Interview mit Elena Papadopoulou
13.05.2015: Am 9. Mai war die griechische Linksregierung mit Premierminister Alexis Tsipras die ersten 100 Tage im Amt. Vom ersten Tag an wurde sie von der 'Troika', mit Merkel und Schäuble an der Spitze, erbittert bekämpft. Trotz des Drucks hat sie die ersten 100 Tage überstanden. Jedoch treibt das "finanzielle waterboarding" (Finanzminister Varoufakis) Griechenland inzwischen an die Grenze der Zahlungsunfähigkeit. Da die Überbrückungsübereinkunft mit der Eurogruppe bald ausläuft, wird der Konflikt zwischen den 'Institutionen' und der griechischen Regierung schärfer.
Wir veröffentlichen ein Interview mit Elena Papadopoulou, um die Dynamik zwischen der griechischen Wirtschaft und der Europäischen Union (EU), die Rolle Deutschlands und der Vereinigten Staaten und die Strategie SYRIZAs für die laufenden Verhandlungen besser zu verstehen. In dem Interview wird der Frage nachgegangen, wie die ökonomische Strategie von SYRIZA angesichts der Position Griechenlands in der Eurozone aussehen sollte.
Elena Papadopoulou ist eine Ökonomin, die zur Zeit als wirtschaftliche Beraterin des griechischen Ministers für internationale ökonomische Beziehungen arbeitet. Sie ist außerdem ein Vorstandsmitglied des Nicos Poulantzas Instituts und eine Mitherausgeberin der griechischen Ausgabe des Magazins von transform!. Das Interview wurde von Catarina Príncipe und George Souvlis für das Magazin Jacobin durchgeführt und am 22. April 2015 vom Nachrichtenportal LEFT IN GOVERNMENT veröffentlicht
Frage: Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Griechenland und der Europäischen Union - wie würden Sie den Prozess der Neoliberalisierung der griechischen Wirtschaft beschreiben? Ist das vor allem ein von außen aufgezwungener oder auch ein innerhalb Griechenlands entstandener Prozess?
Elena P.: Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu sehen, wie unterschiedlich sich verschiedene europäische Länder ökonomisch durch ihre Beteiligung an der EU und der Eurozone entwickelt haben. Damit sollten wir anfangen, wenn wir die Berechtigung des Arguments testen, das im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise vorgetragen wurde, Griechenland sei eine Ausnahme im Prozess der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gewesen.
Dazu müssen wir uns die Geschichte des Neoliberalismus sowohl in Griechenland als auch in Europa anschauen. Das ist die rote Linie, die die Krise der öffentlichen Verschuldung Griechenlands mit der irischen Bankenkrise verbindet, mit der spanischen Immobilienkrise und der Stagnation in Frankreich und Finnland. Wenn man diese Fragmente zusammenfügt, wird deutlich, warum und wie die ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen innerhalb der EU so, wie Sie sagen, angespannt geworden sind.
Worauf die Linke in Griechenland lange vor dem Ausbruch der Krise von 2010 hingewiesen hat, war die Notwendigkeit, die Hauptpunkte der neoklassischen Wirtschaftspolitik und -Theorie anzugreifen; nämlich dass das Falsche in Griechenland sei, dass es niemals zu einem voll entwickelten kapitalistischem Staat geworden sei, dass es sich niemals genug modernisiert und liberalisiert habe und dass es in der Falle unabdingbarer Rechte innerhalb des Staates gefangen blieb, die die Aspirationen und das Potential des privaten Sektors in einem ineffektiven Teufelskreis hielten. Daher, so das Argument weiter, waren es Insider-Interessen, die sowohl den privaten Sektor als auch die griechische Wirtschaft insgesamt zu Fall brachten.
Schaut man sich die Tatsachen an, sieht man, dass dies nicht der Fall ist. Der Neoliberalismus arbeitete sich in die griechische Wirtschaft seit Mitte der 1990er Jahre hinein; mit Privatisierungen, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Reduzierung der Steuern für Unternehmen usw.. Alle wichtigen Bausteine des Neoliberalismus waren da. Daher stimmt das Argument der 'Ausnahmesituation Griechenlands', weil es nicht getan habe, was die 'guten' kapitalistischen Staaten machten, nicht.
Um auf die Frage zurückzukommen, ob der Neoliberalismus von außen oder von innen kam - die Antwort lautet, dass der Neoliberalismus und die für ihn wirkenden politischen und wirtschaftlichen Kräfte die griechische Wirtschaft genauso umgestaltet haben, wie die Wirtschaft aller anderen europäischen Länder in den letzten Jahrzehnten.
Die Gründe, warum die Krise in Griechenland sich akuter als anderswo entwickelt hat, muss im Hinblick auf die spezifischen Charakteristika, die der Kapitalismus in verschiedenen nationalen Zusammenhängen annimmt, betrachtet werden. Wir sollten diese Charakteristika nicht unterschätzen. Wir müssen auch die chronischen Probleme der griechischen Wirtschaft, des griechischen Staates und der griechischen Staatsführung mitberücksichtigen. Aber um diese Themen zu behandeln, dürfen wir die Kausalzusammenhänge nicht durcheinanderbringen und müssen uns über die Natur der Probleme klar werden.
Frage: Also - obwohl die Trends zur Neoliberalisierung in der Europäischen Union ähnlich verlaufen, gibt es Unterschiede entsprechend der politischen und ökonomischen Strukturen jedes Landes und entsprechend der Position, die sie im Verhältnis zwischen Kern und Peripherie einnehmen.
Elena P.: Wir müssen insgesamt über die Eurozone als Währungszone sprechen - nicht nur im Zusammenhang mit der Krise. Und wir müssen auf die Lesarten zurückschauen, die vermittelten, der Typ wirtschaftlicher Einigung, den Europa verfolgte, hätte nur in 'guten Zeiten' funktionieren sollen. Was deshalb passierte, war, dass es der Eurozone an etwas mangelte, was für eine Währungsunion unverzichtbar ist, wenn sie funktionieren soll: an einem tatsächlichen wirtschaftlichem Zusammenlaufen, einer Konvergenz.
Besonders in den Jahren der Krise wurde klar, dass ein entgegen gesetzter Prozess in Gang gesetzt wurde: ein Auseinanderlaufen, eine Divergenz, die dazu tendierte, eine Kern-Peripherie-Struktur zu schaffen, der gleichzeitig Mechanismen der Finanztransfers und laufenden Kontoausgleichungen fehlen.
Frage: Können Sie vor diesem Hintergrund die Rolle Deutschlands, sowohl heute als auch in den letzten Jahrzehnten klarstellen?
Elena P.: Eine der üblichsten Anklagen gegen das deutsche Paradigma ist, dass es seit den 1990er Jahren seine Wettbewerbsfähigkeit auf die sogenannte 'Lohnzurückhaltung# aufgebaut habe. Diese half Deutschland, eine stark exportorientierte Wirtschaft aufzubauen, die gleichzeitig allen anderen europäischen Ländern als Modell präsentiert wurde.
Das Problem mit diesem Modell ist, dass es nicht in einem relativ großen geschlossenen Wirtschaftsraum funktionieren kann. In anderen Worten: wenn das Ausmaß von Transaktionen, die innerhalb der EU durchgeführt werden, einen hohen Prozentsatz der Gesamttransaktionen der beteiligten Länder ausmacht, kann nicht jeder einen laufenden Überschuss ausweisen.
Dies bedeutet, dass Deutschland weiß, wenn es schulmeistert, dass alle anderen Länder seiner erfolgreichen Führung folgen müssen, dass dieses Argument sich selbst schlägt, und dass gleichzeitig die Waagschale immer auf seine Seite ausschlagen wird, wenn die Binnennachfrage nicht stark genug ist, um Exporte aus anderen Ländern zu absorbieren.
Um fair zu sein, müssen wir aber feststellen, dass Deutschlands erfolgreiches exportorientiertes Wachstumsmodell nicht nur auf 'Lohnzurückhaltung' basierte. Studien über den deutschen Arbeitsmarkt weisen darauf hin, dass es viel Dualismus gibt, zum Beispiel zwischen den Löhnen im öffentlichem Sektor und denen im exportorientierten Privatsektor; ebenso wie einen großen deregulierten Dienstleistungsmarkt mit viel Prekarität und Unsicherheit.
Gleichzeitig behielt Deutschland viele Mittel zur Entwicklung, die in Griechenland während der Krisenjahre aufgrund blinder, horizontaler interner Entwertung zerstört wurden - darunter kleine Banken für spezielle Anliegen, kooperative und Entwicklungsbanken usw.. Daher scheint Deutschland in unserem Fall vorzuschlagen: “Tue was ich sage, aber mache nicht was ich tue.“
Frage: Was ist mit der Rolle der Vereinigten Staaten in all dem?
Elena P.: Seit langer Zeit sagt die USA schon, dass Europa seinen Job nicht erledigt, die Weltwirtschaft aus der Krise zu ziehen. Und es stimmt, dass die USA in diesen ganzen Jahren eine viel expansivere Finanz- und Geldpolitik betrieben hat als die Eurozone.
Daher würde man erwarten, dass sich dies in der der Haltung des Internationalen Währungsfonds - besonders in der Sache Griechenland - widerspiegeln würde; in Richtung auf eine Aufgabe der Sparpolitik und eine Bewegung in Richtung auf eine mehr wachstums- und investitionsorientierte Strategie. Unglücklicherweise hat sogar die 'Vervielfältiger' Diskussion (die Unterschätzung des finanziellen Schadens durch die Sparpolitik) nicht zu einem grundsätzlichen Sinnungswandel, geschweige denn zu einem anderen Handeln geführt.
Frage: Können Sie etwas über den konzeptionellen Zusammenhang der Sparpolitik sagen und warum sie nicht zu einer wirtschaftlichen Erholung führen kann?
Elena P.: Die Spar- oder Austeritätspolitik basierte auf dem theoretischen Konzept einer 'Ausgabeneinschränkung' und war verbunden mit ökonomischen, politischen und moralischen Argumenten. Das grundlegende Argument dieses Konzeptes ist nicht neu. Eine ähnliche Debatte fand in der Zeit der Großen Depression der 1930er Jahre mit den sogenannten 'Liquidationstheoretikern' statt und auch während der Krise der 1970er Jahre.
Die erzählte Geschichte war ähnlich: Gewisse Volkswirtschaften leben über ihre Verhältnisse und müssen deshalb eine Strategie finanzieller Konsolidierung und kreativer Zerstörung verfolgen. Im Falle Griechenlands - ohne echte Entwertung oder expansiver Geldpolitik - hatten wir statt erweiterter Einschränkung in Wirklichkeit eingeschränkte Einschränkung.
Was wir aus den 1930 er Jahren und von Keynes theoretisch und politisch hätten lernen sollen, ist, dass es in einer strukturellen Krise keinen automatischen Marktmechanismus für eine wirtschaftliche Re-Balancierung gibt. Wie konnten wir vergessen, dass der Markt uns nicht wieder zur Vollbeschäftigung bringen kann, wenn es keine staatliche Intervention gibt, wenn es keine öffentlichen Investitionen gibt, die einen produktiven Prozess starten und wenn es keine Mittel gibt, die Entwicklung fördern, wie etwa eine zusammenhängende Industriepolitik?
Während der letzten fünf Jahre ist Griechenland, ökonomisch gesehen, um Jahrzehnte zurückgefallen und hat große Verluste an produktiven und menschlichen Kapazitäten erlitten. Ohne einen positiven Schock könnte der gegenwärtige Zustand zu einem langfristigen Herumkrebsen am Boden werden.
Das ganze Konzept innerer Entwertung hat seine Grenzen aufgezeigt: Griechenland kann nicht erwarten, Wettbewerbsfähigkeit durch Lohndrückerei zurückzugewinnen; das ist eine Strategie, die keinen Sinn macht. Im Gegenteil, Griechenland muss seine produktive Basis wieder aufbauen, durch Qualität und Pluralität, was seine Produktionsformen betrifft. Es muss auch auf seine sozialen Kapazitäten bauen, auf seine hochgebildete, hochqualifizierte menschliche Dynamik; es muss von den weitverbreiteten kreativen Experimenten selbstorganisierter, gemeinschaftsorientierter Initiativen lernen, die sich im ganzen Land in den letzten Jahren entwickelt haben.
Frage: Was ist mit heute? Wie ist SYRIZAs Herangehen an die Probleme innerhalb der EU und der Eurozone, wie ist SYRIZAs Strategie für die anstehenden Verhandlungen?
Elena P.: Die neoliberale Entwicklung der EU hat sich nun schon seit vielen Jahren zu einem Prozess sozialer Delegitimierung entwickelt. Dieser Prozess (verschärft durch die Krise) wurde besonders in Griechenland akut und führte zu einer großen politischen Veränderung, die ihren Kurs in Frage stellte.
SYRIZAs Ziel war vor der Wahl am 25. Januar und ist bis heute, dem Slogan “Griechenland verändern, Europa verändern” Inhalt zu geben. Angesichts der gegenwärtigen Konstellation hört sich das vielleicht als ein unrealistisches Projekt an. Aber wenn wir an den Kern der Probleme denken und den Ernst der Situation, können wir ökonomisch und - vielleicht noch wichtiger - politisch nicht einfach davonkommen, indem wir die Blechdose die Strasse hinunterkicken.
Grundsätzliche Fragen müssen angegangen werden: Ist der Prozess der Währungsunion angesichts der verschiedenen Wirtschaftsstrukturen in den verschiedenen teilnehmenden Ländern wirklich lebensfähig? Kann er weitergehen? Wenn nicht - unter welchen Bedingungen und mit welcher Strategie kann er verändert werden?
Meiner Meinung nach muss die Linke in Griechenland und in Europa jetzt diskutieren, wie wir eine zusammenhängende Strategie für wirtschaftliche Solidarität entwickeln können, die das Wirtschaftsmodell der Monokultur des Privatmarkts herausfordert und alternative Mechanismen für Finanztransfers entwickelt sowie ökonomische Ziele mit sozialem Wohlergehen usw. verbindet.
In diesem Sinne ist es SYRIZAs Verpflichtung, die ganze Tagesordnung auf den Tisch zulegen, jeden an dem Problem zu beteiligen, es klar zu machen, dass es nicht nur um ein Griechenland-Problem geht, dass wir damit aufhören müssen, wegzusehen und einfach nur die Blechdose die Strasse hinunterzukicken. Das ist ein Teil der Strategie. Der andere Teil der Strategie ist, tatsächlich innerhalb Griechenlands Dinge zu tun, die aktiv Teile der Lösung darstellen.
Das Problem ist, dass die Europäischen Institutionen und die europäischen politischen Eliten nicht ehrlich sind, wenn es um die Fehler des Projekts geht. Das führt sie dazu, die Tatsache zu negieren, dass dies eine Möglichkeit für ganz Europa ist, über sich selbst neu nachzudenken und gleichzeitig Griechenland zu erlauben, eine Politik durchzuführen, die beweist, dass alternative Wege tatsächlich existieren.
In der kurzen Zeit der Überbrückungs-Übereinkunft sollte SYRIZAs Ziel sein, seine 'Roten Linien' beizubehalten und gleichzeitig eine linke Tagesordnung zu verfolgen, die kurzfristige Maßnahmen mit mittelfristiger Politik verbindet die zu gesellschaftlicher Transformation führt.
Gleichzeitig muss SYRIZA Menschen innerhalb und außerhalb Griechenlands überzeugen, dass die Durchführung eines solchen Programms unverzichtbar für Griechenland ist, wenn es überleben und sich entwickeln will, und dass der Grund, warum die Regierung diese Politik verfolgt, darin liegt, dass alles andere die Gesellschaft zerstören würde.
Wenn diese kurze Periode endet, müssen wir klar machen, dass wir an beiden Fronten Fortschritte erzielt haben: Auf der einen Seite die Frage der politischen und ökonomischen Sackgassen der Eurozone zu stellen, indem wir alle Tatsachen einbeziehen, die diese Sackgassen aufzeigen, und auf der anderen Seite eine echt linke Agenda abzuarbeiten, so dass unsere soziale Basis sicher sein kann, dass wir ihre Interessen nicht aufgeben.
Fairness, Gleichheit und Hoffnung nach Griechenland zu geben, um dem Teufelskreis der Sparpolitik zu entkommen - das ist die einzige glaubhafte Leitschnur für die Regierung, nicht nur in der Zeit der Verhandlungen, sondern in der ganzen Regierungszeit.
Übersetzung: Jürgen Köster (4.5.2015)
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