Mo., 4.12.2023: Interview mit Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten: "Wir sind Zeugen eines sehr starken Vernichtungswillens: Im Kern geht es um die Verbindung zwischen der erklärten Absicht der israelischen Regierung und der Fähigkeit, diese Absicht auszuführen. Die Vereinten Nationen erleben den schlimmsten Moment in ihrer Geschichte: Sie sind unfähig, Entscheidungen zu treffen".
"ALARM. Phase II des GazaKrieges droht die erschöpfte Bevölkerung des Gazastreifens an die Grenze zu Ägypten und in die Deportation auf den Sinai zu treiben. Dies könnte zum größten Zwangsumsiedlungsprojekt in der langen Geschichte der Zwangsumsiedlungen von Palästinensern führen."
Dies schrieb Francesca Albanese am 1. Dezember auf der Plattform X
https://twitter.com/FranceskAlbs/status/1730539106164253041
"Übergang vom wahllosen Töten von Zivilisten zum organisierten Töten"
UN-Sonderberichterstatters Balakrishnan Rajagopal
Der UN-Sonderberichterstatters Balakrishnan Rajagopal schreibt, dass jetzt der "Übergang vom wahllosen Töten von Zivilisten zum organisierten Töten" erfolgt. (https://twitter.com/adequatehousing/status/1730711119910645991)
Nach Ende der Feuerpause: In Gaza ist die Hölle los: Hunderte von Angriffen, Hunderte Tote und Verletzte |
Francesca Albanese hat bereits in einem Interview mit il manifesto am 21. November vor einer ethnischen Säuberung des Gazastreifen und vor einem Völkermord gewarnt.
Frage: Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, in der jüngsten Mitteilung der UN-Sonderberichterstatter, unabhängigen Experten und Arbeitsgruppen ist von einer zunehmenden Aufstachelung zum Völkermord im Gazastreifen die Rede. Welche Beweise gibt es für völkermörderische Absichten seitens Israels?
Francesca Albanese: In früheren Kommuniqués haben wir von der ernsten Gefahr eines Völkermordes gesprochen, im jüngsten von einem sich anbahnenden Völkermord. Nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 muss "die Absicht bestehen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören", und zwar durch Handlungen wie die Tötung und schwere Verletzung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit von Mitgliedern der Gruppe und die vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen sollen.
Die Absicht, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören, lässt sich aus Mitteilungen und Strategien sowie aus dem Zusammenhang zwischen den Äußerungen der Führungspersonen und den Handlungen der Täter, d. h. der Soldaten, ableiten. Elemente sind die Aussagen der Soldaten vor Ort, die sagen, dass sie den Befehl haben, zu zerstören, zu vertreiben und zu kolonisieren; die Regierungsvertreter, die sagen, dass die Palästinenser alle Terroristen oder alle Tiere sind und deshalb zahlen müssen; aber vor allem die erklärte Absicht der Vertreibung von Norden nach Süden und dann von Osten nach Westen. Es gibt eine sehr starke Vernichtungsabsicht. Im Kern geht es um die Verbindung zwischen der erklärten Absicht und der Fähigkeit, diese Absicht auch umzusetzen.
Frage: Die anhaltenden Verstöße gegen das Völkerrecht im Gazastreifen wurden von der UNO und ihren Organisationen wiederholt angeprangert. Aus diesem Grund ist die UNO einer sehr gefährlichen Delegitimierung ausgesetzt. Welche Auswirkungen wird diese Kampagne zur Schwächung des Völkerrechts und seiner Institutionen haben?
Francesca Albanese: Ich glaube, dass die UNO den schlimmsten Moment ihrer Geschichte erlebt, eine apokalyptische Krise aus politischer Sicht, weil die Organisation nicht in der Lage ist, politische Entscheidungen zu treffen. Nach 40 Tagen Teppichbombardierung des Gazastreifens sind sie immer noch nicht in der Lage, unisono einen Waffenstillstand zu fordern. Es ist von humanitären Pausen die Rede, um die Menschen ein wenig atmen zu lassen und Hilfe zu leisten. Diese wird jedoch nicht ankommen. Der US-Sondergesandte für humanitäre Hilfe leitet die Arbeiten unter Missachtung der UNO. Bislang sind 700 Konvois eingetroffen, was angesichts der Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen kaum ausreicht, um den Bedarf von 4-5 % der Bevölkerung zu decken. Diese Orte sind zu Gefangenenlagern geworden, es ist die Hölle, und es gibt keine Möglichkeit, die Situation wieder in den Griff zu bekommen, denn Israel macht, was es will.
4. Dez. 2023: Rafah im südlichen Gazastreifen wurde in den letzten Stunden von israelischen Bombenteppichen schwer getroffen. Die israelische Besatzungsarmee vertreibt die Palästinenser:innen aus dem nördlichen Gazastreifen in den Süden und behauptet, dies sei eine sichere Zone. Jetzt werden die Palästiner:innen aus den "killing fields" in Richtung Ägypten gedrängt. Ethnische Säuberung des Gazastreifens. In einem Video sagen israelische Soldaten über ihren Einsatz in Gaza, ihr Auftrag laute: "besetzen, vertreiben, besiedeln".
eingefügt von kommunisten.de
Frage: Seit 75 Jahren hält sich Israel nicht an die UN-Resolutionen. Fühlt es sich dazu ermächtigt, weil es nie sanktioniert worden ist?
Francesca Albanese: Straflosigkeit gab es schon immer, aber dieses Mal ist sie noch gravierender: Es ist klar, dass Israel die Palästinenser aus dem Norden in den Süden vertreiben will und seit einiger Zeit von einer ägyptischen Lösung spricht, indem es sie auf den Sinai vertreibt. Eine Vertreibung, die wir auch im Westjordanland beobachten, wo Siedler und bewaffnete Soldaten ganze Dörfer räumen, ungestraft töten und foltern.
Frage: Von vielen Seiten, vor allem aus den Ländern des globalen Südens, kommt der Ruf nach einer Reform der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates, dessen Macht ein Symbol für die "Kolonialisierung" des Völkerrechts ist. Was sagen Sie dazu?
Francesca Albanese: Ich denke, dass es sich um legitime Forderungen handelt, aber ich glaube nicht, dass es einfach sein wird, sie zu verwirklichen: Eine Reform des Sicherheitsrates wird seit vielen Jahren diskutiert, aber es sollten die Mitgliedsstaaten selbst sein, die das Privileg des Vetos genießen, dieses aufzugeben. Und dazu scheinen sie nicht bereit zu sein. Vielleicht wird das System zusammenbrechen, bevor es reformiert wird.
Frage: Das Herzstück der allgemeinen palästinensischen Frage ist die Rückkehr der Flüchtlinge, die seit sieben Jahrzehnten aufgeschoben wurde. Im Gegenteil, wir sind Zeugen neuer Vertreibungswellen: Israelische Regierungsvertreter sprechen offen von der Nakba 2023.
Francesca Albanese: Das lässt einen bitter lächeln: 75 Jahre lang hat Israel die Nakba geleugnet, jetzt fordern seine Politiker sie lautstark ein. Aber noch schockierender ist, dass es die Welt nicht interessiert. Die Zivilgesellschaft kümmert sich, sie geht massenhaft auf die Straße, aber die politische Klasse bleibt untätig angesichts Israels größtem Fall von ethnischer Säuberung des palästinensischen Volkes, ein Fall, der durch die Worte seiner militärischen und politischen Schöpfer im Fernsehen übertragen wird.
Das Völkerrecht verlangt die Verhinderung von Verbrechen, nicht nur die Schaffung von Sondergerichten, um sie zu bestrafen, wenn sie begangen wurden.
Der Vernichtungskrieg geht weiter
Frage: Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ISTGH) sammelt weiterhin Material über die begangenen Verbrechen. Kann es zu einer Anklageerhebung kommen?
Francesca Albanese: Angesichts des gesammelten Materials ist dies möglich, aber ich weiß nicht, ob der politische Wille dazu vorhanden ist. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinen anderen Weg als den Internationalen Strafgerichtshof, denn was Israel tut, ist von beispielloser abscheulicher Gewalt.
Das Interview führte Chiara Cruciati für il manifesto, 21. November 2023: Francesca Albanese: «La politica è inerte di fronte a un’istanza di pulizia etnica»
https://ilmanifesto.it/francesca-albanese-la-politica-e-inerte-di-fronte-a-unistanza-di-pulizia-etnica
Sinnloser Besuch
Angefügt von kommunisten.de
Der Chefankläger des IStGH in Den Haag, Karim Khan, hat vier Tage lang Israel besucht.
"Der Besuch hat zwar keinen Ermittlungscharakter, stellt aber eine wichtige Gelegenheit dar, allen Opfern sein Mitgefühl auszudrücken und in den Dialog zu treten", erklärte der Strafgerichtshof zu dem Besuch (https://twitter.com/IntlCrimCourt/status/1730254588110844248)
Am Samstag ist er in Ramallah, im besetzten Westjordanland, mit dem Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas zusammengetroffen.
Israel, das kein Vertragsstaat des Gerichts ist, hat dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bereits beim Gazakrieg 2014 die Zuständigkeit für Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten abgesprochen. Khan bot Israel trotzdem seine Unterstützung bei den Ermittlungen zu den Attacken der Hamas vom 7. Oktober an. Diese bezeichnete er als "einige der schlimmsten internationalen Verbrechen, die das Gewissen der Menschheit schocken".
Doch auch Israel sei bei Angriffen auf den Gazastreifen an internationales Recht gebunden, fügte Khan hinzu. "Wie ich bereits zuvor gesagt habe, hat Israel ausgebildete Juristen, die Kommandanten beraten, und ein robustes System, das die Einhaltung des internationalen humanitären Rechtes garantieren soll."
Francesca Albanese hat am 30. November einen Post des UN-Sonderberichterstatters Balakrishnan Rajagopal weitergeleitet:
"Dieser Besuch ist völlig sinnlos, es sei denn, er besucht auch Gaza und kündigt eine zeitlich begrenzte Verpflichtung zur Bekanntgabe der Ergebnisse der Ermittlungen seines Büros an. Was gebraucht wird, ist die Rechenschaftspflicht des IStGH, nicht sein Mitgefühl."
Francesca Albanese: Western media is living in an "alternate reality"
- Nach Ende der Feuerpause: In Gaza ist die Hölle los: Hunderte von Angriffen, Hunderte Tote und Verletzte
- Ilan Pappe: "Wofür die Palästinenser kämpften: für ein normales Leben, für Freiheit - nicht dafür, Juden zu töten"
- "Ich glaube, ich habe mein ganzes Herz leergeweint"
- Interview mit Neve Gordon: "Das Abkommen wird nicht verlängert, die Ultra-Rechten werden es verhindern"
- Endlich Feuerpause in Gaza. Aber wie weiter?
- Joe Biden: Gäbe es Israel nicht, müssten die USA eines erfinden
- "Nie wieder ist JETZT!" | Palästinas UN-Vertreterin Nada Abu Tarbush enthüllt Israels Kriegsverbrechen in Gaza
- Dima Khatib, Geschäftsführerin von Al Jazeera: "Mit Gaza brechen das Völkerrecht und die Menschenrechte zusammen".
- Die Hölle in den Krankenhäusern von Gaza, Massengräber im al-Shifa Hospital
- Von Paris bis Karatschi: Gaza kann nicht länger warten! Waffenstillstand jetzt!
- Habeck-Rede und die Doppelmoral
- Rauswurf wegen israelkritischem Post: "Steh für das Richtige ein"
- Wieder eine Nakba? Durchgesickerte Dokumente bestätigen israelischen Plan, Palästinenser:innen nach Ägypten zu vertreiben
- UN für Feuerpause und humanitäre Hilfe für Gaza. Deutschland enthält sich.
- Israel: Drohungen und Verhaftungen für diejenigen, die sich für den Frieden einsetzen. Linker Diskurs wird unterbunden
- 'From the river to the sea': Was bedeutet der Pro-Palästina-Spruch eigentlich?
- USA gegen "humanitäre Pause" im Gaza-Krieg. Europäische Spitzenpolitiker besuchen Israel, um Unterstützung für den Krieg zu zeigen, nicht um einen Waffenstillstand zu fordern.
- Gaza unter israelischem Bombenhagel. Phosphorbomben auf Frauen und Kinder
- "menschliche Tiere", das ist "Rhetorik der Nazis ". Oder: Requiem für Gaza
- Spaniens stellvertretende Premierministerin fordert Europa auf, das "Massaker" in Gaza zu beenden
- Unsere Menschlichkeit wird auf die Probe gestellt
- Das Blut von Gaza klebt an den Händen des Westens ebenso wie an denen Israels
- Bundesausschuss Friedensratschlag: Bundesregierung muss sich für Stopp der Kampfhandlungen und der Aufhebung der Blockade des Gazastreifens einsetzen.
- Überraschungsangriff der Hamas. Israel bombardiert Gaza