04.07.2023: Dem Kurden Muhiddin Fidan aus Kassel droht nach 27 Jahren Aufenthalt in Deutschland die Abschiebung. Fidan ist Vater von fünf Kindern, die wie seine Frau die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Die geplante Abschiebung von Muhiddin Fidan ist ein sehr gefährlicher Präzedenzfall, kommentiert Kerem Schamberger. ++ Nachtrag 6.7.2023: Verwaltungsgericht verhindert die Abschiebung von Muhiddin Fidan
Dem Kurden Muhiddin Fidan aus Kassel droht nach 27 Jahren Aufenthalt in Deutschland die Abschiebung. Seit Freitag sitzt er in Darmstadt in Abschiebehaft. Seine Aufenthaltsgenehmigung war 2021 nicht verlängert worden. Jetzt soll der 40 Jahre alte Familienvater - seine Frau und seine fünf Kinder haben die deutsche Staatsbürgerschaft - in die Türkei abgeschoben werden. Dort drohen Fidan Gefängnis und Folter.
Die Ausländerbehörde der nordhessischen Großstadt wirft dem Kurden "Terrorismus" vor. Konkret geht es um die Mitgliedschaft in einem gemeinnützigen Kulturverein in Kassel, in dem Fidan sich um Integrationshilfe und kurdischen Volkstanz gekümmert hat, sowie um die Teilnahme an einer genehmigten Demonstration.
Ein gefährlicher Präzedenzfall, kommentiert Kerem Schamberger:
Muhiddin Fidan soll abgeschoben werden, obwohl seine Frau und seine Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Wie ist das also möglich?
Nicht nur hat Muhiddins ganze enge Familie (bis auf ihn selbst) die deutsche Staatsbürgerschaft, seine fünf Kinder sind auch erst zwischen 4-16 Jahre alt.
Wie kann es also sein, dass ein Familienvater aus Deutschland von seiner Familie getrennt und in den Folterstaat Türkei abgeschoben werden kann?
Begründet wird das mit §53 Abs. 1 & §54 Abs. 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes.
In §53 Abs. 1 steht: "(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt."
Das heißt übersetzt: Auch wenn Muhiddin ein "Interesse" daran hat, nicht in die Türkei und damit in Verfolgung, Haft, Folter abgeschoben zu werden, überwiegen in diesem Fall die "Interessen" des Staates, weil Muhiddin angeblich eine Gefährdung dieser "Interessen der Bundesrepublik Deutschland", der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" darstellt.
Muhiddin lebt seit 1996 in Deutschland, er ist als 13-Jähriger mit seiner kurdischen Familie aus der Türkei geflohen, er hat fünf Kinder und eine Frau. Es wird hier das Staatsinteresse gegen das "Interesse" Muhiddins bei seiner Familie, seinen minderjährigen Kindern und dem Ort, an dem er seit fast 30 Jahren lebt, bleiben zu können, gestellt. Das ist ein Unding und skandalös.
Was könnte an ihm also so gefährlich sein, dass die BRD ihn in die Türkei und damit wahrscheinlich in die Haft eines autokratischen Regimes abschieben will?
Hier kommt nun §54 Abs. 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes zum Wirken.
Zitat aus dem Gesetz: "(1) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat".
Und hier sind wir beim Grundproblem angelangt, das bei so vielen Kurd:innen zu Abschiebungen, Drohungen der Abschiebung oder Verweigerung des Rechts auf Asyl führt: dem PKK-Betätigungsverbot von November 1993, das sich dieses Jahr zum 30. Mal jährt.
Denn: das politische, legale Engagement von Muhiddin Fidan im kurdischen Gesellschaftszentrum Kassel, das ein eingetragener, legaler Verein ist, wird von den Behörden als "Terrorismusunterstützung" gesehen.
Muhiddin organisierte im kurdischen Verein Integrationshilfe, gab kurdische Tanzkurse, organisierte angemeldete Demonstrationen. Für das Ausländeramt ist das "Terrorismus".
Das ist zutiefst rassistisch, weil jegliches kurdisches Engagement als Unterstützung der PKK umgedeutet werden kann. Auch wenn man nur kurdische Folklorekurse organisiert. Denn all das könnte ja dem "Zusammenhalt der PKK" und damit dem "Terrorismus" dienen.
Und so sieht der deutsche Staat seine Interessen gefährdet, denn das AKP-Regime soll nicht verärgert, die Nato-Bündnistreue belohnt und deutsche Wirtschaftsinteressen nicht gefährdet werden.
Und dafür lässt man einen Kurden, der seit fast 30 Jahren in Kassel arbeitet und lebt, gerne mal über die Klinge springen. Kostet politisch ja nichts. Selbst wenn die Grünen Teil der hessischen Landesregierung sind. Bei Abschiebungen wird einfach mitgemacht. Und selbst der Petitionsausschuss im hessischen Landtag lehnt seinen Härtefallantrag ab.
Es ist wirklich unglaublich.
Und warum habe ich geschrieben, dass Muhiddins Fall so gefährlich ist?
Weil mit der Begründung, die Interessen des deutschen Staates seien wichtiger als die Interessen des Geflüchteten, jeglicher politischer Aktivismus und Dissenz seitens der Betroffenen verwendet werden kann, um eine Abschiebung zu rechtfertigen. Denn irgendwas kann immer die "Interessen des Staates" gefährden. Insbesondere kurdischer Aktivismus - und sei es auch nur Kulturarbeit -, weil dieser sofort im Bannstrahl des Terrorvorwurfes steht.
Umso wichtiger ist es, die drohende Abschiebung von Muhiddin Fidan mit allen Mitteln zu verhindern.
Helft beim Organisieren von Öffentlichkeit, sprecht euch bekannte PolitikerInnen und JournalistInnen an, koordiniert auch um die Abschiebung zu verhindern, folgt der Initiative für Muhiddins Freilassung. Es gibt mittlerweile auch eine eigene Website: https://freiheitfuermuhiddin.wordpress.com/
Die Abschiebung von Muhiddin Fidan muss gestoppt werden!
Nachtrag 6.7.2023: Verwaltungsgericht verhindert die Abschiebung von Muhiddin Fidan
Per Eilentscheidung hat das Verwaltungsgericht Kassel am Dienstagabend (4.7.) die Abschiebung von Muhiddin Fidan verhindert. Die Ausländerbehörde habe europäisches Recht missachtet, die Abschiebungsandrohung war "offensichtlich rechtswidrig" urteilte das Gericht. Das Gericht folgte der Argumentation von Fidans Rechtsanwalt, wonach die Abschiebung gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15. Februar dieses Jahres verstoße, wonach vor jeder Rückführung Kindeswohl, familiäre Bindung und Gesundheitszustand zu prüfen seien.
Genau diese Prüfung sei in dem Fall von Fidan nicht geschehen, begründete das Verwaltungsgericht. Der 40-Jährige kehrte noch am Abend heim zu seiner Frau und seinen fünf minderjährigen Kindern in Naumburg.