15.02.2024: Sicherung der Kaufkraft: Dieses Ziel wurde in der Tarifrunde 2023 knapp erreicht. Die Folgen der hohen Inflation der Vorjahre sind dennoch weiter stark zu spüren: Die realen Tariflöhne liegen aktuell nur auf dem Niveau von 2016. Somit steht 2024 wieder eine offensive Tarifrunde an.
Das Jahr 2023 war ein tarifpolitisch kämpferisches Jahr. Für die Gewerkschaften hatte die Sicherung der Kaufkraft die Top-Priorität der Tarifrunde 2023, zumal die Tarifbeschäftigten bereits in den Jahren 2021 und 2022 erhebliche Kaufkraftverluste hinnehmen mussten. Trotzdem gelang es nicht, die tariflichen Reallöhne zu sichern. Zu diesem Ergebnis kommt das WSI-Tarifarchiv in seinem Tarifpolitischen Jahresbericht 2023 [1].
Reale Tariflöhne auf Stand von 2016
Die Tarifabschlüsse des vergangenen Jahres sind hinter dem Preisanstieg zurückgeblieben. Das belegen allein schon die nominalen Zahlen. Im Durchschnitt aller Branchen stiegen die Nominallöhne um 5,5 Prozent. Das liegt zwar deutlich über den Steigerungen der letzten beiden Jahrzehnte mit nominalen Tariflohnzuwächsen von lediglich 1,5 bis 3,1 Prozent, aber der Preisanstieg betrug knapp 6 Prozent. Damit blieben die tariflichen Reallohnsteigerungen hinter der Preisentwicklung um 0,4 Prozentpunkte zurück.
Nur in den Fällen, in denen es steuer- und sozialversicherungsfreie Inflationsausgleichsprämien in Form von Einmalzahlungen gab, konnte die hohe Inflationsrate ausgeglichen werden. Diese Einmalzahlungen bedeuten für die Beschäftigten, im Vergleich zu einer regulären Tariferhöhung, einen höheren Nettolohn und für die Unternehmen aufgrund des Wegfalls der Sozialabgaben niedrigere Kosten. Die Sozialversicherungen gehen leer aus.
Die Bundesregierung hatte bereits im Oktober 2022 eine Regelung getroffen, wonach Unternehmen ihren Beschäftigten bis Ende 2024 einen Betrag von bis zu 3.000 € auszahlen können, für den weder Steuern noch Sozialabgaben gezahlt werden müssen.
Innerhalb der Gewerkschaften wurde die Inflationsausgleichsprämie zunächst kontrovers diskutiert. Einerseits bieten sie den Beschäftigten eine hochgradig attraktive Einmalzahlung, um kurzfristig aktuelle Preissteigerungen zu kompensieren. Andererseits verringern sie jedoch die tabellenwirksamen Lohnerhöhungen, was für die Beschäftigten langfristig zu einem entsprechend niedrigeren Entgelt führt
Im Ergebnis wurden dann in fast allen größeren Branchen diese Inflationsausgleichsprämien vereinbart. Je nach Tarifbereich variieren die Inflationsausgleichsprämien zwischen 1.000 und 3.000 € und werden über einen Zeitraum von zwei Jahren in mehreren Tranchen oder auch als monatliche Zusatzzahlungen ausgezahlt.
Insgesamt liegt die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten jedoch immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Während die Tariflöhne real in den 2000er Jahren weitgehend stagnierten, erlebten sie in den 2010er Jahren wieder einen kontinuierlichen Anstieg und erreichten im Jahr 2020 ihren bisherigen Höhepunkt. In den Jahren 2021 und 2022 sind die Tariflöhne preisbereinigt wieder stark zurückgegangen und liegen heute auf dem Niveau des Jahres 2016.
So viel Dividende wie nie zuvor: Börse: 54,6 Milliarden Euro für Dax-Aktionäre erwartet
Im Unterschied zu den Beschäftigten werden die Einkommen der Spitzenmanager und der Aktionär:innen von der Inflation kaum berührt. Die Aktionär:innen deutscher Top-Konzerne dürfen nach Berechnungen der Dekabank für das Geschäftsjahr 2023 mit einer Rekordsumme an Dividenden rechnen. Die 40 Unternehmen im Deutschen Aktienindex werden demnach zusammen rund 54,6 Milliarden Euro an die Anteilseigner ausschütten. Damit wird der Vorjahreswert im Dax um etwa 1,6 Milliarden Euro übertroffen.
Auch im MDax wird mehr Dividende erwartet: Die 50 gelisteten Unternehmen werden den Berechnungen zufolge für 2023 insgesamt rund 7,1 Milliarden Euro Dividende zahlen und damit gut sieben Prozent mehr als für das vorherige Geschäftsjahr.
Widersprüchliche Rahmenbedingungen der Tarifrunde 2023
Die ökonomischen Rahmenbedingungen des Jahres 2023 hätten sich insgesamt recht widersprüchlich und je nach Branche sehr unterschiedlich auf die Verhandlungsposition der Tarifvertragsparteien ausgewirkt, schreibt das WSI.
"Mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von minus 0,3 % stagnierte die deutsche Wirtschaft, wofür vor allem der durch die Reallohnverluste bedingte Rückgang des privaten Konsums, der Rückgang des Staatskonsums sowie eine restriktive Geldpolitik verantwortlich waren. Hinzu kam ein starker Einbruch insbesondere bei energieintensiven Industrien. All diese Faktoren belasteten den Arbeitsmarkt und stärkten damit die Verhandlungsposition der Arbeitgeber.
Auf der anderen Seite führt ein zunehmender Arbeits- und Fachkräftemangel dazu, dass in immer mehr Branchen Arbeitskräfte gesucht werden. Dies gilt für Branchen wie z. B. das Sozial- und Gesundheitswesen, das Handwerk, das Gastgewerbe, das Verkehrsgewerbe oder auch für den Öffentlichen Dienst. Der Fachkräftemangel stärkt die Verhandlungsposition der Gewerkschaften und führt in Teilen der Wirtschaft zu einer neuen Arbeitnehmermacht."[1]
Streikrekorde
Die Lohnverluste der zurückliegenden Jahre und die "neue Arbeitnehmermacht" unterstützten eine besonders offensive Tarifrunde mit zahlreichen Streiks und einer hohen Beteiligung der Beschäftigten. Bei der Gewerkschaft ver.di haben nach eigenen Angaben im Jahr 2023 140 Streiks stattgefunden, an denen sich mehr als 300.000 Gewerkschaftsmitglieder beteiligt haben. Die Gewerkschaft NGG meldet sogar eine neue Rekordzahl von mehr als 400 Streiks im Jahr 2023
Im Jahr 2024 dürfte es nach der Prognose des WSI so weiter gehen. Die Warnstreiks der Lokomotivführer und bei den Flughäfen haben dafür bereits deutliche Zeichen gesetzt.
"Mit den kommenden Auseinandersetzungen in der Chemischen Industrie und der Metall- und Elektroindustrie als den zwei größten industriellen Tarifbranchen sollte auch die Tarifrunde 2024 wieder eine besonders offensive Tarifrunde werden", erwartet das WSI. "Die Tarifrunde 2024 wird aus mindestens zwei Gründen im Zeichen deutlicherer Reallohnzuwächse stehen. Zum einen haben die Tarifbeschäftigten einen erheblichen Nachholbedarf, um die hohen Reallohnverluste der Jahre 2021 und 2022 auszugleichen. Besonders hoch ist dieser Nachholbedarf in Branchen wie dem Bauhauptgewerbe oder der Deutschen Telekom, deren letzte reguläre Lohnabschlüsse noch in die Zeit vor den hohen Inflationsraten fallen und die unter den großen Tarifbereichen die Tarifrunde 2024 eröffnen werden. Angesichts der schwachen Konjunkturaussichten in Deutschland würden deutliche Reallohnzuwächse darüber hinaus auch ökonomisch einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der privaten Konsumausgaben leisten."
Anmerkungen
[1] WSI Tarifarchiv, Februar 2024: TARIFPOLITISCHER JAHRESBERICHT 2023
Offensive Tarifpolitik angesichts anhaltend hoher Inflationsraten
https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008800/p_ta_jb_2023.pdf
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