geschweige denn für Regierungsbeteiligungen, die nicht die Ausstrahlungskraft und Handlungsfähigkeit der Linken deutlich stärken, sondern durch die sie geschwächt und ggf. unglaubwürdig werden, sind in der jetzigen Situation eine direkte Gefahr für die Demokratie.
Aber auch diese Antwort ist noch zu abstrakt: Unseres Erachtens muss sich die Linke insgesamt, muss sich auch die Partei DIE LINKE auf zwei sehr unterschiedliche Handlungssituationen einstellen. Die eine Situation ist die, dass die relative wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität in Deutschland erhalten bleibt und weder gesellschaftlich noch parteipolitisch die Bedingungen für einen durchgreifenden Richtungswechsel der Politik gegeben sind. Das ist der gegenwärtige Zustand. Zum anderen muss sich die gesellschaftliche wie die parteipolitische Linke auch auf eine offene Krisensituation vorbereiten. Dann sind sie gefordert mit viel weiterreichenden Positionen und einer energischen Mobilisierung. Die Frage von parteipolitischer Opposition oder Regierungsbeteiligung muss beiden Optionen gerecht werden. Würde eine Regierungsbeteiligung die Fähigkeit der Partei DIE LINKE schwächen, in einer offenen Krise als überzeugende Alternative einer grundsätzlich anderen Politik auftreten zu können, dann hätte sie historisch völlig versagt. Der Anspruch der Wahlalternative, auch eine Richtungsalternative zu sein, wäre aufgegeben worden.
Der strategische Gebrauchswert der Partei DIE LINKE besteht in der Dialektik revolutionärer Realpolitik. Sie muss parteipolitisch daran arbeiten, die Bedingungen für einen grundsätzlichen Richtungswechsel zu schaffen und zugleich heute politisch durchsetzbare Modifikationen herrschender Politik erreichen, so ihr Gründungskonsens, so ihre Daseinsberechtigung. Beides muss sich wechselseitig verstärken, darin besteht die Kunst, gegen den Wind des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus anzusegeln, um an Walter Benjamin zu erinnern.
Die Sozialdemokratie bildet gegenwärtig im doppelten Sinne die Grenze der Möglichkeit einer progressiven Transformation in Europa. Ohne die Sozialdemokratie geraten alle linken Projekte, einschließlich der Bewegungsprojekte wie in Frankreich oder Spanien, aber auch in Griechenland (auf Grund der mangelnden Unterstützung der europäischen Sozialdemokratie) an eine Grenze. Dies bedeutet aber leider auch, die Erneuerungsfähigkeit der Sozialdemokratie ist beschränkt. Ein Umbruch, wie er in Großbritannien unter Corbyn erstritten wird, aber noch nicht gesichert ist, erscheint in Deutschland bisher ausgeschlossen. Es ist fraglich, ob eine solche Erneuerung in Ländern möglich wäre, in denen der Platz einer linken Sozialdemokratie von anderen Parteien streitig gemacht wird. In der Bundesrepublik haben große Teile des linkssozialdemokratischen Spektrums die SPD verlassen und sind über die WASG zur Partei Die LINKE gewechselt. Linke Politik in Deutschland muss deshalb auch darauf gerichtet sein, den Druck auf eine linke Erneuerung der SPD zu erhöhen und in ihrer gegenwärtigen Gestalt als Hindernis für eine linke Politik auf Bundesebene offen zu bekämpfen.
Ein nüchterner Blick auf die SPD zeigt: Über Jahrzehnte programmatisch wie personell eng mit dem Neoliberalismus verwoben, mit einer Führung, die an den Schaltstellen der Regierungs- und Verwaltungsmacht sitzt, fehlt das Potential zur Erneuerung. Sie droht daher, den geschichtlichen Moment, an dem der „Zwiespalt zwischen Repräsentierten und Repräsentanten“ zu groß wird, zu verpassen: „An einem bestimmten Punkt ihres geschichtlichen Lebens lösen sich die gesellschaftlichen Gruppen von ihren traditionellen Parteien, das heißt, die traditionellen Parteien in dieser gegebenen Organisationsform, mit diesen bestimmten Männern, die sie bilden, sie vertreten oder führen, werden von ihrer Klasse oder Klassenfraktion nicht mehr als ihr Ausdruck anerkannt.“ (Gramsci Gef.7: 1577f.). Die gesellschaftlichen Gruppen wenden sich ab nach rechts und links. Das ist der Punkt, wo solche Parteien politisch bedeutungslos werden. Die PASOK ist ein politischer Leichnam, die spanische PSOE befindet sich in der schwersten Existenzkrise seit ihrer Entstehung und die französische PS liegt bei Umfragen bei 14 Prozent.
Die Umfragewerte der SPD liegen nahe bei der 20 Prozent-Marke und haben sich gegenüber der Wahl 1998 (40,9 Prozent) fast halbiert. Sie hält an einer Regierung fest, die mit Macht das autoritäre neoliberale Krisenregime in ganz Europa durchsetzte und unerbittlich die Vernichtung jeder Alternative betreibt. Eine echte Erneuerung ist bei der SPD gegenwärtig ausgeschlossen. Keinesfalls sollte jedoch eine (mehr oder weniger opportunistische) Wende ausgeschlossen werden – schon aus reiner Selbsterhaltung, angesichts der Beispiele ihrer nahezu vernichteten Schwesterparteien. Auch diese Möglichkeit muss in Betracht gezogen, aber eben auch nicht überschätzt werden. Doch Opportunismus reicht nur zu Modifikationen der Politik. Ein wirklicher Richtungswechsel gemeinsam mit der SPD ist vorläufig unrealistisch.
Bei den Grünen ist die Lage auf andere Weise dramatisch, misst man sie an den Herausforderungen linker Politik. Ihre Lage ist relativ stabil, mit leichten Abweichungen nach oben und unten. Doch wird es für die Grünen nicht einfach, sich beide Regierungsoptionen offen zu halten: eine schwarz-grüne Koalition (einschließlich des Rechtspopulismus der mitregierenden CSU) oder eine ungeliebte rot-rot-grüne Koalition – das wird die Partei und nicht zu letzt ihre Wähler*innen – noch vor Zerreißproben stellen. Auch sie verkörpert keinen Richtungswechsel der Politik, sondern nur einen „grünen Faden“ im Geflecht des Finanzmarkt-Kapitalismus.
Potenzielle Schnittmengen und Bedingungen für einen Richtungswechsel
Wenn also bundesweit ein Richtungswechsel ausgeschlossen ist, was bedeutet dies für die Partei DIE LINKE mit Blick auf die Frage Opponieren oder Regieren? Strategisches Ziel der Partei DIE LINKE sollte eine linke Regierung in Deutschland sein, die eine starke Zivilgesellschaft als kritischen Partner hat. Dies wäre eine Regierung der Hoffnung und der machtvollen Gestaltung, eine Regierung des Dritten Pols, des Pols der Solidarität. Dafür sollte die Partei Wahlkampf im Sinne eines „Geistes der Abspaltung“ (Gramsci) machen, eines Geistes, der den Unterschied markiert und zugleich den Willen zu einem über die eigene Partei hinausweisenden gesellschaftlichen Projekts ohne Sektierertum deutlich macht. Noch sind die Bedingungen für eine linke Regierung nicht geschaffen.
Am 18. Oktober trafen sich rund einhundert Abgeordnete des Deutschen Bundestages von SPD, LINKEN und Grünen, um die Chancen für ein Regierungsbündnis auf Bundesebene auszuloten. Dies war mehr als überfällig. Seit 2005 demotiviert die Behauptung, dass da partout nichts gehen könne. Die Suche nach linken Alternativen, die Hoffnung und Macht zusammenbringen, ist fast aufgegeben. Es herrschte die Position, sie seien eh nicht durchzusetzen. Wieso also nicht ein Bündnis der drei Parteien? Es scheint das Einfache, wenn auch vielleicht schwer zu realisieren: Man lotet das Gemeinsame aus, einigt sich über eine Liste von Projekten, die jeder favorisiert, neutralisiert die Felder, wo ein gemeinsamer Nenner nicht in Sicht ist, und entwickelt Vertrauen, das auch Härteproben besteht.
Die Öffnung der drei Parteien für eine ernsthafte Suche nach Kooperationsmöglichkeiten auf Bundesebene ist ein wichtiger Baustein, um die Blockaden für einen Richtungswechsel der Politik aufzubrechen. Die Gefahr aber ist sehr, sehr groß, dass zu kurz gesprungen wird – mit verheerenden Folgen. Man möchte mit Brecht sagen: „Wir wären gut, anstatt so roh,/ doch die Verhältnisse, die sind nicht so.“
Was nicht geht, scheint mehr oder weniger Konsens. Keine Beteiligung an einer Regierung die weitere Kriegseinsätze, Privatisierungen oder neuen Sozialabbau beschließt, auch nicht im Tausch gegen andere, positive Reformen. Doch was wären Mindestbedingungen als positiv durchzusetzende Elemente, die auch kommuniziert und getragen von gesellschaftlicher Partizipation und sozialen Bewegungen gemeinsam realisiert werden können? Welche positiven Elemente mit den real-existierenden Partnern wären zu realisieren, auf welche kann man sich einigen? Versuchen wir kurz die positiven Schnittmengen, statt der trennenden Punkte, auszuloten.
- Eine Initiative für Vielfalt und Hoffnung, die den Ausbau sozialer Infrastrukturen (Gesundheit, Bildung und Wohnen) „für alle“ und die Integration von Geflüchteten mit einer Umverteilung von Reichtum für eine sozial-ökologische Investitionsoffensive verbindet, die zugleich massenhaft neue Arbeitsplätze schafft. Fünf und mehr Prozent des Bruttosozialprodukts wären hier eine Orientierungsgröße. Das hieße auch ein „Ende der Schwarzen Null“ und die Besteuerung großer Einkommen und Vermögen. Die Grünen hatten entsprechende Vorstellungen entwickelt und nach der gescheiterten Wahl zunächst in den Giftschrank verbannt. Jetzt gibt es neue Vorschläge. Die SPD arbeitete im Stillen an einer „machbaren“ Vermögenssteuer – diese darf freilich nicht zu klein ausfallen, ist aber ein Ansatzpunkt.
- Auch auf europäischer Ebene ist eine Initiative für eine entsprechende Besteuerung von Vermögen, aber auch bestimmter Finanzgeschäfte gemeinsam denkbar. Zwischen dem gewerkschaftlichen „Marshall-Plan für Europa“, dem „Green New Deal“ der Grünen und der „Ausgleichsunion“ der LINKEN besten große Schnittmengen. Nicht zuletzt die seit langem versäumte Finanztransaktionssteuer kann – ironischerweise Dank des Brexit – leichter umgesetzt werden. Auch die Bekämpfung von Steuerparadiesen kann europäisch oder auch einseitig (vgl. USA) konsequenter angegangen werden. Schwieriger wird es bei der Problematik, den Exportüberschuss der deutschen Ökonomie von sechs oder sieben Prozent des Bruttosozialprodukts abzubauen, in Binneninvestitionen umzulenken bzw. mit einem solidarischen Ausgleich in der EU zu verbinden. Dies geht nicht ohne Einstieg in einen umfassenden Strukturwandel der deutschen Industrie und Wirtschaft als Teil des Wandels der ökonomischen Struktur in der EU.
- Gewisse Schnittmengen gibt es bei einer notwendigen Rentenreform zur Stabilisierung des Rentenniveaus und der Verhinderung von Kinder- sowie Altersarmut sowie der Abkehr von der privaten Vorsorge. Hartz-IV wird sicher nicht abgeschafft, aber Schritte hin zu einer armutsfesten und sanktionsfreie Grundsicherung und einer Mindestrente wären unverzichtbar. Auch eine Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen, die Stärkung der Tarifbindung, etwa durch Allgemeinverbindlichkeit und Tariftreue-Gesetz liegen im Bereich des gemeinsam Möglichen ebenso wie Maßnahmen gegen steigende Mieten und für mehr sozialen Wohnungsbau.
- Sicher wird es keinen Austritt aus der NATO geben und keinen sofortigen Stopp von Rüstungsexporten – aber durchaus denkbar ist ein Auslaufen der militärischen Auslandseinsätze, eine erkennbare Reduzierung von Rüstungsexporten und ein Ende von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete oder mittelbare Konfliktbeteiligte (z.B. Saudi Arabien). Stattdessen wären Gemeinsamkeiten bei der Stärkung des Vorrangs nicht-militärischer Konfliktbearbeitungen zu finden, bei Stärkung der Vermittlerrolle, Umleitung der militärischen Hilfe in nicht-militärische Aufbauhilfe (auch finanziell). Eine gemeinsame friedenspolitische Initiative wäre zu verbinden mit dem Ende einseitiger Wirtsschafts- und Handelsverträge, also nicht nur eine Absage an CETA, TTIP und TISA, sondern auch an die unzähligen Economic Partnership Agreements (EPAs).
- Und nicht zuletzt die Ausweitung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten auf allen Ebenen – das ist durchaus geteiltes Anliegen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Nuancen. Dies würde einschließen, dass der Staat (lokal, regional, bundesstaatlich, deutschlandweit und in der EU) wichtige Aufgaben der Planung und Investitionslenkung übernehmen müsste, z.B. bei der Konversion von Braunkohleregionen und gerechten Übergängen für Beschäftigte und Menschen vor Ort oder beim sozialökologischen Umbau der städtischen und ländlichen Räume, von der Mobilität bis zum Übergang zu einer organischen Landwirtschaft. Zentral ist dabei auch die Erleichterung und Förderung der Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Förderung genossenschaftlicher und solidarischer Ökonomien.
In all diesen Punkten gibt es durchaus programmatische Schnittmengen für gemeinsame Reformen. Doch in jedem dieser Punkte wird der Widerstand aus Wirtschaft, Medien und interessierten Kreisen enorm sein, auch aus dem Innern von SPD und Grünen. Auch die Vorstellung, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, wird im konkreten Politikbetrieb, der auf nationaler und europäischer Ebene noch um einiges härter geführt wird, schnell hintertrieben werden, nicht nur aus Profilierungsbedürfnissen heraus, sondern eben um die Konfrontation mit gewichtigen Interessen mit bestimmten Machtgruppen in der Gesellschaft wie auch innerhalb von SPD und Grünen abzuschwächen. Wir sehen dieses Minimalprogramm mit der real-existierenden SPD und Grünen gegenwärtig nicht für realisierbar an.
Die Linke wird unter enormen Druck kommen, Kröten zu schlucken, um einige der erwähnten Punkte zu realisieren. Dies erfordert mehr Rückgrat als die meisten besitzen, nämlich gegebenenfalls die Koalition oder eine Tolerierung aufzukündigen. Die Partei ist auf solche Zerreißproben nicht vorbereitet – auch das gesellschaftliche Umfeld der LINKEN nicht. Immer droht bei einer Regierungsbeteiligung der Verlust des Rückhalts aus der Gesellschaft, der außerparlamentarischen Unterstützung. Oft, fast immer steht die LINKE nach einer Regierungsbeteiligung deutlich schwächer da als zuvor, auch weil Regierung nicht genutzt wird, um die gesellschaftliche Basis der LINKEN zu erweitern.
Tolerierung und Arbeiten am Dritten Pol
Wenn es möglich ist, Regierungspolitik aus der Opposition spürbar zu beeinflussen, und wenn es unmöglich ist, eine linke Regierung zu bilden und einen Einstieg in den Richtungswechsel der Politik, wie in Punkt 5 dargestellt ist, umzusetzen, weil dafür die gesellschaftlichen wie politischen Kräfte und Bedingungen fehlen, dann verbietet sich eine Regierungsbeteiligung der Partei DIE LINKE auf Bundesebene. Alles andere wäre der Verzicht auf eine Realpolitik, die den Anspruch grundlegender Politikveränderung ernst nimmt. Illusionen zu haben und zu verbreiten – diesen Luxus kann sich die Linke nicht leisten.
Eine solche Position schließt ein, im Wahlkampf an SPD und Grüne die Frage zu stellen, ob sie nicht doch bereit sind, den Einstieg in einen Richtungswechsel zu wagen oder ob sie wirklich nur Modifikationen der jetzigen Politik umsetzen wollen. Es sind die ganz einfachen Fragen, die wir stellen sollten. Armutsfeste Renten: Ja oder nein? Austeritätspolitik: Ja oder nein? Umbau des Finanzsektors: Ja oder nein? Staatliche Investitionslenkung: Ja oder nein? Soziales und ökologisches Investitionsprogramm: Ja oder nein? Abkehr von der Dominanz des Exportmodells: Ja oder nein? Wirkliche Friedenspolitik: Ja oder nein?
Falls es parlamentarische Kräfteverhältnisse gibt, die auch eine SPD-geführte Minderheitsregierung erlauben würden, dann kann die Partei DIE LINKE das Angebot der Tolerierung machen. In früheren Zeiten war dies seitens der SPD immer abgelehnt worden. Ein solcher Weg wurde jüngst in Portugal gegangen. Dort gab es im europäischen Vergleich die größten Krisenprotesten, aber keine Verdichtung in neuen Organisationsformen, der Impuls der Bewegung drohte zu verpuffen. Die Bewegung fand in der Wahl eines von den Kommunisten geführten Bündnisses und des Linksblocks (8,27 bzw. 10,22 Prozent der abgegebenen Stimmen) einen vorübergehenden Ausdruck. Vor diesem Hintergrund bot im Oktober 2015 die Tolerierung einer Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei durch Kommunisten und Linksblock die Chance, eine Abschwächung der Austeritätspolitik einzuleiten. Dies wäre durchaus ein möglicher Weg für die Bundesrepublik Deutschland. Er wurde auch nach 2005 seitens der Partei DIE LINKE immer wieder ins Gespräch gebracht. Der Vorschlag, den jeweiligen SPD-Vorsitzenden mit Stimmen der Abgeordneten der Partei DIE LINKE als Kanzler zu wählen, gibt es schon lange. Wichtige Reformprojekte der Modifikation der jetzigen Politik könnten auf den Weg gebracht werden – bei Rente, Mindestlohn, Grundsicherung, Wohnen, Energiewende, mehr und bessere Modifikationen als bei Fortsetzung einer CDU-geführten Regierung – die Schnittmengen sind benannt. Auch bei einer Tolerierung werden die Mindestbedingungen und Maßnahmen in einer klaren Vereinbarung festgehalten. Anders als in einem Koalitionsvertrag ist die „Koalitionsdisziplin“ aber von vornherein eingeschränkt. Die LINKE müsste sich nicht in Ministerial- und Verwaltungsapparaten verheddern, die sie nicht kontrollieren kann, hätte keine MinisterInnen, die das Wenige oder auch negative Entscheidungen und Rückschritt noch als Erfolg darstellen müssen. Stattdessen könnte sie sich auf die Ausarbeitung von vereinbarten Gesetzes- und Reforminitiativen im Parlament und in der gesellschaftlichen Debatte konzentrieren, ohne Unterordnung von Partei und Parlamentsfraktion unter die Regierungslogik. Die eigene Initiative wäre dabei öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen (statt nur Vorschläge der Regierung zu diskutieren). Die Partei DIE LINKE könnte ihre Funktion, parteipolitisch den Richtungswechsel einzufordern und zugleich das Mögliche in Gestalt von wirksamer Opposition oder eben hoffentlich noch wirksamerer Tolerierung zu erreichen, weiter ausbauen.
Und vielleicht entstehen auf dem Wege einer gelingenden Tolerierung auch die Bedingungen für eine wirklich linke Regierung in Deutschland, getragen von gesellschaftlicher Partizipation und mit sozialen Bewegungen gemeinsam. Dann könnte auf der Basis starker gesellschaftlicher Kräfte, einer Spaltung der herrschenden Eliten und handlungsfähiger linker Akteure tatsächlich eine dezidiert linke Regierung im Powerzentrum der Europäischen Union möglich werden und die Ansätze, die vorher entwickelt wurden, umfassend durchsetzen:
- Es wäre eine Regierung, die ein Ende der Austeritätspolitik in der EU und in Deutschland durchsetzt und große Projekte der solidarischen Integration der EU befördert. Dazu bedarf es auch der Bereitschaft, selektiv mit den Regeln der EU und der Währungsunion zu brechen und neue Regeln durchzusetzen. Die Anhäufung großer Vermögen muss in einer solchen Situation drastisch besteuert werden. Dies verlangt umfassende Maßnahmen der Kapitalkontrolle.
- Es wäre eine Regierung, die energische Schritte einleitet, das Finanzsystem konsequent der Gesellschaft und einer neuen Ausrichtung der Wirtschaft unterzuordnen. Der Finanzsektor muss deutlich schrumpfen. Die Grundsicherung für Gesundheit, Pflege und Alter muss alleinig auf dem Umlageverfahren basieren. Der öffentliche Bankensektor muss gestärkt und ausgebaut werden, auch durch Privilegierung gegenüber dem Privatsektor. Das hat Vorrang vor dem EU-Wettbewerbsrecht. Systemisch relevante Banken, die zu groß wären, um sie im Falle des Konkurses bankrott gehen zu lassen, werden aufgespalten. Solange es noch Steuerparadiese gibt, wird der Kapitalverkehr mit ihnen mit Strafsteuern belegt.
- Es wäre eine Regierung, die ein umfassendes soziales und ökologisches Investitionsprogramm auflegt, dessen Größenordnung bei fünf und mehr Prozent des Bruttosozialprodukts liegen muss. Nur so können Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheit und Pflege, eine armutsfeste sanktionsfreie Grundsicherung und die Verhinderung von Kinder- sowie Altersarmut, eine schnelle demokratische Energiewende, die ökologische Sanierung des Wohnungs- und Gebäudebestandes, der Übergang zu einer ökologischen Mobilität sowie eine solidarische Außenpolitik gelingen. Der sozialökologische Umbau der städtischen und ländlichen Räume steht an, der Übergang zu einer organischen Landwirtschaft. Die öffentliche Daseinsvorsorge gehört wieder in die öffentliche Hand.
- Es wäre eine Regierung, in der der Staat (lokal, regional, deutschlandweit und in der EU) wichtige Aufgaben der Planung und Investitionslenkung übernimmt. Eine linke Regierung wäre deshalb auch eine Regierung des Staatsumbaus.
- Es wäre eine Regierung, die den Exportüberschuss von sechs bis sieben Prozent des Bruttosozialprodukts zum größeren Teil in Binneninvestitionen umgelenkt und mit einem solidarischen Ausgleich in der EU verbindet. Dies verlangt nicht weniger als einen umfassenden Strukturwandel der deutschen Industrie und Wirtschaft als Teil des Wandels der volkswirtschaftlichen Struktur in der EU.
- Es wäre eine Regierung, die die internationale Verantwortung für eine globale Politik der Gerechtigkeit, des ökologischen Umbaus und der Friedenssicherung wirklich ernst nimmt, gerade und vor allem in Osteuropa, Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten. Kriegseinsätze und Rüstungsexporte an militärisch Konfliktbeteiligte müssen unter einer solchen Regierung ein Ende finden. Die Rüstungsindustrie muss schrumpfen auf jene Leistungen, die für die Landesverteidigung notwendig sind.
Noch sind die Bedingungen für diesen Richtungswechsel nicht entstanden. Dass das hier für die heutige Situation favorisierte Tolerierungsmodell nicht wahrscheinlich ist, liegt vor allem daran, dass die elementarsten Ansätze des dafür notwendigen politischen Muts bei der SPD und den Grünen fehlen, jenes Muts, der auch die Mindestbedingung wäre, um ernsthaft mit beiden über eine Regierungsbeteiligung der Partei DIE LINKE zu reden und einen Richtungswechsel einzuleiten. Aber auch in der Gesellschaft sind die Bedingungen dafür nicht gegeben. Eine gemeinsame Regierung von SPD, Grünen und Linken können sich nur ein Drittel der Bürger*innen als positive Alternative vorstellen. Auch die herrschenden Eliten sind in dieser Frage keinesfalls gespalten und würden einer solchen Politik uneingeschränkten Widerstand entgegensetzen. Demgegenüber würde rückwirkend die Ablehnung der Politik Oskar Lafontaines als Finanzminister 1998/9 als ein laues Lüftchen erscheinen. Und in der EU ist die neoliberale Politik längst noch nicht so geschwächt, wie sie es sein müsste, um eine Wende einzuleiten.
Der Vorschlag der Tolerierung sollte mit allem Ernst vorgebracht werden. Er wäre das bestmögliche Szenario. Er könnte deutlich machen, was eigentlich auch heute schon möglich ist. Wir bringen diese Dritte Option ins Spiel, da sich die Debatte wie uns scheint, ohne Klärung eines eigenen Projekts, ohne nüchterne Betrachtung des gesellschaftlichen und politischen Feldes sowie der potenziellen Koalitionspartner in den Zuschreibungen „grimmige Opposition“ und „machthungrige Regierungsbeteiligung“ verhakt. Opposition hieße, wenn es schlecht läuft, eine schwarz-grüne oder schwarz-rote Koalition an der Regierung. Eine Tolerierung ermöglicht es die genannten Schnittmengen mit SPD und Grünen – sofern diese wirklich dazu gewillt sind – in entsprechende Reformen zu gießen, ohne das enge Korsett einer direkten Regierungsbeteiligung, die die LINKE spaltet und gesellschaftlich schwächt. In jedem Fall sollte die Mitgliedschaft (nicht nur ein Parteitag) über den Eintritt in eine Regierung, eine Tolerierung oder Opposition beschließen.
Auf der einen Seite sollte also intensiv das Gespräch mit SPD und Grünen geführt werden, was jetzt sofort gemacht werden kann. Und auf der anderen Seite und mindestens genauso wichtig kommt es darauf an, im Gespräch mit all jenen in der Gesellschaft zu sein, die wissen, dass es um einen fundamentalen Richtungswechsel der Wirtschafts- und Sozialpolitik geht, um eine andere Produktions- und Lebensweise, um eine Wende bei der Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Weltinnenpolitik geht. Wir müssen mit ihnen eine Agenda für einen solchen Richtungswechsel erarbeiten, offensiv diskutieren und damit – offensichtlich weit über 2017 hinaus – die Bedingungen für eine dezidiert linke Regierung in Deutschland schaffen.
Die Bedingungen für einen solchen Richtungswechsel und eine linke Regierung gibt es nicht. Sie müssen erst entstehen. Die Aufhebung der Gesprächsblockaden zwischen SPD, Grünen und LINKEN sind dafür ein unverzichtbarer Schritt. Aber zumindest jetzt würde aus den Schnittmengen nicht mehr als eine Mitte-Links-Regierung auf gegebener Basis der Regeln des gemäßigten Neoliberalismus entstehen können. Die Erfüllung der offensiven Doppelaufgabe – weitere Beeinflussung der Regierungspolitik von links und Arbeit an einem Richtungswechsel – würde unmöglich. Deswegen steht unseres Erachtens nicht die Frage einer Regierungsbeteiligung der Partei DIE LINKE auf Bundesebene auf der Tagesordnung, sondern der Kampf um einen Richtungswechsel der Politik durch gesellschaftliche wie parlamentarische Opposition oder – gegebenenfalls – Tolerierung einer Mitte-Links-Regierung.
Erstveröffentlichung in LUXEMBURG
Wir danken für die Genehmigung zur Veröffentlichung
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