Kommentar von Tom Strohschneider
06.09.2018: Nachdem sich Bundesinnenminister Horst Seehofer zu den Vorfällen in Chemnitz lange nicht geäußert hatte, äußerte er nun Verständnis für die rechten Demonstrant*innen. Er habe Verständnis, wenn sich Leute empören, das mache sie noch lange nicht zu Nazis, so Seehofer lt. welt und ARD. "Die Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme in diesem Land", Seehofer weiter.
Tom Strohschneider kommentiert:
Ohne Migration hätten deutsche Autokonzerne nie einen groß angelegten Abgasbetrug gestartet. Ohne Migration würde niemand mit Wohnraum spekulieren. Ohne Migration hätte sich die Austeritätsideologie nicht durchgesetzt. Ohne Migration wären die öffentlichen Investitionen höher. Ohne Migration würden nicht so viele ICE-Züge in umgekehrter Wagenreihenfolge am geänderten Gleis einfahren. Ohne Migration würde die private Reichtumsmehrung nicht so horrende Ausmaße angenommen haben. Ohne Migration würde der Klimawandel keiner sein. Ohne Migration klemmt das Fahrradschloss nicht mehr.
Die »Mutter aller Probleme« ist eine interessante rhetorische Figur. Vor allem, wenn sie von einem Politiker zur Stillung seines richtungsorientierten Beifallbedürfnisses auf die Bühne geschoben wird, der zugleich Vertreter jener überkommenen Männlichkeits-Kultur ist, aus welcher die Herabwürdigungsparole »Mutti« stammt. Erinnern Sie sich an das Foto der obersten Ministeriumsriege nach Seehofers Amtsantritt? Wer von der »Mutter« spricht, denkt den »Vater« mit; wer der einen sprachlich die Herkunft der Probleme zuweist - sie gebiert sie sozusagen -, imaginiert den anderen als den Löser, von hier ist es zum Erlöser auch nicht mehr weit. Seehofers »Mutter der Probleme« spricht Merkel das »Wir schaffen das« auf einer geschlechtersymbolischen Ebene ab.
Was steckt noch in der Figur? Eine Naturalisierung von sozialen Zusammenhängen, in der die gesellschaftlichen Folgen, die sichtbaren Symptome, die sich aus den ökonomischen, sozialen Widersprüchen ergeben, zu deren Ursachen erklärt werden. Das Mobiltelefon, auf dem Seehofer jetzt die Reaktionen seiner »Mutter« mitliest, ist aus Rohstoffen gefertigt, deren zuvor nötige Ausbeutung irgendwo auf der Welt unter anderem das Land zerstört, das bisher vielen Menschen eine Subsistenzgrundlage war, die dadurch zu Flüchtlingen werden. Man könnte vieler solcher Ursachenketten aufzählen. Wer ist hier wessen »Mutter«?
Aber weil es so schön ist, einfach weiter: Ohne Migration wäre der Leitzins nicht so niedrig. Ohne Migration würde es kein Hartz-Regime geben. Ohne Migration gebe es längst eine Digitalsteuer auf plattformkapitalistische Profite. Ohne Migration wäre schon eine europäische Arbeitslosenversicherung eingeführt worden. Ohne Migration würden Zeitungen keine Auflagen verlieren, die sie nun mit Berichterstattung gegen Migration wieder zurückholen wollen. Ohne Migration wäre Horst Seehofer beliebter. Ohne Migration…
weiterer Kommentar von Tom Strohschneider auf kommunisten.de