07.11.2015: Es ist an seinem 100. Todestag genauso wie zu seinem 150. Geburtstag vor 2 1/2 Jahren: Kaum einer wird Notiz von Paul Scheerbart und seinem vielschichtigen Werk nehmen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges schrieb seine Frau Anna an einen Freund: "Jetzt kommt dieser fürchterliche Krieg wieder – ich habe meine Not, den Paul - der fast täglich tobt, des Krieges wegen – ihn zu beschwichtigen." Als er 52jährig am 15. Oktober 1915 an Entkräftung starb, wurde sein Tod als Protesthaltung gegen den Krieg interpretiert, er habe "passive Resistenz durch Verweigerung jeder Nahrungsaufnahme" geleistet, so sein Freund Walter Mehring.
Und Erich Mühsam schreibt: „Das herrliche, mächtige, Leib und Seele erschütternde Lachen des einzigen großen Humoristen der modernen deutschen Literatur ist stumm geworden. (...) Die Zeit wird kommen, die Scheerbarts Lachen wieder lernen wird, das große und befreiende Lachen, das aus dem weiten glücklichen Weltall stammt, wo es keine Not und keine Kriege gibt. Es wird die Zeit sein, die auch Scheerbarts Bücher wieder drucken, lesen und mit ernstharter Heiterkeit genießen wird."
Schon zu Lebzeiten erschien Paul Scheerbart seinen Zeitgenossen als Bewohner eines anderen Planeten. Während seines kurzen Lebens blieb er ein unbekannter Autor – und er ist es bis heute geblieben. Schuld daran ist vielleicht der ironisch-satirische Stil seiner Geschichten und Theaterstücke und der Verpackung seiner Gesellschaftskritik in phantastisch-utopische oder märchenhafte Rahmenhandlungen. Orte der Handlungen sind häufig der Weltall, der Meeresgrund oder orientalisch wirkende Haine und Gärten.
Der 1863 in Danzig geborene Dichter, Theaterautor, Zeichner, Kunstkritiker, Utopist und Antimilitarist zu Auskünften über sich selbst befragt, nannte als seine schriftstellerischen Vorbilder den irische radikalen Gesellschaftskritiker Jonathan Swift (Gullivers Reisen), Clemens Brentano, Schöpfer romantischer Kunstmärchen und die arabische Erzählungssammlung Tausendundeine Nacht. Im Spannungsfeld dieser sehr unterschiedlichen literarischen Genres und Stile bewegt sich Scheerbart.
Was ihn von Anfang an zu einem Außenseiter im Literaturbetrieb um die Jahrhundertwende werden lässt, ist seine in vielen seiner Schriften deutlich erkennbare Kritik am militaristischen wilhelminischen Obrigkeitsstaat. So in der Erzählung Parademarsch (1898), in der er die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens im wilhelminischen Staat parodiert, die auch in der "militaristischen Ästhetik" ihren Ausdruck findet: in den Uniformen, der Marschmusik und den Paraden. 1909 veröffentlicht er die Flugschrift Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten. Hierin finden sich Aussagen von beängstigender Aktualität, wenn dort z.B. geschrieben steht: "...die Torpedos lassen sich auch auf unbemannte Gleitflieger legen, und diese lassen sich durch drahtlose Telegraphie lenken." - eine "phantastische "Vorwegnahme von moderner Kriegsführung mit Patriots und Drohnen.
Das Gegenbild dazu, ein Leben in Frieden und Solidarität, schuf er in seinem Roman Die große Revolution. Ein Mondroman (1902). Um ihr friedliches Leben auf Dauer zu sichern, wenden sich die Mondmenschen letzttlich für alle Zeit von der kriegerischen Erde ab, weil dessen Bevölkerung nicht imstande ist, "den blamablen Militarismus zu zerbrechen. Die Existenz dieser kostümierten Massenmörder ist uns ein Dorn im Auge". Eine 1903 gemeinsam mit Erich Mühsam geplante Wochenschrift "mit schroff antimilitaristischer Tendenz" kam wegen Finanzierungsproblemen nicht zustande.
Scheerbart versucht durch seine Texte den Menschen auf die „große, bunte Welt” aufmerksam zu machen, um gegen Kleinbürgerlichkeit und Arroganz zu kämpfen und Brüderlichkeit und Gemeinschaft zu beschwören. Seine Texte sind eine Herausforderung an den Leser, an einer besseren Zukunft mitzuarbeiten, denn wo die Phantasie noch aktiv ist, sind auch Verwandlung und Besserung zum Guten hin möglich. Scheerbart hatte dazu in seinen Romanen auch Zeichnungen beigesteuert, die Visionen einer Welt aus viel Glas, etwas Stahl und Beton und vor allem mit viel Farbe beschrieben. Diese Scheerbartsche transparente und schwebende „Glasarchitektur“ (als Gegensatz zu tristen Mietskasernen) wurde von einer Reihe fortschrittlicher Architekten Anfang der 20er Jahre aufgegriffen und ansatzweise in neuen städtebaulichen Konzepten versucht, umzusetzen.
Text: Günther Stamer