11.07.2016: "Mut braucht es in Zeiten der Niederlage, und sicherlich braucht es Hoffnung, um der Verzweiflung zu entgegen. Es gibt aber auch den falschen Mut und die trügerische Hoffnung. So führt, meine ich, der Weg, dem Marxismus einen Anstrich von Religion zu geben, gar zu einer profanen Religion zu machen, in die Sackgasse und macht die Niederlage unumkehrbar. Zukunftsfähig ist der Marxismus nur, wenn er jede Gestalt der Religionsförmigkeit ablegt. .. Er ist Wissen, und zwar kritisches Wissen und verhält sich kritisch gegenüber jeder Ideologie", sagt Thomas Metscher in dem Gespräch mit Milena Rampoldi.
Milena Rampoldi: Wie fanden Sie den Weg zum Marxismus? Was bedeutet der Marxismus heute, nach Ihrer langen Karriere, für Sie?
Thomas Metscher: Das ist eine lange Geschichte. Ich bin auf einem anderen Weg zum Marxismus gekommen als viele andere meiner sozialen Schicht und Generation. Ich hatte das Glück, einen bürgerlichen anti-faschistischen Vater gehabt zu haben. Mein Vater erlebte, im Gegensatz zum Normalfall im deutschen Bürgertum/Kleinbürgertum, das Kriegsende politisch bewusst als Hitlergegner. Er begrüßte ostentativ die Rote Armee als Befreier. Er hasste Hitler und den Faschismus, wie er jede Form des Militarismus verabscheute. In diesem Sinne wurde ich erzogen. Er lehrte mich, den Antisemitismus als große Schuld Deutschlands und der deutschen Geschichte zu sehen, er dachte im Sinne von Lessings Nathan der Weise, den er oft zitierte. Er war links, doch bürgerlich links, nicht sozialistisch. Er orientierte sich an Tucholsky, Ossietzky, die Weltbühne, die große realistische Literatur des 19. Jahrhunderts, vor allem Tolstoi, Fontane, Galsworthy, von den Modernen Leonhard Frank, den er mich lieben lehrte, Heinrich und Thomas Mann, auch Bertolt Brecht.
So hatte ich einen guten Ausgangspunkt – der des in Deutschland so seltenen kritischen Bürgers mit weltbürgerlicher, nicht nationaler Gesinnung. Auf dieser Grundlage durchlebte eine graduelle Entwicklung. Prägend wurde, auch langfristig prägend, dass ich nach dem Kriegsende für einige Jahre in der sowjetischen Besatzungszone lebte, der späteren DDR. Mit dieser Zeit verbinden mich beste Erinnerungen. Ich fühlte mich zuhause auch in der Schule wie nie in späteren Jahren, hatte meine erste Veröffentlichung als Vierzehnjähriger mit einem Antikriegsgedicht, gewann einen Schulpreis im Russischunterricht, eine Schwimm-Meisterschaft im schulischen Wettbewerb. Erst Ende der vierziger Jahre siedelten wir, aus beruflichen, nicht politischen Gründen, nach Westberlin über. Politisch vertrat damals bis zum Ende seines Lebens den Standpunkt Walter Ulbrichts in der Deutschlandpolitik. In der Entwicklung Westdeutschlands und der Adenauer-Politik entdeckte er die Kontinuitätslinie mit dem alten Deutschland, das Bündnis von Kapital und Politik. Er nahm wahr, dass dieser Schoß noch fruchtbar war – und wie hat er, blickt man von heute zurück, recht behalten!
Mein nächster Politisierungsschub erfolgte während meiner Studienzeit in Westberlin. Es war der Widerstand gegen Wiederaufrüstung und atomares Wettrüsten, dem ich mich anschloss. Entscheidend wurde der Antiatomkongress von 1958, auf dem ich dem Philosophen Günther Anders begegnete, Wolf Haug kennenlernte. Ich war beteiligt an der Gründung des Argument, wo dann auch meine erste theoretische Publikation erfolgte, im Anschluss an Anders die „Notizen zu einer Ontologie der atomaren Situation“.
Die Lektüre von Marx, Lukács, Brecht gab mir eine Grundlage, auch in meinem literaturwissenschaftlichen Studium, alles im Selbststudium, denn gelehrt wurde dies nicht. Der Weg führte nun in gerader Linie zum Marxismus, schließlich auch im Sinne der politischen Organisation. Zu diesem Zeitpunkt war ich kritisch, doch nie feindlich gegenüber dem, was sich der ‚reale Sozialismus’ nannte. Die DDR betrachtete ich als das bessere Deutschland von den Möglichkeiten her – als Grundlage einer wahrhaft demokratischen, in jedem Fall antimilitaristischen Entwicklung. Entscheidend wurde für mich die Erkenntnis des organischen Zusammenhangs von Faschismus und Kapitalismus, die sich mir graduell erschloss – die Erkenntnis, dass der Faschismus eine Form bürgerlicher Herrschaft ist, sich faschistische Herrschaftsformen notwendig aus bestimmten Entwicklungen des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen, der imperialistischen Phase ergeben. Dies war im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre der Fall, und es ist wieder die heutige Situation. Faschismus bedeutet diktatorische Herrschaft der reaktionärsten und aggressivsten Fraktionen des imperialistischen Kapitals. Faschismus ist, über das Moment des Anti-Rationalismus, der Gegnerschaft zu Aufklärung und Sozialismus hinaus, an keine besondere ideologischen Inhalte gebunden. Er hat ideologisch funktionalen Charakter. Ich sage dies so deutlich, weil diese Frage im heutigen Europa brandaktuell ist.
Seit dem Zeitpunkt, als ich den Marxismus als ‚Antwort’ auf viele mich tief bedrängende Fragen – politische wie theoretische - entdeckte, habe ich mich mit diesem kritisch fragend auseinandergesetzt. Ich habe nicht nur rezipiert, sondern auch produziert, geschrieben, weitergedacht, Stellung genommen, zunächst im Argument, dann darüber hinaus, schließlich auch im Rahmen der Deutschen Kommunistischen Partei, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Der Marxismus, dies gehört zu den zentralen Ergebnissen dieser jahrzehntelangen Bemühungen in und an der Arbeit mit ihm, ist für mich keine abgeschlossene Theorie, kann und wird es nie sein – und wenn er es ist, gibt er sich selbst auf.
MR: Was heißt, Ihrer Auffassung nach, überhaupt Marxismus?
TM: Marxismus. wie sich der Begriff in Verlauf meiner vielfältigen Erfahrungen herausgebildet hat, ist einerseits enger, andererseits weiter als er von vielen anderen verstanden wird, die den Begriff gebrauchen. Betrachten wir die weltgeschichtliche Lage unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Sozialismus und sozialistischer Hoffnungen, so wird nicht zu leugnen sein, dass wir uns gegenwärtig auf einem Tiefpunkt befinden. In einer solchen Lage stellt sich die Versuchung ein, den Marxismus zu einem Messianismus zu machen, Kommunismus zur ‚Hypothese’, die durch einen ‚Glaubenssprung’ zu gewinnen sei. Der Marxismus wird so zur Quasi-Religion.
Solche Gedanken finde ich gerade bei Autoren, die heute medialen Kredit genießen: bei Zizek, Badiou, und selbst Haug spricht in Anschluss an Benjamin und Derrida von einem ‚Messianismus ohne Messias’, womit er den Marxismus meint. Mir kommen solche Autoren wie Leute vor, die im Dunkeln singen, um sich Mut zu machen.
Mut braucht es in Zeiten der Niederlage, und sicherlich braucht es Hoffnung, um der Verzweiflung zu entgegen. Es gibt aber auch den falschen Mut und die trügerische Hoffnung. So führt, meine ich, der Weg, dem Marxismus einen Anstrich von Religion zu geben, gar zu einer profanen Religion zu machen, in die Sackgasse und macht die Niederlage unumkehrbar. Zukunftsfähig ist der Marxismus nur, wenn er jede Gestalt der Religionsförmigkeit ablegt. Fundamental für ihn ist gerade die Trennung von Wissen und Glauben. Er ist kein Messianismus, welcher Form auch immer. Er ist Wissen, und zwar kritisches Wissen und verhält sich kritisch gegenüber jeder Ideologie. Ohne das Moment des Kritischen wird er zur Ideologie. Seine Fundamentalkategorie ist die Dialektik als Lehre, jede gewordene Gestalt des Lebens als bewegt, Teil eines Prozesses und damit veränderlich, den Erkenntnisprozess selbst als unendlichen Prozess aufzufassen. Das Wissen des Marxismus ist somit relativ, unabschließbar, begrenzt, in dem Rahmen, der menschlichem Wissen jeweils historisch gesetzt ist.
Marxismus, möchte ich formulieren, ist eine politische Weltanschauungsform, in der, gemäß dem Postulat der Einheit von Theorie und Praxis, politische Bewegung und konzeptive Weltanschauung zusammentreten. Sein Ziel ist, im Sinne der elften Feuerbachthese, die Interpretation und die Veränderung der Welt.
Als konzeptive Weltanschauung beruht der Marxismus auf drei Säulen: Wissenschaft, Philosophie, Kunst – dieser Gesichtspunkt ist es, der gegenüber den üblichen, auch traditionellen Marxismusauffassungen eine entschiedene Erweiterung vorschlägt. Wissenschaft und Philosophie werden gewöhnlich im Zusammenhang gesehen, ich schlage eine methodische und kategoriale Trennung vor.
Die wissenschaftliche Grundlage des Marxismus bilden Ökonomie, Politik, Geschichte, Rechts- und Gesellschaftswissenschaften, in einem weiteren Sinn auch Geistes- und Naturwissenschaften –, wobei ihr jeweiliger Anteil dem untersuchten Gegenstandsfeld entsprechend variiert.
Sprechen wir von der philosophischen Grundlage des Marxismus, so ist neben dem auf die Antike zurückgehenden Materialismus (Demokrit, Epikur, Lukrez) vor allem die Hegelsche Philosophie zu nennen, und mit ihr die Tradition dialektischen Denkens; in einem weiteren Sinn dann auch nominalistische, empiristische und naturphilosophische Strömungen (wie sie die philosophische Wissenschaftslehre eines Francis Bacon repräsentiert).
Die dritte Säule aber, auf dem der Marxismus in seiner entwickelten Gestalt fundiert, ist die Kunst, vor allem die Literatur, doch auch die anderen Künste. Es ist dies die hier entscheidende Ergänzung des Marxismus als weltanschauliches Konzept, die ich vorschlage. Zur Orientierung und als Hinweis auf das Gemeinte seien hier die Namen Bertolt Brecht, Pablo Neruda, Michael Scholochow, Anna Seghers, Sean O’Casey, Lewis Grassic Gibbon, Hugh MacDiarmid, David Craig, Nazim Hikmet, Jannis Ritsos, Peter Hacks, José Saramago, Peter Weiss, Ngugi wa T’hiong’o, Pablo Picasso, Renato Guttuso, Willi Sitte, Dmitri Schostakowitsch, Hans Eisler genannt. Sie bilden nur eine Auswahl, die paradigmatisch das Feld bezeichnen soll, das der trockene Begriff ‚Marxismus in der Kunst’ benennt. Es umfasst einen bedeutenden Anteil der Gegenwartskunst, weit mehr als die Kunst in den ehemals sozialistischen Ländern, geschweige denn Kunst im Umkreis marxistischer politischer Organisationen. Marxistische Kunst, verstanden als eine solche, deren weltanschauliche Grundlage und politische Orientierung der Marxismus ist, besitzt eine erstaunliche Weite und Vielfalt. Sie bildet eine distinkte Dimension in der Welt-Kunst der Gegenwart. Wenn also vom Reichtum und den Potentialen des Marxismus gesprochen werden soll, wird nicht nur von Wissenschaft und Philosophie, sondern auch von den Künsten zu sprechen sein.
Im Zentrum freilich des Marxismus als Weltanschauung steht die Wissenschaft. Ihr Kernbereich ist, mit Engels’ Begriff, der wissenschaftliche Sozialismus. Dieser ist keine Ideologie, er stellt nicht den Anspruch absoluten Wissens (als Kriterium von Ideologien kann gelten, dass diese mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auftreten), sondern ist ein Corpus wissenschaftlichen Wissens, das sich der Möglichkeiten und Grenzen solchen Wissens bewusst ist und dieses Bewusstsein im Begriff der Kritik reflektiert: als Kritik der politischen Ökonomie, Kritik der Ideologie und des gesellschaftlichen Bewusstseins, Kritik der Ethik, der Kultur und der Künste usf. Positives Wissen auf allen diesen Feldern ist aus der Kritik zu gewinnen.
Das bedeutet: der Marxismus als wissenschaftliche Theorie ist ein überliefertes Corpus von Wissen, das der ständigen Überprüfung, der Revision des Fehlerhaften, der Weiterentwicklung im Licht neuer Erfahrungen und Erkenntnisse bedarf. Dies ist nicht mit Relativismus zu verwechseln, und es hat mit Revisionismus nicht das Geringste zu tun. Im Marxismus gibt es einen substantiellen Kern theoretischen Wissens, das den Test kritischer Überprüfung bestanden hat. Die Aufgabe solchen Wissens, aus welchen Gründen auch immer (meist sind es opportunistische), ist das, was man berechtigt als ‚Revisionismus’ kritisiert und ggf. auch organisatorisch bekämpft. Zum substantiellen Kern dieses Wissen gehören beispielsweise die Erkenntnisse der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, seine ideologietheoretischen Befunde, die Einsicht, dass alle bisherige Geschichte seit dem Ausgang der Urgesellschaft eine Geschichte von Klassengesellschaften ist, die Grunderkenntnisse (bei allen internen Differenzen) der von Lenin und Luxemburg entwickelten Imperialismustheorie, Grunderkenntnisse im Bereich der Kultur, der Ästhetik und der Künste, und vieles mehr. Doch selbst auf diesen Feldern gibt es historisch Neues, das theoretisch verarbeitet werden muss und zu Veränderungen, Erweiterungen der Theorie führen kann.
Die Fundamentalkategorie der marxistischen Theorie, sagte ich, ist die Dialektik, und die Dialektik als Methode erfordert und befähigt uns, eine sich verändernde Wirklichkeit im Zustand ihrer Veränderungen wie auch das Wissen über diese Veränderungen zu erfassen. Kraft der Dialektik kann es gelingen, die unerhörte Zunahme menschlichen Wissens, die sich in unserer Gegenwart vollzieht, dem Corpus marxistischen Denkens einzuverleiben. Für einen so verstandenen Marxismus habe ich den Begriff eines integrativen Marxismus geprägt; integrativ bezogen auf die Fähigkeit der Integration wissenschaftlichen wie kulturellen Wissens in die konzeptive Systematik marxistischen Denkens. Ein so verstandener Marxismus besitzt ein Zukunftspotential, das ihn über jede andere mit ihm konkurrierende wissenschaftliche Weltanschauung hinaus hebt.
Ein Beispiel für eine legitime und notwendige (also nichtrevisionistische) Korrektur überlieferter Theorie ist die Utopie. Die kritische Einstellung von Marx und Engels zur Utopie (in der Gestalt des utopischen Sozialismus) ist bekannt. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft war in der historischen Lage, in der sich Marx und Engel befanden, ein notwendiger Schritt. Heute befinden wir uns in einer anderen historischen Lage, in der einer universalen Gefährdung. Sie erfordert utopisches Denken, um Perspektiven zielorientierten Handelns zu gewinnen. Mein Vorschlag lautet deshalb, die Utopie in den Marxismus zurück zu holen, nicht gegen dessen wissenschaftliche Orientierung, sondern im Sinne ihrer Erweiterung: Utopie als Denken des historisch Möglichen; und über das zu befinden, was historisch möglich ist, liegt durchaus im Rahmen möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Jean Ziegler hat es in seinen wichtigen Büchern zum Problem des Welthungers überzeugend gezeigt.
Der Marxismus ist in seiner ideellen Substanz eine Theorie der Befreiung. Es geht ihm, mit Marx, um das Umwerfen aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – um die Emanzipation des Menschen in voller Diesseitigkeit. Als Mangel ist zu konstatieren, dass die Ausarbeitung einer politischen Ethik immer noch fehlt. Lukács plante, als Krönung seines großen Werks, im Alter eine Ethik zu schreiben, hat es aber am Ende nicht mehr tun können. Dabei ist die Ethik für den Marxismus so zentral wie es die Utopie im erläuterten Sinn ist – an deren Seite sie tritt. Sie gibt der Kritik herrschender Verhältnisse einen normativen Horizont. Im Konnex mit der Utopie verweist sie auf eine mögliche Welt, die wir uns wünschen. Es ist eine Welt, so Brecht in 'An die Nachgeborenen', einer Dichtung von epochalem Rang, „wo der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“. In solcher Welt herrscht das Ethos der Freundlichkeit und Solidarität. Begriffsgeschichtlich lässt sich eine Linie zum plebejisch-christlichen Liebesgebot ziehen, zum Gedanken der Würde, die jedem Menschen zukommt qua Mensch - kraft seiner materiellen Verfasstheit. Shakespeare hat diesen Gedanken in den Sturmszenen des Lear in einer Weise Ausdruck verliehen, die in die Grundlegung eines marxistischen Ethik gehört – vielleicht schreibe ich selbst noch einmal etwas dazu. An solcher Stelle wird die enge Verbindung des Marxismus mit den humanistischen Kunsttraditionen fassbar, wie nicht zuletzt auch mit dem Gedanken des Friedens – einer von Angst und Not befreiten Welt. Unabweisbar ist die enge Verbindung von Marxismus und Aufklärung, die Erkenntnis, dass der Marxismus ein Humanismus ist, die Zerstörung dieses Kerns ihn in seinen Wurzeln zerstört.
MR: Welchen Einfluss hatte Ihr Auslandsaufenthalt in Belfast auf Ihr Weltbild und Ihre Art, die Welt zu sehen und zu interpretieren?
TM: Ich war 10 Jahre lang in Belfast im Norden Irlands, zunächst als Lektor, dann als Dozent für deutsche Literatur am German Department der dortigen Universität tätigt. In dieser Zeit beschäftigte ich mich intensiv mit der irischen Geschichte und mit der irischen Arbeiterbewegung. Ich schrieb damals an meiner Dissertation über Sean O’Casey, den großen irischen Dramatiker. Das hat mich stark geprägt. Ich fand hier nicht zuletzt einen neuen politischen Zugang zum Marxismus. Irland, Englands erste Kolonie und auch die erste Kolonie, die den Kampf gegen koloniale Unterdrückung aufnahm, wurde mir Symbol antikolonialer Befreiung. So ist Irland meine zweite Heimat geworden, fast wäre ich dort geblieben. Ich traf dort dann auch meine spätere Frau, eine Irin. In die Ausbildung lebensgeschichtlich prägender Haltungen spielt immer auch ein Moment des Emotionalen hinein. Übrigens promovierte meine Frau später in Bremen mit einer Arbeit über den Republikanismus und Sozialismus in Irland, die geschichtliche Bewegung zwischen dem Aufklärer Wolfe Tone und den Marxisten James Connolly. Ihr daraus entstandenes Buch wird gerade in Irland neu aufgelegt.
MR: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Islam und Marxismus?
TM: Zunächst: es gibt die Differenz zwischen Marxismus und Religion. Der Islam ist eine religiöse Ideologie, der Marxismus eine auf Wissenschaft, Philosophie und Kunst beruhende diesseitige Weltanschauung. Traditionellen marxistischen Auffassungen zufolge ist diese Differenz unüberbrückbar, der Marxismus ist wissenschaftlicher Atheismus, sein Verhältnis zur Religion ein solches der Gegnerschaft – höchstens noch das eines taktischen Arrangements. Ich halte diese Folgerung für theoretisch falsch und politisch verheerend.
Gerade als wissenschaftliche Theorie, ich sagte es, kann der Marxismus keinen Anspruch auf absolutes Wissen stellen. Tut er es, macht er sich zur Quasi-Religion und wird in seinem falschen Anspruch zur Ideologie. Denn ‚wissenschaftliches Wissen ist relativ’ bedeutet gerade: Es gibt Grenzen dieses Wissens, und diese Grenzen lassen Raum für den individuellen Glauben, ja räumen diesem seinen spezifischen Raum erst ein. Deshalb ist die Auffassung vom wissenschaftlichen Atheismus ein hölzernes Eisen. Wissenschaft kann weder theistisch noch atheistisch sein. Im Rahmen wissenschaftlichen Wissens ist für Gott so wenig Platz wie für Nicht-Gott. Mit der Erledigung der Gottesbeweise durch Kant sind auch die Nichtbeweise erledigt. Im Grunde also ist die Stellung des Marxismus zu Menschen religiösen Glaubens von seinen theoretischen Prämissen her eindeutig und klar. Der Marxismus ist keine Religion, und er sollte jede Gestalt der Religionsförmigkeit ablegen, doch können religiöse Menschen sehr wohl Marxisten sein – ja sie können, was oft geschieht, ihre politischen Handlungsimpulse gerade auch aus ihrem Glauben beziehen.
Halten wir fest: der Marxismus ist seinem Wesen nach eine emanzipatorische Theorie. Sein Ziel ist ein diesseitiges: reale Befreiung, ein von Angst, Gewalt und Not befreites Dasein auf der Basis menschlicher Gleichheit. Das bedeutet: Sozialismus als reale Demokratie. Für diesen Zweck sollten alle Kräfte, die sich diesem Ziel verpflichten, zusammentreten. Angesichts der Übermacht des Gegners, und das ist das imperialistische Kapital und seine politischen Agenturen, ist der politische Zusammenschluss aller antiimperialistischen Kräfte die Vorbedingung, den Kampf überhaupt führen zu können. Religionen als Institutionen sind nach ihrer Funktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf zu beurteilen. Stellen sie sich auf die Seite der antiimperialistischen Koalition, sollen sie als gleichberechtigte Partner und Mitstreiter willkommen sein, stellen sie sich an die Seite der Herrschenden, wie sie es in der Vergangenheit oft genug getan haben, sind sie ohne Wenn und aber als Gegner zu betrachten und mit den Mitteln zu bekämpfen, die eine besondere historische Lage erforderlich macht.
Um jedes Missverständnis zu vermeiden – es handelt sich hier um einen Punkt, an dem leicht Missverständnisse entstehen können, zudem um einen Punkt von großer politischer Bedeutung -: Der Marxismus ist keine Ideologie, sein erstes Fundament ist die Wissenschaft. Seine Stellung zu institutionalisierten Religionen ist von seiner Geschichte her kritisch, er fasst diese als ideologische Formen und beurteilt sie nach ihrer gesellschaftlichen Funktion.
Der Islam wie die anderen Religionen werden danach befragt, inwieweit sie zur menschlichen Emanzipation beitragen können. Dem Islam kommt gegenwärtig angesichts seiner enormen humanen Potenzen, seiner Dynamik und weltweiten Verbreitung eine sehr wesentliche Rolle für die Gestaltung des Lebens auf unserem Planeten zu. Hat er emanzipatorische Potentiale im oben erläuterten Sinn? Das ist hier die entscheidende Frage. Inwiefern lassen sich Verbindungen zwischen dem Marxismus und dem Islam herstellen? Wenn ja, wäre dies ein wichtiger Schritt nach vorn.
Auf den ersten Blick fallen große Unterschiede auf. Doch fehlen auf beiden Seiten die Kenntnisse voneinander. Man sollte Möglichkeiten der Anknüpfung erkunden. Ich denke etwa an den spanischen Islam vor der Reconquista als gesellschaftliches Modell der Toleranz zwischen Ideologien und Religionen. In Andalusien lebten alle Menschen ihre eigene Kultur, Voraussetzung war, dass sie die staatliche Ordnung, politisch und rechtlich akzeptierten. Auch die Philosophie erlebte eine Blütezeit; ich erinnere an Blochs wegweisende Arbeit Avincenna und die aristotelische Linke. Hier erläutert er die arabische Philosophie als Teil der Geschichte materialistischen Denkens. Nicht zu vergessen ist: Aristoteles gelangte über arabische Vermittlung ins christliche Mittelalter. Die Summa contra Gentiles des Thomas von Aquin behandelt diesen Sachverhalt. Sie ist der Versuch, das christliche Denken gegenüber dem nichtchristlichen, arabischen wie jüdischen zu behaupten. Wir brauchen Studien darüber, über die Geschichte des Islam politisch wie kulturell, seine Verknüpfung mit der nichtislamischen Welt, seine kulturellen Potentiale; selbstverständlich kritische Studien, doch gerade auch solche, die seine kulturellen Errungenschaften und emanzipatorischen Leistungen ausarbeiten. In diesem Zusammenhang sei Goethes West-Östlicher Divan genannt. Hier feiert er Hafis, den persischen Dichter des 14. Jahrhunderts, als seinen Bruder im Geiste, Verkünder eines eudaimonischen Daseins, irdischer Glückseligkeit, der Vereinigung von Lebensfreude und mystischer Vergeistigung. Hier steht die islamische Welt als Gegenentwurf zur christlichen Askese. Hier finden wir Argumente gegen religiösen Fundamentalismus jeder Art, gewinnen zugleich den Boden für die literarische Völkerverständigung – Goethes Begriff der Weltliteratur.
Es sind dies Wege, historisches Bewusstsein auszubilden, Gemeinsamkeit zu stiften, Grenzen abzubauen. Die Arbeit am Humanum der Weltkulturen kann nur als gemeinsame Aufgabe gelingen. Sie hat einen zentralen Ort im marxistischen Begriff des Kulturellen.
MR: Wie kann der Marxismus heute zum Kampf für die Menschenrechte und die Gerechtigkeit beitragen?
TM: Auch hier ist eine theoretische Vorklärung vonnöten. Der Gedanke des Rechts (um Hegels Begriff zu verwenden) ¬- die Frage nach individuellem Recht, Völkerrecht, Menschenrechten - wurde im traditionellen Marxismus nur allzu oft allein unter ideologischen Gesichtspunkten, also kritisch gesehen, und in manchen Formen des Marxismus wird er es heute noch. Selbstredend ist Recht in den Klassengesellschaften in erster Linie Klassenrecht. Vergessen wurde und wird aber, dass das Recht darüber hinaus eine zivilisatorische Errungenschaft ist, die über seinen Klassencharakter hinaus weist - als Menschenrecht, Völkerrecht, individuelles Recht, Rechtsstaatlichkeit, in der Form der Rechtgesellschaft, wie ich sagen möchte. Allein die Stalinherrschaft sollte uns belehren, was es bedeuten kann, wenn im Sozialismus elementare Rechtsgrundsätze verletzt werden. Auf allen Ebenen und an vielen Orten erleben wir in der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft, die sich so freiheitlich und demokratisch gibt, einen Abbau von Rechtsstaatlichkeit – am fortgeschrittensten in den USA, im europäischen Umfeld in der Türkei –, die Eleminierung fundamentaler Rechte. Der emanzipatorische Kampf heute ist in weiten Teilen zu einem Kampf um den Erhalt - perspektivisch den Ausbau - der Rechtgesellschaft geworden.
Blicken wir auf Deutschland. Im zunehmenden Maß zeigt sich, dass Deutschland zutiefst gespalten ist. Fraglos gibt es in großen Teilen der Bevölkerung ein solides demokratisches und human-solidarisches Bewusstsein. Auf der anderen Seite aber zieht der rechte Radikalismus in Gestalt der AfD in die Parlamente ein. Wir haben einen öffentlich agierenden Neofaschismus, der braune Pöbel fackelt die Unterkünfte von Flüchtlingen ab, die Polizei ist unfähig (oder unwillens), diese zu schützen. Der sog. Verfassungsschutz agiert in einem rechtsfreien Raum, seine Verbindung zum rechten Untergrund kommt im NSU-Prozess scheibchenweis an den Tag. Einzelheiten kann man nur ahnen, nicht wissen. Die Durchsetzung der Rechtsgesellschaft – praktizierte Rechtstaatlichkeit – ist hier erst Forderung, nicht Realität.
Es geht also zunächst darum, in dieser finsteren Zeit den Rechtsstaat zu verteidigen, demokratische und Rechtsverhältnisse herzustellen, wo es sie nicht gibt. Unsere Kräfte und Möglichkeiten sind gering. Es gibt viele Aufgabenfelder: die politische Arbeit, Arbeit an den Schulen und Universitäten. An Universitäten ist die Lage für Marxisten desolat. Die Inhalte der Ausbildung haben sich verändert – in Richtung der Verbürgerlichung der Wissenschaft, die in den ideologisch neuesten Moden, zuletzt postmodern drapiert, daherkommt. Die Professoren wurden entsprechend ausgewechselt. Heute gibt es kaum mehr (wenn überhaupt) marxistische Lehre an den Universitäten. Die Verhältnisse hier sind bedeutend schlimmer als beispielsweise in den USA, wo es noch linke, auch marxistische Hochschullehrer gibt, nicht nur Berühmtheiten wie der bewundernswerte Noam Chomsky, sondern auch andere mit unbekanntem Namen. Bei uns wurde der akademische Augiasstall nach der sog. Wiedervereinigung – ich ziehe es vor, von der Reconquista zu sprechen – von allem linken Unrat befreit.
MR: Wie können wir marxistische Ideale in der westlichen Gesellschaft umsetzen?
TM: Durchsetzbar sind sie, wenn überhaupt, nur langfristig, durch das, was ich eine demokratische Revolution nenne. Damit gemeint ist eine grundlegende Transformation der Produktions- und Herrschaftsverhältnisse im Rahmen des Rechtsstaates. Grundlage ist die Vergesellschaftung des monopolistischen Eigentums wie des Finanzkapitals, die gesellschaftliche Kontrolle im Bereich der ökonomischen Basisverhältnisse, eine Entwicklung des Rechtstaats selbst über seine klassenmäßigen Schranken hinaus – die Herausbildung also eines sozialistischen Rechtsgesellschaft. In der Epoche des imperialistischen Kapitals ist dies ein gewaltiges Unternehmen.
Das imperialistische Kapital scheint so uneinnehmbar wie die Stadt Rom in der Epoche des römischen Imperiums. Doch ist solche Transformation im Rahmen des demokratischen Rechtsstaats prinzipiell möglich – so in unserem Land im Rahmen des Grundgesetzes -, und wenn auch im europäischen Rahmen eine solche Politik keine reale Grundlage hätte, in anderen Teilen der Welt, so in Lateinamerika, ist sie bereits politische Tatsache.
Eine demokratische Revolution ist keine romantische Spinnerei noch eine anarchistische Gewalttat, sie ist reale Möglichkeit politischen Handelns im Heute und Hier. Ihre erste Stufe wäre die Vergesellschaftung des imperialistischen Kapitals. Auf dieser Grundlage hätte der demokratische Umbau des zivilgesellschaftlichen wie des juristischen und staatlichen Bereichs zu erfolgen – nach den Kriterien der demokratischen Revolution, deren Ziel es ist, die Bedingungen für die volle Verwirklichung der menschlichen Potentiale zu schaffen.
Dabei dürfen wir nie aus dem Auge verlieren, was Kommunismus im marxistischen Sinn bedeutet: eine friedliche, solidarische Welt; die Umwandlung des bürgerlichen Rechtsstaats in eine universale Rechtsgesellschaft; die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, ökonomisch, sozial, kulturell; Befreiung von materieller Not als Bedingung kultureller Bildung; gerechte Verteilung des gesellschaftlichen als Voraussetzung für die Reichtumsentfaltung individuellen Lebens; gesellschaftliche Individualität als Kernkategorie; Bewahrung der Natur als dem kosmologischen Wohnort des Menschen. In seiner normativen Gestalt ist der Kommunismus eine konkrete Utopie. Die Verwirklichung seiner emanzipatorischen Ideale wird nur in einem langen Zeitraum, über viele Stufen hinweg möglich sein.
Heute ist das Ringen um Verfassung und Rechtsstaat ein Kampf um die Voraussetzung der Revolution. Pointiert gesprochen: die Revolution hat mit diesem Kampf schon begonnen. Und sicher ist eines: Kampf wird es geben, harten Kampf, denn niemand glaube, dass das Kapital kampflos die Bühne der Weltgeschichte verlassen wird. Ist es, wie Marx sagt, „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt gekommen (Kapital I, MEW 23, 788), so wird es auch in keiner anderen Gestalt die Welt wieder verlassen, und nicht auszuschließen ist die Möglichkeit, dass es die Menschheit in seinen Höllensturz hineinreißt.
Die Bedingungen für eine solche Umgestaltung sind gegenwärtig schlecht, doch wäre Resignation die falscheste aller Haltungen. Sie hieße aufzugeben, bevor der Kampf überhaupt begonnen hat. Geduld ist die erste Tugend des Revolutionärs. Als Wissenschaftler und Marxisten sollten wir gelernt haben, historisch zu denken. Es dauerte Jahrhunderte, bis sich die bürgerliche Gesellschaft gegenüber der feudalen als weltgeschichtliche Gesellschaftsform durchgesetzt hatte. Der Prozess lief über eine Reihe von Revolutionen; er begann im 14. Jahrhundert und war endgültig erst im 19. und 20. abgeschlossen, ja noch heute gibt es ein Reihe von Monarchien und andere modernde Reste des Feudalismus. Währen der Hoch-Zeiten Roms erschien deren Bewohnern das Römische Reich für die Ewigkeit gemacht, seine Kaiser ließen sich als Götter feiern, und doch verging es im Strudel der Geschichte und ließ nur die bekannten und viel bestaunten Reste zurück. So sollten auch wir die Dimension geschichtlicher Zeit, ihre langfristigen Strukturen, für unseren Kampf wie für unseren Begriff der Zukunft stärker in unsere Überlegungen einbeziehen.
Die Geschichte bewegt sich nicht geradlinig, sondern verläuft in Spiralen – eine Metapher, die Peter Weiss von Lenin übernahm und in der Ästhetik des Widerstands verwendet. Die Gefahr der Katastrophe ist allgegenwärtig, der Rückfall in Barbarei eine ständige Möglichkeit. Die Re-Barbarisierung ist dem Imperialismus wesensmäßig eingeschrieben. Heute bewegen wir uns nach zwei Weltkriegen und dem europäischen Faschismus auf einen neuen Höhepunkt zu.
Soeben warnt Noam Chomsky vor der Gefahr eines, jetzt von den USA ausgelösten, dritten Weltkriegs. In seinem Fall wäre „die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens der menschlichen Gattung auf ein Minimum reduziert“. Chomsky erinnert an Einsteins Antwort auf die Frage, welche Waffe im nächsten Krieg nach der Atombombe eingesetzt würde: „die einzige Waffe, über die der Mensch dann noch verfügen würde, wäre eine steinerne Axt“. („Gespräch mit Noam Chomsky“. Junge Welt vom 7. März 2016, Nr. 56) Im Kampf um Frieden geht es heute um nichts Geringeres als um die Errettung der Menschheit.
Doch auch ohne den äußersten Fall leben wir, allem technologischen Fortschritt zum Trotz, in einer Epoche des zivilisatorischen Regresses. Er wird bestehen, ja an Dynamik gewinnen, so lange seine Ursachen nicht beseitigt sind. Sie liegen in den herrschenden Produktions-, Eigentums- und Machtverhältnissen. Seit Lenin und Luxemburg tragen sie den Namen Imperialismus. Mit großem Scharfsinn erkannten diese – wohl als erste – das zutiefst barbarische Wesen des imperialistischen Kapitalismus. Dieser ist „Epoche der Kriege und Revolutionen“. Charakteristisch für ihn ist die Verschmelzung von Monopolkapital und Finanzkapital, damit verbunden die Ausbildung eines Systems kosmopolitischer Herrschaft (‚kosmopolitisch’ verstanden in dem Sinn, den Marx und Engels dem Begriff im Kommunistischen Manifest gegeben haben): „das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige“ (Lenin, „Der Imperialismus als neueste Etappe des Kapitalismus“, Werke 22, 304-06), Ist der Imperialismus auch imstande, den technologischen Fortschritt in einem nicht vorhersehbaren Maß voranzutreiben – in die hochtechnologische Produktionsweise der Gegenwart bis hin zur projektierten Erfindung transhumaner Intelligenzen, die den Menschen ersetzen sollen -, so repräsentiert er in seiner internen kulturellen Verfasstheit die Re-Barbarisierung menschlicher Zivilisation in einem ebenso unvorstellbaren Maß, - das dem des technologischen Fortschritts gleichwohl korrespondiert. In dieser historischen Lage tritt die Möglichkeit des Menschheitssuizids an die Seite der Re-Barbarisierung.
Der Kampf gegen eine gesellschaftliche Formation, die solche Folgen zeitigt, ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und in aller Härte zu führen. Ich komme hier auf den Begriff der ‚demokratischen Revolution’ zurück, die Tatsache, dass in diesem Land wie in anderen Ländern bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit dieser Kampf legal geführt werden kann; Neruda spricht, mit Blick auf die chilenische Revolution, von der „legalen Revolution“. Der Kampf ist legal zu führen, solange der Rechtsstaat besteht – dabei wissen wir, dass die herrschenden Kräfte die ersten sein werden, ihm zu Leibe rücken, wird ihre Macht bedroht (so wurde dann auch die chilenische Revolution, wie schon die spanische, mit Hilfe des imperialistischen Kapitals von einer faschistischen Diktatur in Blut erstickt). Doch selbst wenn dieser Kampf gelingt: es werden viele Stufen benötigt werden, vermutlich viele Revolutionen – mit Marx: eine ‚Epoche sozialer Revolutionen’ -, um dieses Gebäude des Unrechts (Hegels Begriff) zu beseitigen.
Es wird Zeit vergehen, bevor die Menschheit wieder an die Arbeit des Fortschritts gehen kann. Mit Brecht zu sprechen: Das Ziel liegt „in großer Ferne“. Es ist „deutlich sichtbar“, wenn auch für uns „kaum zu erreichen“ (An die Nachgeborenen).
MR: Erzählen Sie uns bitte etwas über die Grundgedanken Ihres Buches Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur.
TM: Mein seit langem vergriffenes Buch gibt eine Art Übersicht in Ausschnitten über die Entwicklung des Friedensgedanken in der europäischen Literatur. Es nimmt ein Thema auf, über das in den traditionellen Philologien wenig gearbeitet wurde; umso erstaunlicher, denn Krieg und Frieden spielen in dieser Literatur eine bedeutende Rolle (und nicht nur in ihr, auch in der anderer Kulturen, ich möchte allein an China erinnern). In meinem Buch arbeite ich skizzenartig und setze Schwerpunkte. Ich gehe auf die Antike zurück, auf Epos, Drama und Lyrik, frühe Artikulationen des Friedensgedankens bei Homer, Euripides, Aristophanes, Vergil. Hier schon geht es nicht nur um Krieg und idealisiertes Heldentum, sondern auch um die Schrecken des Kriegs (man denke an Euripides’ trojanische Dramen), um die Notwendigkeit des Friedens, in Vergils Vierter Ekloge bereits um die Utopie einer friedlichen Welt. Kursorisch behandle ich die Tradition des christlichen Friedensgedanken, ein weiterer Schwerpunkt ist Shakespeare. Ich ziehe dann die Linie über Humanismus, Aufklärung, Klassik, Romantik zur Moderne. Das Buch schließt mit einer Studie zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands und einem Essay zu Picassos Guernica. Damit werfe ich einen Blick über die Grenzen der Literatur hinaus ins Nachbarland der Malerei.
In gewisser Weise war das Buch eine Entdeckung für mich. Mir war, bevor ich es schrieb, nicht klar, in welch starkem Maß die Kritik von Krieg und Gewalt und als Gegenbild der Gedanke des Friedens der Literatur Europas eingeschrieben ist. Doch gilt dies auch für andere Literaturen. So gibt es in der chinesischen Lyrik die Kontinuitätslinie einer gegen den Krieg gerichteten Dichtung, die der europäischen um nichts nachsteht. Hier erschließt sich Vergangenheit in Dimensionen, welche die Zukunft zur Utopie hin öffnen. In ihr ist der Frieden ein bestimmendes Moment.
Die Frage nach Frieden ist eine Grundfrage unserer Epoche – ich habe dies in der vorigen Antwort ausgeführt. Die Friedensfrage sollte daher auch ein Zentrum unserer wissenschaftlichen Bemühungen bilden. Dass sie es so wenig ist, wirft ein Licht auf den herrschenden Geist dieser Zeit
Thomas Metscher stellte uns das Interview zur Verfügung, das Milena Rampoldi für promosaik.blogspot.de mit ihm führte
foto: Thomas Metscher bei einem Treffen der marxistischen linken in Frankfurt
siehe auch: