Walter Baier zur "Farbenrevolution" in Belarus
24.08.2020: Unfähigkeit, Widersprüche anzunehmen, ist verlässlichstes Zeichen der politischen Vergreisung. So der rechte Flügel der Sozialdemokratie, der am Ende des 19. Jahrhunderts an den automatischen Aufstieg zum Sozialismus glaubte und vom Ersten Weltkrieg überrascht wurde. So die kommunistische Weltbewegung, die sich in den 70er-Jahren auf der Siegerstraße wähnte und vom Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion kalt erwischt wurde.
Idealismus versus Realismus?
Dasselbe Bild heute in den linken Debatten zur Krise in Belarus. Die einen, die sich an den Tausenden berauschen, die gegen Wahlbetrug und Repression protestieren. Was nach dem Sturz des Despoten kommen soll, bleibt unbesprochen, wahrscheinlich, weil eh' alle wissen, dass die Agenda dafür bereits bereitliegt, nicht in Minsk, aber in Brüssel, Berlin oder Washington. Die anderen, die nicht das aufbegehrende Volk, sondern nur "eine imperialistische Verschwörung" sehen und auf die Gefahr einer weiteren militärischen Einkreisung Russlands aufmerksam machen. Stehen sich also libertäre Idealisten und außenpolitische Realisten gegenüber?
"Doch bisher haben die Arbeiter*innen nur allgemeine demokratische Forderungen vorgebracht, die im Einklang mit einem breiten liberalen Protest stehen. Die Proteste markierten eindeutig einen neuen Trend: traditionelle politische Parteien, ob links oder rechts, spielen bei diesem Protest praktisch keine Rolle. Die ideologische und praktische Einflussnahme wurde weitgehend von den Medien inspiriert, einschließlich der sozialen Medien. Wer starke Medien hat, dem gehört das Denken. Doch jetzt ist ein mächtiges Medium in den Händen derjenigen, die die liberale und nationalistische Agenda fördern. Und wenn die Arbeiter*innen in dieser Hinsicht indoktriniert sind, woher sollte dann eine klassenbewusste Arbeiterbewegung kommen?" Ksenia Kunitskaya: "In Belarus, the Left Is Fighting to Put Social Demands at the Heart of the Protests" https://jacobinmag.com/2020/08/belarus-protests-lukashenko-minsk |
Widerspruch in der Wirklichkeit.
Anstatt ideologische Kämpfe zu führen, sollte man den Widerspruch zur Kenntnis nehmen, der offensichtlich zwischen dem demokratischen Begehren und den ungeschriebenen Gesetzen der weltpolitischen Stabilität besteht. Ein Widerspruch, der nicht nur die Interpretation der Ereignisse betrifft, sondern in der Wirklichkeit existiert -- und der für die komplizierte Übergangszeit, in der wir leben, charakteristisch ist.
Worin besteht die Möglichkeit der Emanzipation, fragte Marx 1844 in seinem berühmten Text "Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie". Und er antwortet: Im Entstehen einer Klasse, die nicht nur im Gegensatz zu den bedrückenden politischen Formen, sondern auch zu ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen steht. Das heißt, einer politischen Bewegung, die ihre eigene Agenda im Kampf für Demokratie und soziale Gerechtigkeit aufstellt, vor allem aber auf den Verlauf der Ereignisse Einfluss ausübt, Das Problem, das wir als unseres wahrnehmen, kann nur in Belarus gelöst werden. Trotzdem gibt es eine internationale Dimension.
"Zu wünschen ist den Menschen in Belarus, dass es dazu kommt, dass sie in einer freien und fairen Wahl ihre*n Präsident*in selbst bestimmen können, ohne zum Spielball geostrategischer Interessen zu werden. Dass Belarus zukünftig durch eine sozialere Politik gekennzeichnet sein wird und der Lebensstandard der Bevölkerung steigen wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Im Falle des Sieges der Opposition ist eine wirtschaftsliberalere Politik zu erwarten. Die linken Kräfte in der Opposition, zum Beispiel die Partei «Gerechte Welt», die Mitglied der Europäischen Linken ist, sind derzeit zu marginal, um eigene politische Vorstellungen durchzusetzen. Sie beteiligen sich an den Protesten und einzelne Mitglieder wurden auch festgenommen. Derzeit fordern sie aber auch nur das Ende der Repression, Freiheit für alle politische Gefangenen und faire Wahlen, wie die gesamte Protestbewegung." Fabian Wisotzky: "Das Ende Lukaschenkos?" https://www.rosalux.de/news/id/42820/das-ende-lukaschenkos |
Was bietet die Linke, die im post-sowjetischen Raum noch eine politische Kraft darstellt? In einem Treffen der KP-Vorsitzenden aus Belarus, der Ukraine und der russischen Föderation warnte deren Vorsitzender, der Westen beabsichtige, die "russische Welt" zu zerstören. Doch das Phantasma der "russischen Welt" wärmt im Winter keine Wohnungen und ist auch kein Ersatz für demokratische Verhältnisse.
Richtig, die konfrontative Politik der NATO gegenüber Russland hat die Kriegsgefahr in Europa immens erhöht. Das heutige Russland hat ein Recht auf sichere Grenzen. Doch so ehrlich muss man sein: Auch die repressiven Regimes im post-sowjetischen Raum, die jene demokratischen Freiheiten, die anderswo von der sozialistischen Bewegung in schweren politischen Kämpfen vor und nach dem Ersten Weltkrieg erkämpft wurden, nicht gewähren, sind Faktoren der Instabilität. Frieden kann nicht auf dem Einfrieren der sozialen und politischen Konflikte gebaut werden. Gewiss, die sozialistische Linke muss sich gegen jede ausländische Einmischung in die politischen Prozesse dieser Länder wenden. Aber ich meine nicht, dass sie sich gegenüber den nachholenden, bürgerlichen Revolutionen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion konservativ verhalten kann. Despoten können nicht unsere Freunde sein.
Wir gehen auf bewegte Zeiten zu. Ein Schema für alle vergleichbaren Situationen gibt es nicht. Eigenes, den Widersprüchen Rechnung tragendes Denken ist gefragt.
À propos, "Farbenrevolutionen", Rot ist auch eine Farbe.
Walter Baier ist Koordinator des linken Netzwerkes »transform! Europe«.
zum Thema