Aus den Widersprüchen unserer Zeit Hoffnung schöpfen - trotz alledem!
14.01.2025: "Ein orientierendes, inspirierendes und aufklärerisches Buch - inspirierend und aufklärerisch für all diejenigen, die sich nicht mit der aktuellen Krisen- und Kriegsdynamik zufrieden geben wollen", so Ulrike Eifler zu dem Buch "Meuterei - wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät" von Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit.
Im Oktober 2024 erschien im Brumaire Verlag ein erstaunliches Buch: "Meuterei - wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät". Der Autor, Peter Mertens, ist Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit (PTB - Parti du Travail de Belgique/ PvdA - Partij van de Arbeit van België). Das Buch seziert klug und faktenreich die aktuelle weltweite Krisensituation, hilft, die komplexen Entwicklungen zu verstehen, fragt nach den darin enthaltenden Widersprüchen und erzeugt daraus eine Perspektive der Veränderung.
Anklage der Verhältnisse
Mertens beschreibt in "Meuterei" die komplexen und vielfältigen Krisenauswirkungen unserer Zeit: Die große Verteilungsungerechtigkeit, zu der die zunehmende Armut der Vielen ebenso gehört wie der absurde Reichtum der Wenigen. Explodierende Mieten auf den Wohnungsmärkten, die immer mehr Menschen unter Druck setzen, ein Zuhause zu finden. Himmelsschreiende Arbeitsbedingungen weltweit und das fortwährende Risiko der Beschäftigten, weiter in die Armut abzurutschen. Steigende Lebensmittelpreise und obszöne Lebensmittelspekulationen. Zunehmende Energiearmut und explodierende Profite der Energieunternehmen. Die beschämenden Folgen der jahrzehntelangen Privatisierungen unserer Daseinsvorsorge. Der drohende Klimakollaps. Die wachsende Kriegsgefahr. Mertens beleuchtet die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die arbeitenden Klassen ebenso wie den enormen Anteil, den die nicht arbeitenden, herrschenden Klassen an dieser Entwicklung haben. Die umfassende Beschreibung von Ungerechtigkeit, Krise und Krieg wird dabei zu einer schonungslosen Anklage gesellschaftlichen Verhältnisse.
Peter Mertens, Generalsekretär der belgischen Partei der Arbeit (PvdA/PTB)
Doch der Fokus des Buches liegt nicht allein auf der Beschreibung der seit langem bekannten Verwüstungen, sondern auf der Analyse der Dinge, die sich verändern. So ist eine der zentralen Thesen des Buches, dass der Neoliberalismus, der fast fünf Jahrzehnte die nationalen und internationalen Beziehungen deformierte, nun in einer Krise der inneren Widersprüche feststeckt. Mertens wirft einen Blick auf die Corona-Pandemie, die dazu geführt hatte, dass die EU ihre strengen Haushalts- und Schuldenstandards (den sogenannten Wachstums- und Stabilitätspakt) für drei Jahre aussetzen musste. Er verweist darauf, dass die unveränderte Wiedereinführung dieser strengen Vorschriften zu einem beispiellosen Rückgang der öffentlichen Ausgaben führen würde. Gleichzeitig warten riesige Herausforderungen. 430 Milliarden Euro wären für das Erreichen des europäischen Klimaziels notwendig - pro Jahr. Der Grad der öffentlichen Investitionen in Energie, Verkehr, Glasfasernetze, Wohnungsbau und Infrastruktur bestimmen über die Zukunft des Kontinents. Doch insbesondere Deutschland ist mit einer harten Haushaltspolitik in der EU tonangebend dafür, dass die Mitgliedstaaten auf eine Flut neuer Einsparungen zusteuern. Treiber dieser Einsparungen sind vor allem die Pläne zum Ausbau des europäischen militärisch-industriellen Komplexes: Blinde Kürzungen und steigende Militärausgaben gehen Hand in Hand. "Es scheint, das sich die Eurokrise von 2011 wiederholen wird. Aber jetzt, in einer Zeit des Krieges, der sozialen Unruhen und der Polarisierung, wird es schlimmer", resümiert der Autor.
Geopolitische Analyse
Die große Stärke des Buches ist sein fortwährender Anspruch, dem Leser zu helfen, die komplexen Mechanismen zu verstehen, die zu diesen Entwicklungen führen und uns immer tiefer in die Krisensituation aus Armut, Klimakrise und Atomkrieg hineinmanövrieren. Mertens argumentiert, dass sich die Weltbeziehungen zwischen dem globalen Süden und dem Norden verschieben. Dabei spielt der ökonomische und politische Aufstieg Chinas eine wesentliche Rolle. Nicht zuletzt der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO - World Trade Organisation) 2001 hat die rasche Entwicklung neuer Industriezweige in China vorangetrieben. Um die globale Krise von 2008 zu überwinden, investierte Peking in den letzten Jahren massiv in Infrastruktur und Produktion. Und zum Ärger der USA ist China inzwischen längst nicht mehr die verlängerte Werkbank der Welt, sondern produziert Technologien und High-End-Produkte. Während sich die US-Wirtschaft mit dem Rückgang der Industrie zunehmend finanzialisierte, setzte China auf Industrialisierung - und das industrielle Zentrum der Welt verlagerte sich allmählich nach Südostasien.
Inmitten dieser Gemengelage versuchen die USA, sich mit allen Mitteln als Weltmacht zu behaupten. So gelang es beispielsweise Joe Biden nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine massiven Druck für eine Gaswende in Europa zu machen. Die Sanktionspolitik löste den großen europäischen Markt von billigem Pipelinegas aus Russland und band ihn an das amerikanische, dreckige und teure Schiefergas, das sich bis dato nur schwer verkaufen lies. Ein Schritt, der innerhalb nur weniger Monate die Position der europäischen Industrie enorm schwächte und die der USA stärkte. Flankiert wird diese Entwicklung von der gezielten Strategie der USA, europäische Industrie insbesondere in den Bereichen Autobatterien, Windräder, Solarzellen und Halbleiter abzuwerben. Die hohen Energiepreise und ein umfangreiches Förderprogramm mit üppigen Subventionen - der Inflation Reduction Act - schaffen dafür die Bedingungen. Ein Ende des Neoliberalismus ist das allerdings nicht, urteilt Mertens, sondern der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Dabei werde den geopolitischen Machtinteressen Vorrang vor den Rezepten des Marktfundamentalismus gegeben: "Wir treten in eine neue Phase ein, für die es noch keinen treffenden Namen gibt. Aber sie wird stark von der wachsenden Realität mit dem aufstrebenden China geprägt sein."
Weltbeziehungen verschieben sich
Die Welt wird zusätzlich geprägt von einem neuen Protektionismus. Einfuhrzölle und scharfe Sanktionen der USA sollen den US-Markt schützen und die technologische und wirtschaftliche Entwicklung Chinas ausbremsen. Dabei wächst die Gefahr, dass die ökonomische Konkurrenz in militärische Konkurrenz umschlägt. Rohstoffe wie Lithium, Kobalt, Nickel und Graphit sind für den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Produktion unverzichtbar. Inzwischen werden aber mehr als vier Fünftel der kritischen Mineralien von einem einzigen Land verarbeitet: China. Die Batterieproduktion wird zum Schlachtfeld und verschärft den Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden. Indonesien, Simbabwe, Namibia, Chile, Brasilien und Bolivien wehren sich bereits gegen die fortgesetzte Ausplünderung ihrer Rohstoffe durch die USA. Fünf Bruchpunkte der jüngsten Geschichte haben dieses neue Selbstbewusstsein des Südens und seine Bereitschaft, die Vormachtstellung der USA in Frage zu stellen, auf den Weg gebracht: der illegale Irakkrieg von 2003, die globale Finanzkrise von 2008, der Klimagipfel von 2009, die Pandemie von 2020 und seit 2022 der Ukraine-Krieg. Diese fünf Schlüsselmomente zeigten: "Washington ist verwundbar geworden, und immer mehr Länder machen sich auf die Suche nach Alternativen", schreibt Mertens.
Diese ökonomischen Veränderungen sind die materielle Basis für die Verschiebungen der Beziehungen für den globalen Norden und Süden. 2023 überstieg zum ersten Mal seit Jahrhunderten der Anteil des Globalen Südens am weltweiten Bruttoinlandsprodukt den der Länder des Nordens. Gemessen am Anteil der Weltwirtschaft wurden die G7 von den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, China, Indien, Südafrika) überholt. Dass inzwischen weitere Staaten der BRICS-Gemeinschaft beigetreten sind und 40 weitere Länder ihr Interesse an einer Zusammenarbeit bekundet haben, zeigt, dass die Süd-Süd-Zusammenarbeit zunimmt. Die Länder des Südens lassen sich nicht mehr disziplinieren, sondern stellen ihre nationalen Interessen in den Vordergrund - wie etwa die Gewährleistung von Energie- und Lebensmittelimporten. Im Zuge dieser Entwicklung entstehen neue globale Beziehungen, die sich in den internationalen Institutionen - weder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, noch im Internationalen Währungsfonds bislang widerspiegeln.
Meuterei als Ehrentitel
Angesichts dieser Entwicklungen spricht Fiona Hill, die ehemalige Mitarbeiterin des Nationalen Sicherheitsrates, von einer "Meuterei", von einer "offenen Rebellion", von einer "Revolte des Rests gegen die Vereinigten Staaten". Mertens schlägt vor, diesen Begriff wie eine Art "Ehrentitel" anzunehmen und dabei das dialektische Verhältnis sehr unterschiedlicher Meutereien nicht zu übersehen: Denn während beispielsweise die indische Regierung gegen die gegenwärtige Weltordnung rebelliert (Meuterei eins), erheben sich indische Bauern, Frauen, Arbeiter und Minderheiten gegen die reaktionäre Regierung von Narendra Modi (Meuterei zwei). Mertens spricht von einer "doppelten Meuterei." Einerseits ist der Globale Süden gegen den Norden in Aufruhr. Andererseits wächst der Druck in den Ländern des Südens selbst. Es gebe "Volksbewegungen, die versuchen, eine progressive Agenda durchzusetzen. Sie tun dies jeweils in ihrem eigenen Kontext: von der Bewegung der landlosen Bauern MST in Brasilien über die große Frauenbewegung AIDWA in Indien bis hin zum Kampf der Metallarbeitergewerkschaft NUMSA in Südafrika. Es ist die Meuterei unter Deck. Sie verschafft sich lautstark Gehör für demokratische Rechte, eine Landreform und gut bezahlte Arbeit. Gleichzeitig ist das ein Kampf für Freiheit, gegen reaktionäre und diktatorische Regime."
Für Mertens sind all das Symptome für eine untergehende Welt. Viele Menschen wollen einfache Dinge wie ein angemessenes Einkommen, gesundes Essen, ein Dach über dem Kopf oder bezahlbare Energie, argumentiert er. Dafür schließen sie sich zusammen und stehen auf. "Solange es Unterdrückung und Ungerechtigkeit gibt, wird es auch Widerstand geben", mahnt er und hält uns an, in den Widersprüchen unserer Zeit zu denken. "Wir stehen an einem Scheideweg in einer polarisierten Welt, die jederzeit in alle Richtungen kippen kann. Die Ungeheuer sind nie weit weg. Hoffnung ist nur ein Wort, man muss daran arbeiten. Indem wir den Menschen helfen, aufrecht zu stehen, ihre Stimme zu erheben und sich zusammenzuschließen, sich zu bilden und zu handeln."
Ein Buch aus einer starken linken Partei
Der Generalsekretär der PTB legt mit "Meuterei" ein orientierendes, inspirierendes und aufklärerisches Buch vor - inspirierend und aufklärerisch für all diejenigen, die sich nicht mit der aktuellen Krisen- und Kriegsdynamik zufrieden geben wollen. Wenn der Kapitalismus nicht zum Ende des Planeten führen soll, dann darf er nicht das Ende der Geschichte sein. Das Buch will ermutigen und bestärken und ist daher bemüht, in verständlicher Sprache, mit vielen Anekdoten und guten Argumenten die komplexem Zusammenhänge weltweiter Veränderungen zu erklären.
Nicht zufällig kommt ein Buch mit derartiger Analysekraft und Klarheit ausgerechnet aus der PTB. Die Partei gehört zu den wenigen stabilen europäischen Linksparteien der Gegenwart. Mertens benennt drei Dinge, die das Fundament der Linken ausmachen müssen, um in den Stürmen unserer Zeit bestehen und ihre Segel setzen zu können: Selbstbewusstsein, Klasse und Internationalismus.
In seinem Vorwort führt er das aus. Gegenwärtig sei das Hauptproblem in Europa nicht der Rechtsextremismus, sondern sein Spiegelbild: das mangelnde Selbstbewusstsein der Linken. Statt sich in eine kollektive Depression hineinzureden, müsse die Linke es wieder wagen, aus der Stärke ihrer Überzeugung heraus zu sprechen. Sie muss dies mit der Gewissheit tun, dass die Klasse der Lohnabhängigen das Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen sein müsse und daher die Perspektive entwickeln, die Einheit der Klasse stärken zu wollen. Dabei muss sie sich einen internationalistischen Blick bewahren, denn es sei die alte Weltordnung, die unter Gewalt und Krieg zu zerbrechen beginne.
"Die linke Bewegung", so Mertens, "muss von der Stärke ihrer Überzeugungen ausgehen, ein unverhohlenes Selbstbewusstsein aufbauen, sich stolz auf die Arbeiterklasse stützen und eine internationalistische Perspektive der Befreiung verfolgen."
Ein großes, ein wegweisendes Buch, das dazu befähigt, sich mutig mit den Widersprüchen unserer Zeit auseinanderzusetzen.
txt: Ulrike Eifler
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft in der Partei Die Linke und Mitglied im Parteivorstand.
Peter Mertens – Meuterei: Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät
Im Jahr 1768 legten in Sunderland massenhaft Seeleute ihre Arbeit nieder. Sie forderten bessere Arbeitsbedingungen und strichen demonstrativ die Segel. Vom englischen »striking the sails« leitet sich unser heutiges Wort »Streik« ab. Die Zeitgenossen hingegen sprachen von einer »Meuterei«.
Seitdem hat der Kampf für soziale Gerechtigkeit Höhen und Tiefen durchlaufen. Heute, da sich unsere Weltordnung im Umbruch befindet, lebt er in verschiedenen Gestalten und an weit entfernten Orten wieder auf.
Peter Mertens lässt in seinem Buch die Kämpfenden zu Wort kommen und bietet so einen neuen Blickwinkel auf unsere Gegenwart. Es handelt davon, wie unsere jetzige Weltordnung ins Kippen gerät: Im Globalen Süden entstehen mächtige Akteure, die den Alleinherrschaftsanspruch des Nordens infrage stellen. Zugleich entsteht auch eine Macht von unten, mit sozialen Bewegungen, die versuchen, in den Staaten eine progressive Agenda durchzusetzen. Im Mittelpunkt steht dabei die Hoffnung, dass die Meuterer des Nordens und die Meuterer des Südens einander die Hände reichen – für eine echte demokratische, soziale und ökologische Wende.
Verlag Brumaire Verlag, 2024
Übersetzung aus dem Niederländischen
284 Seiten, Paperback
ISBN: 978-3-948608-55-2
19,00 € inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten
Reinlesen: Zum Vorwort
https://flipbooklets.com/pdfflipbooklets/peter-mertens-meuterei-vorwort#page1
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