19.10.2022: Der 2. Oktober sollte die große Feier der Rückkehr Lulas sein - "ohne Angst glücklich sein" -, und stattdessen stellt man mit großer Angst fest, dass der Bolsonarismus unterschätzt wurde ++ Jetzt befindet sich Brasilien in der heiß umkämpften zweite Runde der Präsidentschaftswahlen. Die Spannungen im ganzen Land sind groß. ++ João Pedro Stedile - Anführer der Landlosenbewegung MST, die von Bolsonaro gnadenlos bekämpft wird - lässt sich nicht entmutigen und sagt, dass er überzeugt ist, dass die Siegesfeier nur verschoben ist.
Der 2. Oktober sollte die große Feier der Rückkehr Lulas sein - "ohne Angst glücklich sein" -, und stattdessen stellt man mit großer Angst fest, dass der Bolsonarismus unterschätzt wurde, dass er lebendig ist, dass mehr als 40 % der Wähler:innen - trotz allem, was sie in diesen vier Jahren erlebten - sich dafür entschieden haben, erneut auf den unsympathischsten Präsidenten in der Geschichte Brasiliens (und auf seine Minister, Parlamentarier und Gouverneure) zu setzen.
Lula im ersten Wahlgang vorne. Bolsonaro bleibt gefährlicher Gegner. |
Jetzt befindet sich Brasilien in der heiß umkämpften zweite Runde der Präsidentschaftswahlen. Die Spannungen im ganzen Land sind groß. Der Wahlkampf hat sich aufgeheizt und die bereits bestehende Polarisierung der Gesellschaft vertieft sich. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen konzentriert sich die Kampagnen des ultra-rechten Kandidaten Jair Bolsonaro auf persönliche Angriffe und Diffamierungen. Die Flut von Fake News, die bei der Wahl 2018 ein Schlüsselfaktor für den Sieg Bolsonaros waren, sind zurückgekehrt, um die Wähler:innen zu beeinflussen, insbesondere die 21 %, die sich in der ersten Runde der Stimme enthalten haben. Es kursieren Artikel und Videos über Lulas angeblichen Plan, Kirchen zu schließen, darüber, dass er Abtreibungen befürwortet, den Drogenkonsum Jugendlicher fördert, die "brasilianische Familie" angreift und ein Satansanbeter ist. Die Plattformen der sozialen Medien sind zu ständigen Schlachtfeldern in einem Tauziehen geworden, in dem Kampagnen diese Botschaften verbreiten und sie entlarven.
In Lulas Umfeld gibt es jedoch keinen Platz für Pessimismus. Bolsonaro hat am 2. Oktober verloren und wird auch am 30. Oktober verlieren", erklärte zum Beispiel der Vorsitzende der Arbeiterzentrale Sérgio Nobre.
Auch João Pedro Stedile - Anführer der Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST), die von Bolsonaro gnadenlos bekämpft wird - lässt sich nicht entmutigen und sagt, dass er überzeugt ist, dass die Siegesfeier nur verschoben ist.
Frage: Die Erwartungen an einen Sieg bereits in der ersten Runde waren hoch. Wie kompliziert ist die Situation jetzt?
João Pedro Stedile: Nicht wesentlich anders. Lula hat knapp mit einem Vorsprung von 1,7 % der Stimmen gewonnen und kann sich auf einen Vorsprung von 6 Millionen Stimmen stützen, trotz all der Ressourcen, auf die Bolsonaro zählen konnte, des wie ein Lauffeuer verteilten Geldes und der unaufhörlichen Fake-News-Kampagne. Ich bin zuversichtlich, dass die fortschrittlichen Kräfte in der brasilianischen Gesellschaft den Sieg Lulas am 30. Oktober sicherstellen werden.
Frage: Nach den Schandtaten aller Art, die er zu verantworten hat, wurde Bolsonaro dennoch von mehr als 43 % der Wähler gewählt. Wie war das möglich?
João Pedro Stedile: Das liegt daran, dass er in diesem Jahr 8 Milliarden Dollar (44 Milliarden Reais) an öffentlichen Geldern an seine Abgeordneten verteilt hat (der so genannte geheime Haushalt), die diese an die Bürgermeister weitergegeben haben, damit diese ihren Wahlkampf in den Rathäusern finanzieren können. Diese Stimmen waren auf die Kontrolle der Regierungen der Bundesstaaten und der Wahlapparate durch die Rechte zurückzuführen, deren einziges Ziel es war, die Rückkehr Lulas zu verhindern.
Ich glaube jedoch, dass die Stimmen für Lula in einigen Bundesstaaten und in den ärmeren Bevölkerungsschichten noch zunehmen könnten, während Bolsonaro keinen großen Spielraum mehr hat. Auch das Modell der Agrarindustrie ist trotz der klaren Entscheidung der Regierung für die räuberischen Latifundien gespalten, denn ein Teil, wenn auch eine Minderheit, befürchtet, dass die Politik Bolsonaros den Export von Rohstoffen gefährden wird: Die Europäische Union wird beispielsweise Produkte, die aus der Abholzung stammen, vom Markt verbannen. Es ist eine Branche, die den Wandel will.
Frage: Der Kongress wird von konservativen Kräften dominiert werden. Wird dies das Handeln einer möglichen Lula-Regierung nicht stark beeinträchtigen?
João Pedro Stedile: Der Kongress wird nicht konservativer sein, als der bisherige. Das Kräfteverhältnis bleibt gleich, und die Linke hat zumindest ihre parlamentarische Präsenz etwas erhöht. Der Eindruck, dass Bolsonaro gewonnen hat, beruht auf der Tatsache, dass seine Partei die meisten rechten Stimmen auf sich ziehen konnte. Es stimmt, dass mehrere ehemalige Minister von Bolsonaro gewählt wurden, aber die Arbeiterpartei PT schaffte es auch, mehrere Senatoren zu gewinnen, insbesondere im Nordosten.
Lula muss nun eine breite antifaschistische Front bilden, um die Präsidentschaft zu gewinnen. Und dann einen Notfallplan aufstellen, um das Land aus den zahlreichen Krisen herauszuführen, mit denen es konfrontiert ist.
Frage: Wie verlief der Wahlkampf?
João Pedro Stedile: Lula hat seinen Teil dazu beigetragen. Aber es fehlte an der Entschlossenheit der Militanten, eine antifaschistische Welle in der Bevölkerung auszulösen. In den meisten Großstädten herrschte ein flaues politisches Klima, es gab kaum Propaganda und keine Debatten über das Projekt des Landes, um das es ging. Wir erwarten, dass die Aktivist:innen im Vorfeld der zweiten Runde verstärkt die Arbeit an der Basis, die Aufgabe, von Haus zu Haus zu gehen, auf der Straße Propaganda zu machen, übernehmen werden.
Frage: Was bedeutete es für die MST, zum ersten Mal mit 15 eigenen Kandidat:innen anzutreten?
João Pedro Stedile: Die MST hat immer an Wahlen teilgenommen und verschiedene Kandidat:innen unterstützt. Neu ist, dass es diesmal in einigen Bundesstaaten Führungspersönlichkeiten gab, die sich motiviert fühlten, selbst zu kandidieren, obwohl wir als MST auch für viele kämpften, die nicht aus unseren Reihen kommen.
Und die Bilanz war sehr positiv: In allen Bundesstaaten wurden Kandidat:innen gewählt, die unsere Unterstützung hatten, und von unseren Spitzenkandidat:innen haben es nur zwei nicht geschafft. In Ceará wurde der Rechtsanwalt Elmano de Freitas, der stets unsere rechtliche und politische Verteidigung übernommen hat, zum Gouverneur gewählt. Edegar Preto, Sohn eines historischen MST-Führers, scheiterte bei der Wahl in Rio Grande do Sul mit nur 2.500 Stimmen. In Pernambuco hingegen wurde unsere Kandidatin Rosa Amorim, eine junge 25-jährige Schwarze und Lesbe, als Vertreterin des Bundesstaates in den Kongress gewählt.
Frage: Bolsonaro hat Sie von Anfang an gnadenlos bekämpft. Wie konnten Sie widerstehen?
João Pedro Stedile: Die Regierung erklärte den bäuerlichen Familienbetrieben den Krieg, verweigerte ihnen jegliche Unterstützung und stoppte die Bodenreform. Die Folge war ein Anstieg der Lebensmittelpreise und die Rückkehr von Hunger und Arbeitslosigkeit. Die MST wehrt sich jedoch nach Kräften. Wir haben keine Landreformgebiete gewonnen, aber wir haben weiterhin gesunde Lebensmittel produziert, die Agrarökologie eingeführt und unsere landwirtschaftlichen Genossenschaften gefördert. Und die Gesellschaft steht zu uns und schützt uns vor Unterdrückung. Kurz gesagt, Bolsonaro hat es nicht geschafft, die Bewegung zu zerstören, wie er es vor vier Jahren angekündigt hatte.
Das Interview mit João Pedro Stedile führte Claudia Fanti für die Zeitung il manifesto
Fotos: Movimento Sem Terra https://mst.org.br