27.01.2021: Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Seit 1996 ist dieses Datum ein gesetzlich verankerter Gedenktag, an dem der Millionen Opfer des Faschismus gedacht wird. Unlängst ist ein Buch erschienen, dass das Schicksal von KZ-Häftlingen in den Januartagen in Norddeutschland anhand von neun Biografien eindrucksvoll schildert.
Zum Hintergrund: In den Monaten vor Kriegsende 1945 verschärften die Nazis noch einmal ihren Massenterror gegen ihre Gegner. Im Januar 1945 wurden die Gestapoleitstellen angewiesen, in Vorbeugung "umstürzlerischer Betätigung" vor allem inhaftierte Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen sowie ausländische Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangene zu eliminieren.
Gleichzeitig wurden Zehntausende KZ-Häftlinge auf "Todesmärsche" geschickt. Oft von einem KZ- Lager zum anderen, immer weiter Richtung Westen, tiefer in Reichsgebiete, die Hitlers Schergen noch geblieben waren, um zu verhindern, dass sie von den Alliierten befreit würden.
Waren Anfang 1945 noch 700.000 KZ-Häftlinge am Leben, so waren es vier Monate später höchstens noch 500.000. Mindestens ein Drittel dieser Menschen hatten in dieser kurzen Zeitspanne in überfüllten Konzentrationslagern und auf Todesmärschen den Tod gefunden.
Einer dieser Todesmärsche führte von Hamburg nach Kiel. Ab dem 12. April 1945 wurden etwa 800 Gefangene vom Gefängnis/KZ Hamburg-Fuhlsbüttel in mehreren Gruppen in viertägigen Fußmärschen zu dem mehr als 80 Kilometer entfernten, von den Nazis "Arbeitserziehungslager Nordmark" genannten KZ, im Kieler Stadtteil Russee getrieben.
Dieser "Todesmarsch" ist Gegenstand eines aktuell erschienen Buches, herausgegeben von einer Hamburger Gruppe, die sich 2015 gebildet hatte, um Biografien von Marschteilnehmer*innen zu erarbeiten. Die Biografiegruppe pflegt Kontakt zu Angehörigen von Teilnehmer*innen des Todesmarsches und hat in Zusammenarbeit mit dem "Schleswig-Holsteinischen Heimatbund" und dem "Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein" an fünf Orten entlang des "Todesmarsches" Gedenktafeln für die auf dem Marsch Ermordeten anbringen lassen.
In dem Buch werden neun Lebenswege von Menschen dargestellt, die im April 1945 den Todesmarsch von Hamburg nach Kiel mitmachen mussten. Die Beiträge sind von verschiedenen Autor*innen erstellt worden, die sich intensiv mit der Verfolgungs- und Familiengeschichte der Opfer beschäftigt haben.
Dazu enthält der Band einen Beitrag, der den Todesmarsch zeitlich rekonstruiert sowie eine Liste mit den Namen von bislang 235 namentlich bekannten Teilnehmer*innen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther hat dem Buch ein Geleitwort vorangestellt.
"Alle Häftlinge, die zurück bleiben oder Fluchtversuche machen, sind zu erschießen!"
Mit den Räumungstransport von HH-Fuhlsbüttel nach Kiel verfolgten SS und Polizei das Ziel, dass die Gefangenen nicht den Armeen der heranrückenden Alliierten übergeben werden; ihre Arbeitskraft sollte bis zum offenkundigen bitteren Ende weiter ausgenutzt werden. Dass dieser Räumungstransport zu einem Todesmarsch wurden, lag an der Brutalität der Aufseher und an ihrer Absicht, Spuren und Zeugen zu beseitigen. Dass hinter der Kolonne zurückbleibende, aus der Kolonne ausscherende oder fliehende Häftlinge erschossen wurden, ist typisch für die Räumungstransporte reichsweit und kennzeichnete auch den Marsch von Hamburg nach Kiel.
An dem Marsch nahmen die unterschiedlichsten Gefangenen teil, das spiegeln die neun Biografien des Buches wider. Eine große Gruppe waren deutsche Juden und Jüdinnen, die im Herbst 1941 nach Riga verschleppt worden waren und jahrelang tödliche Gewalt, Selektionen und Zwangsarbeit überlebt hatten. Die zweite Gruppe bestand aus Widerstandskämpfer*innen, politisch Verfolgten sowie Menschen, die nicht systemkonform gehandelt und gedacht haben. Zu ihnen gehörten Wübbo Sielmann, der sich jahrelang in der Arbeiterbewegung engagiert hatte, Wilhelm Bornbusch, der zur Gruppe KdF ("Kampf dem Faschismus") gehörte, Joachim Scharlach, dem "staatsabträgliches Verhalten" vorgeworfen wurde, und Josef Tichý, bei dem ein unerlaubtes Kurzwellenvorsatzgerät gefunden worden war. Ein biografischer Sonderfall des Buches bildet Maurice Sachs Ettinghausen, der am 14. April während des Marschs von einem SS-Mann per Genickschuss erschossen wurde. Er war seit 1943 Gestapo-Spitzel, der die Aufgabe hatte, Kontakte zu intellektuellen Widerstandskreisen zu knüpfen.
Eine Teilnehmerin des Todesmarsches (Hilde Sherman) schildert:"Wir erreichten eine Stadt, Neumünster, die wir außen umgingen. Die Leute kamen aus den Häusern, um unseren Elendszug zu betrachten. Keiner sagte ein Wort. Kein Schimpfwort wurde laut, keine Verwünschungen wurden uns nachgerufen. Stumm sahen sie uns vorbeiwanken. Wir baten um Wasser, und im Handumdrehen standen volle Eimer und Töpfe mit Trinkbechern vor den Haustüren. Halbverdurstet stürzten wir uns auf diese Labe, als das Kommando ertönte :‘Zurück, sonst wird geschossen‘. Die SS hatte die Maschinenpistolen im Anschlag, die Finger an den Abzügen. Die SS stieß Eimer und Töpfe um, das Wasser floß auf die Straße. Dann geschah das Unbegreifliche: Die Leute am Straßenrand fingen an zu murren, erst leise, dann lauter. Schließlich ertönten Rufe: 'Verbrecher, Mörder, Schweinehunde!‘ Die SS traute ihren Ohren nicht. Hals über Kopf trieb sie uns weiter." (S. 35).
In Kiel-Russee angekommen ging das Leiden weiter. Das "Arbeitserziehungslager Nordmark" war nach Aussage der in diesem Buch wiedergegeben Stimmen das Schlimmste, was sie bisher erlebt hatten: Hunger, Enge, fehlende Sanitäreinrichtungen. Die Inhaftierten wurden u.a. zum Bunkerbau und zur Trümmerräumung in der Stadt eingesetzt, wo sie unter Lebensgefahr Blindgänger beseitigen mussten. Manche Häftlinge wurden durch die Gestapo an Kieler Privatfirmen vermietet. Fast täglich wurden Menschen vor den Augen der Lagerinsassen körperlich misshandelt, totgeprügelt oder erschossen. "Jeden Morgen wurden die schwächsten Häftlinge erschossen, unter ihnen blutjunge Burschen. Sie fielen vor ihren Henkern in die Knie und flehten um ihr Leben. Man hetzte Hunde auf sie, trieb sie unter Schlägen mit Gewehrkolben auf den Erschießungsplatz." (S. 22).
Im "Arbeitserziehungslager Nordmark", das im Juni 1944 errichtet worden war, wurden rund 5.000 Männer und Frauen inhaftiert. Mindestens 578 Gefangene starben an den Haftbedingungen oder wurden ermordet. Angesichts der herannahenden Alliierten ermordete die Gestapo in den letzten zwei Wochen vor Kriegsende etwa 300 Häftlinge.[1]
Das Buch ist ein Plädoyer dafür, die Erinnerung an die Zeit des Faschismus wach zu halten und Orte zu schaffen, diesem Erinnern auch Namen und Gesichter zu geben. So z.B. durch den Ausbau der Gedenkstätte "Arbeitserziehungslager Nordmark" in Kiel zu einer Gedenkstätte mit Dokumentenhaus, das Möglichkeiten der schulischen und außerschulischen Aufklärung dienen kann.
Ein wenig kurz kommt in dem besprochenen Buch die Einordnung der Hintergründe für die NS-Verbrechen kurz vor Kriegsende und deren mangelnde politische und juristische Aufarbeitung in der Bundesrepublik. Im Jahr 1945, mit dem Beginn des Kalten Krieges, verloren die britischen und us-amerikanischen Alliierten schnell das Interesse an einer Aburteilung der Täter. Ein erheblicher Teil der Gestapo-Beamten wurde später wieder Teil der westdeutschen Polizei oder kamen im Justizapparat oder in der Verwaltung unter.
txt: Günther Stamer
Dietlind Kautzky/Thomas Käpernick (Hrsg.).
Mein Schicksal ist nur eins von Abertausenden.
Der Todesmarsch von Hamburg nach Kiel 1945. Neun Biografien.
VSA-Verlag, Hamburg 2020. 192 Seiten, Hardcover, Fotos teilweise in Farbe, EUR 19.80
ISBN 978-3-96488-064-2
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Anmerkungen
[1] Dokumentation zum Gedenkort "Arbeitserziehungslager Nordmark"; hrsg. vom Arbeitskreis Asche-Prozess und dem Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (AKENS), Kiel 2003, S. 29