04.09.2024: Der britische Ökonom Michael Roberts befasst sich in einem Artikel mit dem wachsenden Einfluss ultrarechter, nationalistischer Parteien und führt diesen auf die anhaltende wirtschaftliche Stagnation zurück.
Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hat die ultrarechte, euroskeptische, einwanderungsfeindliche und islamophobe AfD mit 32,8 Prozent (Thüringen) und 30,6, Prozent (Sachsen) den ersten bzw. zweiten Platz belegt. Die neue Partei "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) hat mit einer für Deutschland bisher erstmaligen Mischung von linker Sozial- und Friedenspolitk sowie einer rechten Einwanderungs- und Sicherheitspolitik ein Vakuum gefüllt und wurde auf Anhieb drittstärkste Kraft. Die Parteien der derzeitigen Bundesregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP wurden in diesen Bundesländern der ehemaligen DDR bis zur Nichtexistenz dezimiert.
Aber nicht nur in diesen Bundesländern bricht die sog. "Mitte“ der deutschen Politik zusammen. Die drei Parteien in der Regierungskoalition von Bundeskanzler Scholz haben ihren gemeinsamen Stimmenanteil von über 50 Prozent Ende 2021 auf weniger als ein Drittel reduziert.
Auch der Zuwachs für die ultrarechte AfD ist kein "ostdeutsches Phänomen". Nach der jüngsten Sonntagsumfrage zur Bundestagswahl vom 3. September liegt die AfD bei 17,6 Prozent. "Wenn die AfD in Hessen bei 18 oder NRW bei 14 Prozent steht, ist das nicht nur ein ostdeutsches Thema. Aber man kann sich im Westen bequem aus der eigenen Verantwortung ziehen, indem man auf den Osten schaut", sagt die Berliner Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, Julia Reuschenbach.
Der britische Ökonom Michael Roberts befasst sich in einem Artikel mit dem wachsenden Einfluss ultrarechter, nationalistischer Parteien und führt diesen auf die anhaltende wirtschaftliche Stagnation zurück. Die zum Teil selbstverschuldete Schwäche der Linksparteien – Zersplitterung, Distanzierung von der Friedensbewegung und zweideutige Positionen zu Waffenlieferungen in die Ukraine und zum völkermörderischen Vernichtungskrieg Israels gegen die Palästinenser, Entfremdung von der arbeitenden Klasse – werden von Roberts in diesem Artikel nicht thematisiert, obwohl dadurch der Raum für die Ultrarechten geöffnet wird.
Auszug aus dem Artikel "Deutschland: das Ende der EU-Hegemonie?" von Michael Roberts:
(...)
Das Phänomen der "populistischen" rechtsnationalen Parteien ist nicht auf Deutschland beschränkt. In Frankreich gibt es die Rassemblement National, im Vereinigten Königreich die Reformpartei und in Italien sind die Fratelli d'Italia an der Regierung. In der Tat gibt es in fast allen EU-Staaten reaktionäre Parteien, die etwa 10-15 % der Stimmen auf sich vereinen, wie die jüngsten Wahlen zur EU-Versammlung bestätigten.
Für mich ist all dies ein Produkt der langen Depression in den großen kapitalistischen Volkswirtschaften seit dem Ende der Großen Rezession von 2008-9, die die ärmsten und am wenigsten organisierten Mitglieder der Arbeiterklasse sowie kleine Unternehmen und Selbstständige getroffen hat. Sie suchen die Antwort im "Nationalismus" und glauben, dass die Ursachen für ihren Niedergang Einwanderer, Transferleistungen an andere EU-Länder und das Großkapital sind - in dieser Reihenfolge.
In Deutschland hat sich die Lage aufgrund der Nachwirkungen der Pandemie und des Ukraine-Krieges am meisten verschlechtert. Deutschland, das große Produktionszentrum Europas, ist seit der Pandemie zum Stillstand gekommen. Und mit ihr sind die Stimmen für die traditionellen Parteien eingebrochen.
Der Niedergang der deutschen Wirtschaft hat das grundlegende Problem eines "dualen Arbeitsmarktes" mit einer ganzen Schicht von Teilzeit-Leiharbeitern für die deutsche Wirtschaft zu sehr niedrigen Löhnen offengelegt. Etwa ein Viertel der deutschen Arbeiter erhält heute einen "Niedriglohn", der nach der gängigen Definition weniger als zwei Drittel des Medianlohns beträgt, und hat damit einen höheren Anteil als in allen Ländern der EU-17 mit Ausnahme Litauens. Diese billigen Arbeitskräfte, die sich in Ostdeutschland konzentrieren, stehen in direkter Konkurrenz zu den großen Zahlen von Flüchtlingen, die in den letzten zwei Jahren angekommen sind. Deshalb denken viele ostdeutsche Wähler, dass das Problem die Zuwanderung ist.
Dahinter verbirgt sich jedoch die Verschlechterung der deutschen Wirtschaft, von der vor allem der Osten betroffen ist.
Deutschland ist der bevölkerungsreichste Staat der EU und ihr wirtschaftliches Kraftzentrum mit einem Anteil von über 20 % am BIP des Blocks. Das verarbeitende Gewerbe macht immer noch 23 % der deutschen Wirtschaft aus, verglichen mit 12 % in den USA und 10 % im Vereinigten Königreich. Und in der verarbeitenden Industrie sind 19 % der deutschen Arbeitskräfte beschäftigt, gegenüber 10 % in den USA und 9 % im Vereinigten Königreich.
Doch diese größte europäische Volkswirtschaft befindet sich in einer Rezession. Das reale BIP ist im zweiten Quartal 2024 um 0,1 % gegenüber dem ersten Quartal 2024 und um den gleichen Betrag gegenüber dem zweiten Quartal 2023 gesunken. Tatsächlich ist das reale BIP in Deutschland seit fünf aufeinanderfolgenden Quartalen nicht mehr gewachsen und hat in den letzten vier Jahren tatsächlich stagniert.
Die deutsche Regierung hat sich sklavisch an die Politik des westlichen NATO-Bündnisses gehalten und ihre Abhängigkeit von billiger Energie aus Russland beendet - ja sie hat sogar die Sprengung der lebenswichtigen Nordstream-Gaspipeline mitgemacht. Die Energiekosten für die deutschen Haushalte sind in die Höhe geschossen.
Tatsächlich liegen die Reallöhne in Deutschland immer noch unter dem Niveau vor der Pandemie, so wie in vielen anderen EU-Ländern auch.
Noch wichtiger für das deutsche Kapital sind jedoch die steigenden Energiekosten für die Hersteller. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) kommentiert: "Die hohen Energiepreise beeinträchtigen auch die Investitionstätigkeit der Unternehmen und damit ihre Innovationsfähigkeit. Mehr als ein Drittel der Industrieunternehmen gibt an, dass sie aufgrund der hohen Energiepreise derzeit weniger in betriebliche Kernprozesse investieren können. Ein Viertel gibt an, sich mit weniger Mitteln für den Klimaschutz engagieren zu können, und ein Fünftel der Industrieunternehmen muss Investitionen in Forschung und Innovation aufschieben." "Neben den geplanten Produktionsverlagerungen ist dies eine weitere akute Bedrohung für den Industriestandort Deutschland", warnt Achim Dercks (DIHK). "Wenn die Unternehmen selbst nicht mehr in ihre Kernprozesse investieren, kommt dies einer schleichenden Demontage gleich."
Im vergangenen Sommer rechnete der IWF vor, dass diese steigenden Kosten das potenzielle Wirtschaftswachstum in Deutschland um bis zu 1,25 % pro Jahr verringern würden, "je nach dem endgültigen Ausmaß des Energiepreisschocks und dem Ausmaß, in dem eine erhöhte Energieeffizienz ihn abmildern kann".
In den letzten drei Jahren ist das verarbeitende Gewerbe eingebrochen.
Auch der Aufschwung der Rentabilität des deutschen Kapitals seit der Einführung des Euro, die Verlagerung von Industriekapazitäten in den Osten der EU und die niedrigen Löhne für einen großen Teil der dortigen Arbeitskräfte sind vorbei. Die Rentabilität des deutschen Kapitals begann in der Großen Rezession und während der langen Depression der 2010er Jahre zu sinken. Der größte Einbruch erfolgte jedoch während der Pandemie, und die Rentabilität befindet sich nun auf einem historischen Tiefstand.
Noch schlimmer ist, dass die Profitmasse ebenfalls zu sinken beginnt, da die steigenden Produktionskosten (Energie, Transport, Komponenten) die Einnahmen auffressen. Und wenn die Gesamtgewinne sinken, werden ein Einbruch der Investitionen und eine Rezession folgen. Die Bruttokapitalbildung (ein Indikator für Investitionen) ist rückläufig.
Damit komme ich zu den Argumenten der keynesianischen Ökonomen, die den Niedergang Deutschlands auf einen Mangel an Verbrauchernachfrage und "Überkapazitäten" in der Produktion zurückführen. Es wird argumentiert, dass Deutschlands großer Handelsüberschuss (Exporte über Importe) ein "Ungleichgewicht" in der Wirtschaft zeigt, das durch eine Steigerung des Konsums behoben werden sollte.
Dies ist jedoch Unsinn. Betrachtet man die Komponenten des realen deutschen BIP seit Beginn des Pandemieeinbruchs im Jahr 2020, so stellt man fest, dass der Einbruch in Deutschland nicht auf einen Einbruch des Konsums (um 1 %), sondern der Investitionen zurückzuführen ist. Sinkende Rentabilität und Gewinne führten zu sinkenden Investitionen (minus 7 %).
Auch überschwemmt" Deutschland die Welt nicht mit seinen Exporten. Der Handelsbilanzüberschuss mit dem Rest der Welt ist mit 20 Mrd. E pro Jahr so gut wie unverändert wie in den Jahren der 2010er Jahre.
Die Warenexporte stagnieren mehr oder weniger; es sind die Importe, die nach der Pandemie zurückgingen, da die deutschen Hersteller ihre Produktion und den Einsatz von Rohstoffen und Komponenten drosselten.
Während der Pandemie stiegen die Staatsausgaben stark an, um die Auswirkungen der Arbeitsplatz- und Lohnverluste abzumildern. Doch als die Pandemie vorbei war, ergriff die Regierungskoalition Sparmaßnahmen, angeblich um die Vorgaben der EU-Kommission und des Grundgesetzes einzuhalten, wonach der Staat "nur so viel Geld ausgeben darf, wie er einnimmt".
Die Regierung fror ihre Pläne zur Klima- und Modernisierungsfinanzierung ein und stopfte mit Sparmaßnahmen ein 17-Milliarden-Euro-Loch" im Haushalt. Dazu gehörte auch die Streichung einer Dieselsubvention für landwirtschaftliche Fahrzeuge, was wütende Proteste der Landwirte auslöste. Traktoren stürmten Städte und blockierten mehrere Autobahnkreuze. Die Beeinträchtigungen für Millionen von Pendlern wurden durch einen Streik der Lokführer im zerfallenden privatisierten Bahnsystem noch verschlimmert.
Zu allem Überfluss beharrt Finanzminister Christian Lindner, Vorsitzender der kleinen neoliberalen FDP, auf Kürzungen bei den Sozialausgaben (die vor allem die Menschen in Ostdeutschland treffen). Lindner will die Staatsausgaben um bis zu 50 Milliarden Euro kürzen!
All dies zeigt, dass selbst der deutsche Kapitalismus, die erfolgreichste fortgeschrittene kapitalistische Wirtschaft in Europa, sich den spaltenden Kräften der langen Depression nicht entziehen kann. Aber es zeigt auch, dass die sklavische Befolgung der Interessen des US-Imperialismus durch die deutsche Regierungskoalition im Namen der "westlichen Demokratie" in Bezug auf die Ukraine und Israel die Hegemonie des deutschen Kapitals und den Lebensstandard seiner ärmsten Bürger zerstört.
Kein Wunder, dass die Stimmen des Nationalismus und der Reaktion immer lauter werden.
Quelle: https://thenextrecession.wordpress.com/2024/09/01/germany-the-end-of-eu-hegemony/
eigene Übersetzung