Gespräch mit Kerem Schamberger
29.04.2022. Kerem Schamberger und zwei Aktivisten der VVN-BdA Bayern haben mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte GFF vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das bayerische Verfassungsschutzgesetz geklagt. Dieses hat am Dienstag in einem 132-seitiges Grundsatzurteil bekanntgegeben, dass weite Teile des bayerischen Verfassungsschutzgesetzes verfassungswidrig sind. kommunisten.de sprach mit Kerem Schamberger.
Kerem, Du bist einer der Kläger, was sagst Du zu dem Urteil?
Kerem: Es hat sich bereits bei der Verhandlung im Dezember 2021 abgezeichnet, dass die Verfassungsrichter ernste Bedenken gegen die weitreichenden Überwachungsmöglichkeiten des bayerischen Verfassungsschutzes haben. Seit 1. August 2106 hat der bayerische Inlandsgeheimdienst, er bezeichnet sich als Verfassungsschutz, Befugnisse, die tiefer und breiter in die Grundrechte eingreifen, als dies in anderen Bundesländern oder im Bund der Fall ist. Die Richter haben sich sehr ausführlich mit den von uns beanstandeten Punkten des Gesetzes befasst. Dass jetzt 16 Normen des Gesetzes beanstandet werden, ist natürlich ein großer Erfolg.
ZDF heute, 26.04.2022 |
Was beanstanden die Richter im Konkreten?
Kerem: In dem Urteile heißt es, "dass mehrere Vorschriften des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, weil die dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz darin eingeräumten Befugnisse teilweise gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, teilweise in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, teilweise gegen das Fernmeldegeheimnis und teilweise gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen."
Im Einzelnen geht es z.b. darum, dass
- die Wohnraumüberwachung verfassungswidrig ist, weil sie nicht auf das Ziel der "Abwehr" ausgerichtet sei;
die Ortung von Mobilfunkgeräten durch den Verfassungsschutz verfassungswidrig ist , "weil die Befugnis so weit gefasst ist, dass sie auch eine langandauernde Überwachung der Bewegungen der Betroffenen erlaubt, ohne den dafür geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen"; - der Einsatz verdeckter Mitarbeiter verfassungswidrig ist, "weil keine hinreichenden Eingriffsschwellen geregelt sind und eine Bestimmung fehlt, die den Kreis zulässiger Überwachungsadressaten begrenzend regelt, sofern der Einsatz von verdeckten Mitarbeitern oder Vertrauensleuten gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet ist. Außerdem fehlt es an der erforderlichen unabhängigen Vorabkontrolle";
- die Observation außerhalb der Wohnung verfassungswidrig ist, "weil die Befugnis für den Fall besonders eingriffsintensiver Observationen nicht hinreichend bestimmt auf Bestrebungen oder Tätigkeiten von besonders gesteigerter Überwachungsbedürftigkeit beschränkt ist und es auch hier an einer unabhängigen Vorabkontrolle fehlt."
Deutlich strengere Anforderungen sollen künftig auch für die Übermittlung von Daten durch den Verfassungsschutz gelten. Dieser darf heimlich beschaffte Daten nur dann an andere Behörden wie die Polizei weitergeben, wenn diese sich die Daten auf gleichem Wege auch selbst hätten beschaffen dürfen.
Wie geht es jetzt weiter?
Kerem: Das bayerische Verfassungsschutzgesetz muss jetzt in den beanstandeten Punkten geändert werden. Allerdings hat die bayerische Staatsregierung bis Ende Juli 2023 Zeit für diese Änderungen, bis dahin dürfen die Befugnisse des Verfassungsschutzes in eingeschränkter Form in Kraft bleiben.
Bei dem Urteil handelt es sich aber auch um ein Grundsatzurteil mit Auswirkungen auf die Verfassungsschutzbefugnisse insgesamt. In anderen Landesgesetzen und im Bund sind die Voraussetzungen für den Einsatz verdeckter Ermittler oder sogenannter V-Leute sowie für längere Observationen vergleichbar niedrig. Auch die Regelungen zur Datenübermittlung sind in vielen Ländern ähnlich weit gefasst wie in Bayern. Es gibt also nicht nur in Bayern Handlungsbedarf.
Pikant ist dabei, dass diejenigen, die vor allem in der linken Szene immer die Verfassungsfeinde sehen, selbst Gesetze machen, die verfassungswidrig sind. Und dass dann ein Inlandsgeheimdienst mit seinen Aktivitäten gegen die Verfassung verstößt, auch wenn er sich fälschlicherweise "Verfassungsschutz" nennt. Da wird offensichtlich, dass die juristische Auseinandersetzung das politische und gesellschaftliche Ringen um die Zurückdrängung reaktionärer Politik und der Geheimdienste sowie den Kampf gegen den Ausbau des Sicherheitsstaates nicht ersetzt.
Tagesschau, 26.04.2022 |
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