27.03.2012: In den letzten Wochen streikten Hunderttausende Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes des Bundes und der Kommunen sowie der Telekom gegen die Blockadehaltung ihrer Arbeitgeber. Wegen tatsächlich oder vorgeblich leerer Kassen – Folge jahrzehntelanger Politik der Steuergeschenke an Millionäre und Milliardäre oder exorbitanter Dividendenzahlungen – wollen die verantwortlichen Politiker und Konzernmanager Millionen Beschäftigten nicht mal die Inflation ausgleichen. Ginge es nach der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker - Stiftung und drei von ihr beauftragten Professoren, würde jetzt das Arbeitskampfrecht für Millionen Beschäftigte noch weiter eingeschränkt, würden Tarifverhandlungen immer mehr zu kollektiver Bettelei verkommen.
Weil, so die Professoren, bei Streiks in der Daseinsvorsorge „Dritte geschädigt werden“, sollen Grundrechte von Millionen Beschäftigten beschnitten werden. Es gehe um medizinische und pflegerische Leistungen, Energie- und Wasserversorgung, Müllabfuhr, Verkehr, Erziehung und Betreuung, Kommunikationsinfrastruktur und Versorgung mit Bargeld und Zahlungsverkehr. Wenn entsprechende Einrichtungen privatisiert und teils an Heuschrecken verscherbelt wurden, hörte man solche Bedenken aus dem Unternehmerlager nicht. Künftig müssten Streiks zumindest vier Tage zuvor angekündigt werden. In der Praxis hieße das, dass in den meisten der genannten Bereiche der Streikbruch und das Unterlaufen des Streiks systematisch vorbereitet werden könnten durch Verlagerung von Arbeiten, Einstellen von Streikbrechern usw.
In gewerkschaftliche Rechte soll massiv eingegriffen werden. So sollen Urabstimmungen nicht mehr in Gewerkschaftssatzungen, sondern per Gesetz geregelt, eine Zwangsschlichtung eingeführt und Mindestquoren für den Anteil der Betroffenen in einem Betrieb oder in einer Branche festgelegt werden, die Voraussetzung für einen legalen Streik wären. Das geht noch über die erneut von den Unternehmern, der Bundesregierung und der SPD-Führung betriebene gesetzliche Regelung einer „Tarifeinheit 2.0“ hinaus.
Zur Begründung wurden u. a. Streiks kleiner Branchengewerkschaften wie jüngst auf dem Frankfurter Flughafen genannt, man empört sich über die angeblich zu große Macht von 200 Beschäftigten. Wann haben sich diese Herrschaften mal über die Macht von wenigen Kapitalisten beschwert, z. B. die Folgen der Macht der Familie Schlecker, die jetzt Tausende Beschäftigte durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu spüren bekommen? Oder über die Macht der Familien Piëch und Porsche im VW-Konzern, der Quandts bei BMW, den Familien Albrecht und Schwarz bei ALDI und LIDL u. a. m.?
Wie immer, wenn Gewerkschaften streiken und durch den Stopp der Mehrung der Profite etwas Gegenmacht gegen die strukturelle Übermacht des Kapitals aufbauen, entdecken die Claqueure des Kapitals das „Allgemeinwohl“. Dabei hängt das Wohl von rund 70 Millionen abhängig Beschäftigter mit Familien und Rentnerinnen und Rentnern ganz erheblich vom Erfolg oder Misserfolg gewerkschaftlicher Tarifpolitik ab. In dem Maß, wie auch durch die Hartz-Gesetzgebung die Kampfkraft der Gewerkschaften untergraben wurde, müssen immer mehr Menschen von Armutslöhnen leben, nahm Kinder- und Altersarmut zu. Tariflöhne setzen immer noch Maßstäbe, die sich sogar juristisch auf unorganisierte Betriebe und Beschäftigte auswirken. Aber das fällt bei einigen wohlbesoldeten Professoren mit gesichertem Pensionsanspruch wahrscheinlich nicht unter Allgemeinwohl.
Nicht genug mit diesem Versuch der weiteren Einschränkung des bundesdeutschen Arbeitskampfrechts, aus Brüssel droht auch für die Arbeiterklasse all jener Länder Gefahr, die sich ein demokratisches Streikrecht erkämpft hat. Der Entwurf einer nach dem gleichnamigen EU-Kommissar benannten „Monti-II Verordnung“ sieht bei grenzüberschreitenden Streiks künftig vor, dass diese von EU-Bürokraten auf ihre „Verhältnismäßigkeit“ überprüft werden können, ob das Mittel Streik geeignet sei, verhältnismäßig, notwendig usw. Gewerkschaften müssten, ähnlich wie in Deutschland, künftig mit Schadensersatzforderungen und ggf. dem Ruin ihrer Organisation rechnen. Wer die Machtverhältnisse in der EU kennt, vermutet möglicherweise nicht zu Unrecht auch den „langen Arm Berlins“ hinter diesem Vorhaben.
Die deutschen und europäischen Gewerkschaften sollten gewarnt sein. Was sich hier zusammenbraut, kann nicht nur Auswirkungen auf gewerkschaftliche Tarifpolitik haben, sondern auch die Abwehr von Angriffen auf gewerkschaftliche Rechte, wie z. B. durch die Sparpakete gegen die griechischen Werktätigen, erschweren. Dagegen muss Protest organisiert werden, die Verteidigung und der Ausbau des Streikrechts als Menschenrecht muss auch in der Vorbereitung des 1. Mai 2012 eine Rolle spielen. Am besten werden Rechte verteidigt, indem sie genutzt werden, z. B. in den Tarifrunden des Öffentlichen Dienstes, der Telekom und der Metall- und Elektroindustrie. Das diente auch dem Allgemeinwohl von neun Zehnteln der Menschen unseres Landes.
Gastkolumne von Volker Metzroth, Mitglied des Sekretariats des Parteivorstandes der DKP, verantwortlich für Betrieb und Gewerkschaft (Vorabdruck aus der UZ vom 30.03.2012)