Kommentar von Janis Ehling
08.12.2019: Der SPD-Parteitag stand unter dem Motto »Neue Zeit«. Eigentlich passend. Das Land befindet sich auf der Zielgeraden der schläfrigen Merkel-Ära. Das vorletzte Jahr der Groko ist dominiert von einer schwer greifbaren Unzufriedenheit, die den Wunsch nach Veränderung ausdrückt. Die Volksparteien schlittern gefühlt von einer Niederlage zur nächsten. Besonders die alte Dame SPD ist von den Wähler*innen gerupft worden wie ein Huhn.
Eine große Urwahl sollte der Partei wieder Leben einhauchen und es tat sich etwas: Mit der Wahl der Groko-Kritiker Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bekam das langjährige SPD-Establishment eine gewaltige Klatsche verpasst. Welche Richtungsentscheidungen hat die SPD in dieser politisch so heiklen Situation getroffen? Seit der Verkündung der Urwahlergebnisse Woche hatten die Gremien getagt und fieberhaft bis tief in die Nacht zum Freitag über dem Leitantrag und Personalvorschlägen gesessen.
Die erste große Ernüchterung
Mit großer Spannung wurden daher die Reden der Urwahlgewinner*innen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans erwartet. Saskia Esken redete zuerst. Sie hielt eine inhaltlich linke Rede, die das Publikum aber wenig mitriss. Ihrem Ko-Vorsitzenden Nowabo war es vorbehalten die großen Fragen zu klären. Etwas überraschend stellte er die internationale Politik mit scharfer Kritik an der Aufrüstung in den Mittelpunkt seiner Rede. Zum Ende seiner Rede verkündete er, dass in den Hinterzimmern ein gemeinsamer Leitantrag und Personalvorschlag ausgedealt wurde. Damit war die große Linkswende der SPD schon abgesagt, bevor sie begonnen hatte
Vor allem das Duell des linken Kevin Kühnert gegen den Kandidaten des Parteiestablishments Hubertus Heil elektrisierte im Vorfeld. Der Vorschlag der neuen Vorsitzenden sah jedoch eine Erweiterung auf fünf Stellvertreterplätze vor. Damit fielen die Kampfkandidaturen aus. Drei Parteirechte, unter anderem Klara Geywitz, Anke Rehlinger und Hubertus Heil sowie zwei Parteilinke Kevin Kühnert und Serpil Midyatli sollten Stellvertreter werden. Die restlichen vorderen Plätze blieben unverändert. Sie alle bekamen, wie die Vorsitzenden, ordentliche Ergebnisse.
Das Ende der Groko?
Die neuen Vorsitzenden sahen sich nach ihrer Nominierung einem teils absurden Dauerfeuer aus den Medien ausgesetzt. Der Spiegel verdammte die Urwahl-Entscheidung der SPD-Mitglieder als Populismus. Weithin wurden Saskia Esken und Nowabo als chancenlos und unfähig beschrieben. Dabei gehören die neuen Vorsitzenden eher zum wenig radikalen Mitte-Links-Lager ihrer Partei an. Diese Berichterstattung sagt mehr über den politischen Zustand der Medien aus als das neue Vorsitzendenduo. Doch das neue Duo steht tatsächlich vor einer Herkulesaufgabe: die Bundestagsfraktion, der Apparat und viele Landesverbände stehen gegen sie – auch wenn das nach der langen Urwahl niemand öffentlich sagen wollte. Doch der interne Druck auf die neuen Vorsitzenden und Kevin Kühnert war riesig. Daher standen Esken/Nowabo vor dem Parteitag vor der Entscheidung: Linkswende, Kampfansage und Abschied aus der Groko oder Kompromiss, Einbindung der Gegenseite und Verbleib in der Groko.
Unter dem gewaltigen Druck haben sie sich für den Kompromiss mit dem alten Parteiestablishment entschieden. Bei kritischen Tönen gegenüber der Groko bekannten sich beide zum Verbleib in der Groko. Ein entsprechender Gegenantrag des linken Flügels zum Ausstieg aus der Groko fand bei weitem keine Mehrheit. Dabei war das Duo Esken/Nowabo auch wegen seiner Groko-kritischen Töne gewählt worden. Deswegen enthielt der Leitantrag den Auftrag, mit dem Koalitionspartner über zusätzliche Impulse in vier Bereichen nachzuverhandeln: Ein Investitionsprogramm für die öffentliche Infrastruktur, weitere Klimaschutzmaßnahmen, die Weiterentwicklung des Sozialstaates mit einem Mindestlohn von zwölf Euro – "perspektivisch" - und eine "demokratische Digitalisierung”.
Dieser Kompromiss fand eine große Mehrheit. Wie ernst diese Forderungen gemeint sind, bleibt abzuwarten. Bekanntlich ist Papier geduldig. Der Ausstieg aus der Groko ist damit zwar nicht vom Tisch, aber sehr unwahrscheinlich geworden.
Linkswende beim neuen Vorstand?
Vor allem die nominelle Parteilinke um die Jusos und Kevin Kühnert sowie die Parlamentarische Linke, die linkeste der drei Lager in der SPD-Bundestagsfraktion, warben auf dem Parteitag für die Fortsetzung der Groko. Das schien Teil des Kompromisses zu sein. Beim Personal blieb weitgehend alles beim Alten – auch wenn es hier einige Aufregung gab. Die Parlamentarische Linke bekam einige Plätze, die sie aber vorher schon hatte. Lediglich einige Rechtsausleger wie Heiko Maas oder der Berliner Bürgermeister Michael Müller wurden abgestraft. [1]
Eine klare Linie gegen die Regierenden gab es aber nicht. Im Gegenteil: Die Parteilinken um das »Forum Demokratische Linke 21«, die sich gegen die Groko ausgesprochen haben, etwa die Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe sowie einige linke Jusos wurden genauso abgestraft wie die Wahlvorschläge der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen.[2]
Das Pro-Groko-Lager hat damit eine überwältigende Mehrheit im Vorstand. Während die aufrechten Linken, die auch um Bundestag immer mal wieder gegen ihre Fraktion gestimmt haben, schwach blieben, kann sich die moderate Parteilinke gegenüber den rechten Seeheimern gestärkt sehen.[3]
Linkswende, aber kein Abschied von Hartz IV
In vielen Wortbeiträgen der Delegierten gab es ein großes Bedürfnis nach Klarheit und Selbstvergewisserung. Die SPD ist augenblicklich eine tief verunsicherte Partei. Immer wieder wurde die linke Vergangenheit beschworen. Folglich korrigierte die SPD noch einige ihrer Positionen:
- Hartz IV soll künftig Bürgergeld heißen und einige der schlimmsten Regelungen sollen entschärft werden, etwa die Vollsanktionen für unter 25-jährige (Vollsanktion bedeutet Komplett der Unterstützung von Geld bis Miete). Auch andere Maßnahmen wie beim Arbeitslosengeld werden verbessert. Allerdings sollen die Hartz IV-Sanktionen im Rahmen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts bis zu 30% möglich bleiben. Am Hartz-System hält die SPD also weiter fest, trotz der Namensänderung.
- Die SPD will wieder eine Vermögenssteuer in Deutschland. So beschloss es der Parteitag am Sonntagmorgen. Das Kalkül: Eine Vermögensteuer von einem Prozent würde rund neun Milliarden Euro einbringen. Superreiche sollen zwischen 1,5 und zwei Prozent zahlen, hohe Freibeträge dafür sorgen, dass wirklich nur die Reichen zahlen.
- Rot-rot-grün wirkt über Berlin hinaus. Die SPD tritt für einen "Mietendeckel" in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt ein – fünf Jahre lang dürften dann die Mieten maximal in Höhe der Inflationsrate steigen. Zugleich soll der Schutz von Mieter*innen vor einer Kündigung, etwa bei Umwandlung in Eigentum, verstärkt werden. Mit einem Zehn-Jahres-Programm soll von 2021 bis 2030 der Bau von "mindestens 1,5 Millionen" bezahlbaren Wohnungen gefördert werden. Ziel ist, dass niemand mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens für die Miete ausgeben muss.
- Der neue SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans hatte in seiner Rede noch gefordert, die Schuldenbremse müsse überwunden werden, damit notwendige Zukunftsinvestitionen getätigt werden können. "Wir müssen die Ketten, die wir uns angelegt haben, auflösen", sagte Walter-Borjans. Am Ende stimmt der Parteitag mit großer Mehrheit aber nur für eine Kompromissformulierung, die lautet: "Wir wollen die Schuldenbremse in ihrer derzeitigen Form perspektivisch überwinden und Zukunftsinvestitionen ermöglichen."
- Auch in der Klimapolitik legt sich die SPD mit CDU und CSU an. Sie positioniert sich gegen feste Abstandsregeln für Windräder, für ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen und einen (möglichst) auf 2035 vorgezogenen Kohleausstieg.
Eine komplette Kehrtwende ist das nicht, aber ein Anfang. Sozial- und wirtschaftspolitisch entwickelt die SPD hier neue Konturen. Bislang bleiben das aber nur Akzentsetzungen bei vielen Formelkompromissen ohne neues Gesamtkonzept. Unklar bleibt nämlich, wie die guten Vorschläge in der Groko umgesetzt werden sollen.
Wie weiter?
Der große Aufstand gegen die Groko ist erstmal abgeblasen. Wahrscheinlich werden die Beschlüsse zu einigem Knirschen im Gebälk der Groko führen. Die Delegierten haben sich zumindest ein wenig von der Agenda2010-Generation in der Regierung emanzipiert. Zu mehr reichte es noch nicht. Das zeigt die Stärkung gerade der linken Flügelleute, die für ein »Weiter so« der Groko stehen.
Die SPD ist noch immer nicht bereit sich von den Fehlern der Vergangenheit wie Hartz IV loszusagen oder mutig in die Neue Zeit zu gegen. Von den Kompromissen des Parteitags hat bei den handfesten Entscheidungen eher das Parteiestablishment profitiert. Was von guten politischen Vorsätzen bleibt, wird das nächste Jahr zeigen.
Euphorie wird dieser Parteitag unter den Mitgliedern wahrscheinlich kaum entfachen. Dazu blieb der Aufbruch zu früh im Hinterzimmer stecken, aber vielleicht ist die Führung noch für eine Überraschung gut. Die Kompromisse dürften jedenfalls nicht ewig halten.
txt: Janis Ehling, marxistische linke
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[1] Heiko Maas wurden erst im zweiten Wahlgang gewählt. Ralf Stegner, der vormalige Stellvertretende Parteivorsitzende bekam ein derart schlechtes Ergebnis, so dass er für den zweiten Wahlgang nicht mehr antrat.
[2] Bei der SPD müssen Kandidat*innen für den Parteivorstand von großen Gliederungen nominiert. Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) ist sehr groß, vergleichsweise links und sammelt viele aktive Beschäftigte. Sie hatten Klaus Barthel und Cansel Kiziltepe nominiert.
[3] Das wurde bei den guten Ergebnissen der Kandidat*innen der »Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion«, allen voran ihrem Sprecher Matthias Miersch deutlich.