Im Interview

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28.09.2014: Mako Qocgiri ist Mitarbeiter des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad. kommunisten.de führte mit ihm ein Gespräch über die dramatische Situation in Kobanê, über Waffenlieferungen, Völkerrecht, das gesellschaftliches Projekt in Rojava, ....

Frage: Die Ereignisse in Rojava (Syrisch-Kurdistan) überschlagen sich ja gerade. Seit zwei Wochen ist die kurdische Stadt Kobanê von tausenden Kämpfern des 'Islamischen Staats' belagert. Kannst du uns ein Update über die aktuelle Lage, vor allem um die Stadt Kobanê herum, geben? Konnte der 'Islamische Staat' gestoppt werden?

Mako Qocgiri: Gestoppt werden konnte er leider nicht. Vor allem vom Süden her kommt der IS dem Stadtzentrum von Kobanê bedrohlich nah. Aber auch im Osten und im Westen der Stadt halten die Auseinandersetzungen an. Die Situation ist dieses Mal wirklich ernst. Der aktuelle Vormarsch des IS kann nicht mit den bisherigen Angriffsversuchen auf die Gebiete von Rojava verglichen werden. Die YPG (Volksverteidigungseinheiten) erklärten heute (27.09.), dass der IS einen Großteil seiner Kämpfer um das Stadtzentrum von Kobanê versammelt hat. Dasselbe gilt auch für die schweren Waffen und die Panzer, die er vom irakischen und syrischen Militär erbeutet hatte. Mit vergleichsweise einfachen Waffen versuchen die Kurden dort die Angriffe aufzuhalten. Doch wie lange ihnen das noch gelingt, und ob sie vielleicht tatsächlich den IS stoppen können, kann derzeit kaum jemand vorhersagen.

Frage: Seit dieser Woche bombardiert die USA Stellungen des Islamischen Staates auch in Syrien. Haben diese Bombardements eine Erleichterung für die bewaffneten Volksverteidigungseinheiten, YPG, gebracht?

Mako Qocgiri: Die Informationen, die uns derzeit aus der Region erreichen, lauten, dass es bislang zu keinen Angriffen auf IS Stellungen in der Nähe von Kobanê gekommen ist. Es sind zumeist südlichere Positionen des IS, die angegriffen werden. Und das führt nicht zu einer Erleichtung für die YPG im Kampf gegen den IS, sondern genau zum Gegenteil dessen. Denn durch die Luftangriffe flüchten die IS Mitglieder weiter gen Norden, wo sie sich dann letztlich auch dem Kampf um Kobanê anschließen.

Seit gestern Abend wird davon berichtet, dass wohl US-Kriegsflieger das umkämpfte Gebiet von Kobanê umfliegen, aber bislang soll es zu keinen Bombardierungen in der Region gekommen sein. Es scheint fast so, als nimmt die sog. Anti-IS-Koalition einen möglichen Fall Kobanês in Kauf.

Frage: YPG-Sprecher Redur Xelil hat diese Luftangriffe in einer Presseerklärung vom 25.9.14 als "von großer Bedeutung und wirklich erforderlich" bezeichnet. Die deutsche Friedensbewegung verurteilt in einer Erklärung die Bombardements als einen Bruch des Völkerrechts, da diese ohne Einwilligung des syrischen Regimes geschähen. Gleichzeitig spricht sie sich für humanitäre Hilfe für Rojava aus. Wie steht die kurdische Bewegung zu dieser zwiespältigen Situation zwischen Bruch des Völkerrechts und Rettung von Rojava?

Mako Qocgiri: Wie die kurdische Bewegung zu dieser Situation steht, kann ich nicht sagen. Doch wir haben in unserem Zentrum auch über diese Frage diskutiert und ich kann dir mitteilen, welche Position sich bei uns herauskristallisiert hat:

Im Prinzip verurteilen wir jegliche Form einer militärischen Intervention von außen in Syrien. Die kurdische Bewegung in Rojava war auch stets Befürworterin eines demokratischen Wandels in Syrien ohne äußere Einmischung. Doch die de-facto Situation in Syrien macht es schwer, an dieser Argumentation so festzuhalten.

Zunächst einmal muss vor Augen gehalten werden, dass Syrien durch die anhaltende Kriegssituation derzeit kein intakter Staat ist. Es ist kein Geheimnis, dass es beispielsweise in Rojava kaum noch eine Präsenz des Regimes gibt. Aber auch der IS hat bedeutende Gebiete des Landes unter seine Kontrolle gebracht und verfügt auf diesen Gebieten sozusagen über das Machtmonopol. Das verkompliziert natürlich die Lage. Und nun sagst du auch, dass es auf der anderen Seite wohlmöglich um die Rettung Rojavas geht. Der IS vertritt eine faschistische Ideologie und sollte Kobanê in die Hände dieser Organisation fallen, sind Massaker vorprogrammiert. Was Anfang August in Sengal (Sindschar) passiert ist, ist noch frisch in unserer Erinnerung.

Man muss es leider so sagen, die Kämpferinnen und Kämpfer in Kobanê sind, was die Bewaffnung angeht, mit einer Übermacht konfrontiert. So gesehen, könnten gezielte Luftschläge auf IS-Stellungen im Gebiet um Kobanê herum die Last auf den Schultern der widerstandleistenden Menschen in der Stadt ein wenig verringern. Das bedeutet aber sicherlich nicht, dass die Kurdinnen und Kurden ihre gesamte Hoffnung nun auf Luftschläge der USA oder der NATO-Staaten setzen. Sie vertrauen weiterhin auf ihren eigenen Widerstandsgeist und ihren Willen zur Freiheit. Und selbstverständlich ist sich die kurdische Bewegung auch darüber bewusst, wer in erster Linie für die Umstände im Mittleren Osten verantwortlich ist, die den idealen Nährboden für das Gedeihen einer faschistischen Organisierung wie den Islamischen Staat geboten hat.

Frage: In der konkreten Situation sind die Menschen und KämpferInnen in Rojava bestimmt dankbar für jede Art von Hilfe. Trotzdem überrascht eine mögliche Zusammenarbeit zwischen USA und der YPG, die weltanschaulich der PKK nahe steht. Diese wiederrum wird von den USA als Terrororganisation gelistet. Sind die Interessen von USA und PKK/YPG auf Dauer vereinbar?

Mako Qocgiri: Keinesfalls. Wir gehen davon aus, dass dies auch der Grund dafür ist, dass der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen so zögerlich handeln, wenn es um eine Unterstützung der KurdInnen in Rojava im Kampf gegen den IS geht. Dasselbe gilt auch für die deutsche Bundesregierung, die ja die Peshmerga-Kräfte derzeit in Südkurdistan/Nordirak ausbildet, aber gleichzeitig klar und deutlich zum Ausdruck bringt, dass beispielsweise die PKK keinerlei Waffen erhalten werde. Dabei waren es die Peshmergakräfte der KDP, die die Menschen von Sengal schutzlos dem IS überlassen hat, während die HPG, die bewaffneten Kräfte der PKK, sich in die Region bewegt hat, um die Menschen aus den Fängen des IS zu befreien und den Kampf gegen den IS in der Region zu führen.

Das Projekt der Demokratischen Autonomie, wie sie derzeit in Rojava aufgebaut wird, steht für eine radikal-demokratische, geschlechterbefreite und ökologische Perspektive im Mittleren Osten. Die kurdische Freiheitsbewegung erhebt für sich den Anspruch, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu vertreten. Und diese Vorstellungen stehen im radikalen Widerspruch zu dem "Greater Middle-East Project", dessen Implementierung die USA im Sinne ihrer eigenen Interessen in der Region vorsieht. Eigentlich wäre eine weitere Erörterung dieses Widerspruchs zwischen den divergierenden Vorstellungen über die Zukunft des Mittleren Ostens an dieser Stelle notwendig. Doch das würde wohl den Rahmen dieses Interviews  sprengen.

Frage: Momentan gehen die Waffen nur an südkurdische Kräfte des Barzani-Clans. Bekommen die Kurden in Rojava denn von Südkurdistan konkrete Hilfe oder bleibt es ausschließlich bei rhetorischer Unterstützung?

Mako Qocgiri: Es bleibt bei der rhetorischen Unterstützung. Vor allem Barzani und seine KDP haben infolge ihres Versagens bei der Erstürmung von Sengal durch den IS deutlich an Popularität in der eigenen Bevölkerung verloren. Es soll erstmals in Hewler (Erbil), der eigentlichen Hochburg der KDP, zu Protesten gegen Barzani gekommen sein. Nun greift Barzani zu dieser Rhetorik, um sein mehr als angeknackstes Image ein wenig aufzupolieren. Doch tatsächliche Unterstützung durch die KDP hat Kobanê bislang nicht erreicht.

Frage: Es erscheinen immer mehr Beweise, die eine direkte (auch militärische) Unterstützung des IS durch die Türkei, belegen. Wie sieht die Rolle der Türkei aus? Und was für Aktivitäten dagegen entfaltet die kurdische Bewegung in Nordkurdistan (Türkei) dagegen?

Mako Qocgiri: Wir haben zuletzt die Übersetzung des Artikels von Sinan Cudi, einem kurdischen Journalisten, auf unserer Homepage civaka-azad.org veröffentlicht, der den Titel "Die vierte Front auf Kobanê wird von der Türkei geführt" trägt. Das trifft es eigentlich genau. Die Türkei ist wohl derzeit der größte Unterstützer des IS bei ihrem Angriff auf Kobanê. Das verwundert nicht weiter, denn die Politik der AKP gegenüber den Kurden hat sich trotz des Waffenstillstands in Nordkurdistan nicht sonderlich verändert. Denn aktuell führt die Türkei über den IS einen Krieg gegen die Kurden in Rojava.

Doch die Kurdinnen und Kurden in Nordkurdistan beantworten diese Politik der AKP mit einem breit getragenen gesellschaftlichen Widerstand. Seit Tagen versammeln sich an der Grenze zu Rojava tausende Menschen. Hunderte Jugendliche haben die Grenze durchbrochen, um sich dem Widerstand von Kobanê anzuschließen. Für die KurdInnen haben die künstlichen Grenzen zwischen ihnen keine Bedeutung mehr. Sie leisten grenzübergreifend Widerstand.

Und selbstverständlich schlägt diese Politik der AKP auch zurück auf den sog. Lösungsprozess zwischen ihr und der kurdischen Freiheitsbewegung. Zuletzt erklärte die KCK, dass die AKP den Waffenstillstand aufgehoben habe. Kurz darauf erreichten uns bereits erste Meldungen von Gefechten zwischen der Guerilla in Nordkurdistan und dem türkischen Militär. Es wird sich bald zeigen, wie sich das weiterentwickelt.

Frage: Was wären denn gangbare Handlungsoptionen für die deutsche Politik? Sollten Waffen an die YPG und an die PKK geliefert werden, deren Einheiten in der letzten Zeit Hunderttausende von bedrohten Menschen geschützt und verteidigt haben?

Mako Qocgiri: Das müsste man die YPG und PKK fragen. Doch wie gesagt, die Kurdinnen und Kurden haben es hier mit einer Ausnahmesituation zu tun. Und die Erklärungen der YPG und der Politiker aus Rojava deuten daraufhin, dass sie gegen die Horden des IS auch Waffen benötigen. Die Berichte aus der Region zeigen uns nämlich, dass die IS mit hochmodernen Waffen ausgestattet ist, die ebenfalls aus westlicher Produktion stammen und die sie von der irakischen und syrischen Armee erbeutet haben. Und wenn man nun bedenkt, dass die YPG und die YPJ die Verantwortung dafür tragen, die eigene Bevölkerung vor diesen faschistischen Banden, die zu tausenden derzeit Kobanê angreifen, zu schützen, was wollen sie denn da großartig anderes sagen, wenn sie für die Erfüllung dieser Pflicht eben auch auf Waffen angewiesen sind? Wie will die YPG/YPJ sich später vor der eigenen Bevölkerung verantworten, wenn sie nicht alles versucht haben, um die Menschen vor dem IS zu schützen? Da ist es dann wirklich schwer zu sagen: "Ich bin prinzipiell gegen Waffenexporte und deswegen habe ich nein gesagt, und den Tod von tausenden Menschen billigend in Kauf genommen". Das ist die schwierige Situation, in der die kurdische Freiheitsbewegung in Rojava derzeit steckt.

Ihr Standpunkt bei der Frage der Waffenlieferungen war deshalb, dass, wenn Waffen im Kampf gegen den IS geliefert werden, diese auch diejenigen erreichen müssen, die diesen Kampf führen. Und dazu gehört nun in erster Linie die YPG. Langfristig ist aber letztlich auch klar, dass anhaltende militärische Auseinandersetzungen und eine Militarisierung des Mittleren Osten als Ganzes zu keinen nachhaltigen Lösungen der Konflikte in der Region führen können. Und die kurdische Freiheitsbewegung hat in den letzten Jahren mehrfach eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie auf jeden Fall versucht dem politischen Lösungsweg den Vorrang zu geben. Doch vor dem Hintergrund, dass im Mittleren Osten jede noch so kleine Gruppe derzeit bis auf die Zähne bewaffnet ist, kann auch die kurdische Freiheitsbewegung nicht auf das legitime Recht der Selbstverteidigung verzichten. Und der Kampf in Kobanê ist derzeit nichts anderes als ein Selbstverteidigungskrieg, den die Kurdinnen und Kurden führen.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Waffenlieferungen sind selbstverständlich nicht die einzige Handlungsoption für die deutsche Politik.

Zunächst einmal ist die Frage der humanitären Hilfe mindestens genauso wichtig. Das gilt auch für die Regionen von Rojava, wo zuletzt auch zehntausende Menschen aus Südkurdistan/Nordirak hin geflüchtet sind.

Dann sollte die deutsche Politik die Demokratisch-Autonome Verwaltung von Rojava endlich anerkennen und den direkten Dialog mit ihnen suchen. Eine internationale Anerkennung von Rojava würde beispielsweise auch einen wichtigen Beitrag zur Unterbindung der türkischen Unterstützung für die IS im Kampf gegen Rojava leisten, womit wir auch schon beim nächsten Punkt wären.

Deutschland sollte den Druck auf die Türkei erhöhen, damit diese ihre Unterstützung für den IS endlich einstellt. Bei den Angriffen auf Kobanê hat die Türkei mehrfach Waffen und Munition an den IS geliefert. Aber dazu wirst du vermutlich gleich auch eine Frage stellen, weshalb ich das an dieser Stelle erstmal nicht weiter ausführen brauche.

Auch muss in Deutschland endlich das PKK-Verbot aufgehoben werden. Dieses  Verbot hat seine letzte Legitimität eingebüßt. Selbst der deutsche Außenminister konnte zuletzt auf Anfrage in einem Fernsehinterview keine schlüssige Argumentation mehr für den Erhalt des Verbots liefern. Die Zeit für die Aufhebung dieses sinnlosen Verbots ist also längst überfällig.

Frage: Was sollte die deutsche Friedensbewegung und Linke hier vor Ort tun, um die Revolution in Rojava zu unterstützen und zu verteidigen? Was macht Rojava überhaupt so interessant auch für fortschrittliche Menschen in Europa?

Mako Qocgiri: Rojava ist ein Lichtblick für die gesamte Region des Mittleren Ostens. Dort haben die Menschen ein Gesellschaftssystem jenseits von nationalistischen, religiös-fundamentalistischen, patriarchalen und kapitalistischen Vorstellungen aufgebaut. Und ihr System trägt das Potential in sich, eine Antwort auf die permanente Krise im Nahen und Mittleren Osten zu liefern.  Aber es ist zugleich auch ein System, das mitten in einem Bürgerkrieg aufgebaut wird. Es ist nicht nur den Angriffen des IS, sondern auch einem wirtschaftlichem Embargo ausgesetzt. Und die äußeren Feinde dieses Gesellschaftskonzepts sind viele in ihrer Zahl.

Wir sind dennoch nicht pessimistisch, denn die Bevölkerung von Rojava glaubt an dieses System. Wie auch sonst ließe sich solch ein großer und langanhaltender Widerstand gegen die hochbewaffneten Mitglieder des IS aufrechterhalten? Doch aus unserer Sicht ist die Solidarität unserer FreundInnen und GenossInnen auf der ganzen Welt fast ebenso wichtig, wie die Unterstützung der eigenen Bevölkerung in diesem Kampf. Die kurdische Freiheitsbewegung hat in einer ihrer jüngsten Erklärung nochmal deutlich gemacht, dass der Kampf, der gegenwärtig geführt wird, nicht nur ein Kampf um die Freiheit des kurdischen Volks, sondern aller Völker ist. Zum Schluss möchte ich an dieser Stelle noch auf einen weiteren Artikel auf unserer Seite verweisen, der zu deiner Frage passt: "Rojava und die spanische Revolution" von Metin Yegen.


Die Fragen für kommunisten.de stellte Kerem Schamberger
foto: YPG

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CfD communist solidarity dt
zum Text hier
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