18.09.2015: "Griechenland braucht endlich eine Chance auf Wachstum und nicht neue Kredite, um alte Schulden bedienen zu können." Das sagt Giorgos Chondros, Mitglied im Syriza-Zentralkomitee und 'Kontaktmann' ins deutschsprachige Ausland. In seinem jetzt erschienen Buch "DIE WAHRHEIT ÜBER GRIECHENLAND, DIE EUROKRISE UND DIE ZUKUNFT EUROPAS" berichtet er aus erster Hand, was in den wochenlangen Verhandlungen mit der EU und der sogenannten Troika tatsächlich besprochen wurde und wie dabei gerade deutsche Medien eine Art Propagandakrieg gegen Griechenland und die Politik von Syriza führten. In einem eigenen Kapitel befasst er sich mit der Entwicklung und Perspektive von SYRIZA (Das Buch ist vor dem Rücktritt von Tsipras geschrieben worden.)
Ex-Finanzminister Efklidis Tsakalatos schreibt im Vorwort: "Und so präsentiert dieses Buch tatsächlich eine Art Zusammenschau der wesentlichen Themen, die sich während der Jahre der großen Krise in einem Teil der radikalen Linken in Griechenland entwickelt und die die Positionierung und das politische Verhalten von Syriza in entscheidendem Maße beeinflusst habe."
Wir veröffentlichen das Kapitel:
Nach der Niederlage: strategische Fragen
Und während es so aussieht, als wurde die Zeit der Regierungspartei und die politischen Entwicklungen nun nur noch heruntergezahlt, wurde in einer dramatischen Sitzung des Zentralkomitees von Syriza am 30. Juli ein ernsthafter – und wie sich erwies: vergeblicher – Versuch unternommen, einerseits die Spaltungsszenarien abzuwenden und andererseits Ziele für die nächste Zeit festzulegen. Mit großer Mehrheit wurde die Durchführung eines außerordentlichen Parteitages im September oder Oktober beschlossen, bei dem der Regierungsbericht und das Regierungshandeln im Einzelnen, aber auch die Verhandlungsergebnisse diskutiert werden sollen. Ebenfalls soll diskutiert werden, wie es geschehen konnte, dass wir uns entgegen den programmatischen Bindungen unseres Wahlprogramms, beispielsweise mit der Aussage: »Wir heben die Memoranden auf«, ein halbes Jahr nach der Wahl dem dritten Memorandum gefügt haben. Über diesen wichtigen Bericht hinaus muss auf diesem Parteitag unsere zukünftige Strategie für das Herauswinden aus den Memoranden und der Austeritätspolitik in Griechenland und in Europa skizziert werden. Aber die neugegründete Laiki Enotita ist dann eben nicht mehr vertreten.
Tsipras hat klargestellt, dass er den europäischen Weg des Landes innerhalb des Euro wünscht, doch auch über die abgespaltene Volkseinheit hinaus gibt es Mitglieder von Syriza, denen die Währung gleichgültig ist und die sich eine Rückkehr zur Drachme wünschen. Es handelt sich um eine sehr schwerwiegende strategische Differenz, die schon aus rein sachlichen Gründen unlösbar erscheint. Doch weil in der Demokratie die Alternativlosigkeit eine unbekannte Größe ist, ist die Wendung hin zu einem demokratischen Prozess innerhalb der Partei, bei einem Parteitag also, das Mittel der Wahl.
»Meine« Fraktion, die 53+, will noch einmal den Versuch unternehmen, weitere Spaltungen von der Partei abzuwenden, indem wir starken Druck auf die Tsipras-Führung ausüben, rasch die Diskussion in der Partei zu eröffnen und den Parteitag noch vor den jetzt für den 20. September angesetzten Neuwahlen durchzuführen. [1] [2]
Wie kann es weitergehen? Es ist klar, dass die »Gewissheiten« aus vergangenen Tagen nicht mehr tragen, dass wir uns der »richtigen« Frage annähern müssen, damit wir, so weit es möglich ist, die ebenso richtige passende Antwort finden können, wenn es sie überhaupt gibt. In diesen Rahmen lassen sich meine folgenden Gedanken, die in allernächster Zukunft beurteilt werden, einordnen, und die das Nachdenken darüber betreffen, ob Syriza, aber auch die alle europäischen für ein »anderes Europa« kämpfenden Kräfte, kollektiv bearbeitete Antworten geben werden, die gleichzeitig auch unseren Plan für eine Phase nach dem Memorandum umfassen.
Auch wenn Regierung und Partei nicht identisch sind, hat sich doch gezeigt, dass auch die Parteistrategie, die darauf abzielte, die Kürzungspolitik in nur einem Land unter Bedingungen eines Wirtschaftskrieges und widrigen Machtverhältnissen zu verändern, eine Niederlage erlitten hat. Als die Regierung vor das Dilemma »ungeordneter Bankrott oder Memorandum« gestellt wurde, war dies eine Realität, vor der unsere grundlegenden Positionen keinen Bestand haben konnten – Positionen, die darin bestehen, dass eine andere, alternative Wirtschaftspolitik im Rahmen der konkreten Eurozone möglich ist und dass die europäischen demokratischen Errungenschaften und Traditionen für den aktiven Respekt einer demokratischen Entscheidung eines Volkes ausreichend sind, so dass der wirtschaftliche Würgegriff und die Katastrophe eines ganzen Landes abgewendet werden.
Die griechische Regierung und Syriza ließen sich unter dem Druck der unmittelbaren und dringenden Bedürfnisse der Gesellschaft von einem politischen Voluntarismus hinreisen, der die tatsächlichen Kräfteverhältnisse ignorierte und nicht rechtzeitig wahrnahm, dass die Mächtigen Europas absolut entschlossen waren, die ökonomischen Kosten, egal wie hoch, zu zahlen (außerdem hatten sie einen Großteil davon bereits zurückgewonnen, wie die Studie des deutschen Leibniz-Instituts beweist, worauf ich noch zu sprechen komme), um ein Beispiel alternativer Politik mit gesamteuropäischer Ausstrahlung abzuwürgen. Darüber hinaus sieht es so aus, dass der in den letzten Jahren in der Eurozone stattgefundene Wandel möglicherweise unterschätzt wurde, denn einerseits war der finanzielle Schutzschild gegenüber den »griechischen Schulden« verstärkt worden und andererseits stellt der Grexit nur noch für einen Teil der europäischen Eliten eine Bedrohung dar, während er für einen anderen Teil eine ihrer programmatischen Aussagen ausmacht.
Unsere Strategie basierte auf der Annahme, dass wir unter den gegebenen Kräfteverhältnissen in der Eurozone einseitig die Austeritätspolitik wurden abschaffen können. Unsere Taktik basierte darauf, dass unsere Gegner (das ist meines Erachtens nach die richtige Formulierung, denn sie sind weder Partner noch Verbündete, sondern Klassenfeinde) es nicht wagen wurden, uns aus dem Euro zu werfen, weil sie dann ein Vielfaches draufzahlen wurden.
Sowohl strategisch als auch taktisch lagen wir falsch – es ist offensichtlich, dass wir die wirtschaftlichen Ausmaße dieser Politik unterschätzt haben. Hatten wir sie rein politisch oder politischer gesehen, dann hatten wir verstanden, dass Schäuble sich zwischen zwei Risiken entscheiden wurde, nämlich dem Risiko, dass die Eurozone einen enormen Schaden nehmen wurde, und dem Risiko, dass der Neoliberalismus politisch kollabieren und sich Europa so mit linken Regierungen »füllen« wurde. Es ist sicher, dass Schäuble angesichts eines solchen Dilemmas fur die erste Alternative optiert hatte. Des Weiteren schätzt der geistige Urheber des Grexit, der professorale Prediger Hans-Werner Sinn, der in keiner Talkshow in Sachen Griechenland fehlen darf, dass die Kosten für Deutschland bei rund 87 Mrd. Euro lagen, während, gemäß der Studie des Leibniz-Instituts, Deutschland bis heute mit 100 Mrd. Euro von der griechischen Krise profitierte. Ich komme noch einmal auf das Dilemma zurück, auf dessen Grundlage das Land erpressbar wurde: ungeordneter Staatsbankrott, der vor allem den sofortigem Verlust aller Bankeinlagen bedeutet hatte, oder Memorandum. Welches wäre die bessere Alternative gewesen? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass die Antwort nicht nur mich persönlich quält, sondern Tausende Mitglieder, Freunde und Unterstutzer von Syriza in Griechenland und in ganz Europa.
Meine persönliche Wahrnehmung ist die, dass wir am 12. Juli unter den Bedingungen eines knallharten ökonomischen »Putsches« gezwungen wurden, zum Abschluss einer Vereinbarung zu kommen, deren Umsetzung uns den Verbleib im Euro und der Europäischen Union »garantieren« wurde. Ist das tatsachlich unsere Perspektive oder mussten wir nicht doch kollektiv nach einem Entwurf für unser Herauswinden aus den Memoranden suchen, auch wenn sich daraus mit hoher Wahrscheinlichkeit der Bruch (mit der EU, der Eurozone etc.) ergibt?
Je mehr Tage und Wochen vorübergehen und je mehr Details aus dem Vereinbarungsdiktat bekannt werden, desto fraglicher wird es, ob eine griechische Regierung, gerade auch eine der Linken, in dem vorgegebenen Rahmen überhaupt eine unabhängige Politik unter klassenorientierten Vorzeichen machen kann. Die Dauerdrohung der Gläubiger-Partner, bestehend in der tröpfchenweise gewahrten Liquidität, aber auch in der Ablehnung der Besteuerung von Vermögen oberhalb von 500 000 Euro, zeigt, dass die Spielraume zur autonomen Formulierung und Umsetzung von Politik minimal bis nichtexistent sind. Gleichzeitig beobachten wir täglich, dass die privilegierten Beziehungen der Gläubiger zu den inländischen Eliten die Ausübung jedweder Politik mit einer Privilegierung der »da unten« noch weiter erschwert. Es sieht so aus, als ob #ThisIsACoup kein einmaliges und vorübergehendes Ereignis gewesen sei. Der Coup ist offenbar auf Dauer gestellt.
Gewiss wird die Diskussion um einen Schuldenschnitt wieder aufflackern, gewiss wird sie in absehbarer Zeit lauter werden und an Gewicht gewinnen, aber noch ist völlig offen, inwieweit unter dem katastrophalen Diktat der Memoranden überhaupt noch eine eigenständige Politik verfolgt werden kann.
In diesem Licht betrachtet, kann die Frage »Memorandum oder Zusammenbruch« letztlich nicht mit einem kurzen Spotlight beantwortet werden. Unausweichlich provoziert jeder Ansatz zu einer Antwort eine Reihe anderer, ebenso kritischer Fragen. Warum sollten wir beispielsweise annehmen, dass der Vertragsabschluss mit den unnachgiebigen Imperialisten uns auf lange Sicht vom Alptraum der Austerität, der Veräußerung des öffentlichen Vermögens und der Abschaffung jedes kollektiv formulierten Rechts erlöst? Ich verwende hier bewusst den Begriff »Imperialisten«, weil ich keinen großen Unterschied im Verhalten Schäubles und seiner Clique zu seinen historischen Gegenstücken aus dem 19. Jahrhundert erkennen kann. Warum sollten wir also, wenn wir diese in unterschiedlichen historischen Phasen wiederholten Verhaltensweisen berücksichtigen, so etwas denken?
In unsere Lage darf keine Wunschvorstellung mit der bittere Realität verwechselt werden. Ich glaube vielmehr, gerade wenn ich die Forderungen des deutschen Finanzministeriums verfolge, welches selbst noch die Vereinbarung vom 12. Juli in Frage stellt, dass solange die griechische Regierung das Diktat akzeptiert und versucht, die katastrophale Politik des dritten Memorandums in die Tat umzusetzen, sich solange auch der Appetit der Gläubiger vergrößern wird und sie immer weiter und auf immer mehr Anpassungsmaßnahmen bestehen werden – bis sich das Regime der Memoranden etabliert.
Doch die Transformation der Frage »Memorandum oder Katastrophe« zu »Befreiung unter hoher Wahrscheinlichkeit des radikalen Bruchs« ändert radikal auch die möglichen Antworten. Der zentrale Schwachpunkt der Strategie von Syriza war, dass es keinen echten Plan B gab, einen Plan zum Herauswinden aus dem erpresserischen Diktat »Memorandum oder Drachme«. Ich glaube nicht, dass dies nur auf die mangelnde Bereitschaft der Führung zurückzuführen ist, einen solchen Plan im Einzelnen auszuarbeiten. Ich weiß aber, dass es eine kollektive und mehrheitliche Position war, nicht über die Drachme zu diskutieren. Doch unsere Position »Kein Opfer für den Euro, keine Illusion für die Drachme!«, wurde von jedem seiner eigenen Sichtweise gemäß interpretiert.
So gab es erstens keine Antwort darauf, auf welche Weise die Gesellschaft, die nun schon seit fünf Jahren unter der Politik der inneren Abwertung leidet, nicht einer noch größeren Katastrophe unterworfen wird, allen voran die gesellschaftliche Schichten, die am meisten von der Krise getroffen sind. Offene Fragen wie ausreichende Nahrungsmittelversorgung, Zugang zu Medikamenten, Energie und die Garantie der Bankeinlagen waren nicht geklärt. Zweitens wurde, trotz aller unternommenen Bemühungen, keine ausreichende Politik zur Handels- oder Wirtschaftshilfe von Ländern außerhalb der Eurozone sichergestellt. Und drittens, was meiner Meinung nach am wichtigsten ist: Es gab keinen klassenorientierten Inhalt.
Logischerweise musste ein Plan zur Einführung einer nationalen Währung, um gegenüber anderen Währungen wettbewerbsfähig zu sein, die Produktionskosten nach unten schrauben, und zwar innerhalb eines Kontextes einer wettbewerbsorientierten Spirale der Ausbeutung der Beschäftigten verschiedener entsprechender Länder. Zudem darf die Tatsache nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Teile des inländischen Kapitals, die noch über ins Ausland transferierte Eurobestande verfügen, zu einem beachtlichen Vorteil gegenüber der »einfachen« Bevölkerung gekommen wären, weil sich eine bestimmte Parität gegenüber einer anderen nationalen Währung mit unüberschaubaren Folgen, besonders hinsichtlich der Werte, herausgebildet hätte.
Wenn also die Niederlage von Syriza und der Regierung kollektiv ist, verpflichten sie die Traditionen, die Existenz und das Handeln der Linken bis heute, und in erster Linie das besondere politische Gewicht von Syriza für die Linke in ganz Europa dazu, ihre Möglichkeiten und Plane zu prüfen, die von jetzt an folgen müssen, damit wir der Sackgasse der Memoranden entkommen. Wir brauchen dringend einen Plan, um das Herauswinden aus den Memoranden und aus der Vormundschaft, unter die das Land gestellt worden ist, zu organisieren. Das geht nur in enger Zusammenarbeit sowohl mit der großen Mehrheit der Bevölkerung – also mit denen, die bei dem Referendum so großartig mit oxi gestimmt haben – als auch mit der europäischen Linken und der Anti-Austeritäts-Bewegung.
Anmerkungen von kommunisten.de:
[1] Ein Artikel über diese Initiative der Tendenz 53+: http://www.balkaneu.com/group-53-syriza-calls-unity-congress/#sthash.QWnPXmuO.dpuf
[2] In der Anlage die Erklärung des Treffens der "53+" am 29./30.8.2015 in Athen
Die Wahrheit über Griechenland, die Eurokrise und die Zukunft Europas
Von: Chondros, Giorgos (Autor)
Westend Verlag, Frankfurt a. Main
240 Seiten
broschürt
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