07.08.2014: Interview mit Dr. Mustafa Barghuti, palästinensischer Mediziner, Generalsekretär der 'Nationalen Initiative'. Als Initiator zahlreicher medizinischer Hilfsprojekte wurde er 2001 von der Weltgesundheitsorganisation mit einem Preis ausgezeichnet. Er war der Initiator der 'Palästinensischen Nationalen Initiative', die sich als eine 'Bewegung des dritten Weges' neben den beiden PLO und Hamas versteht. Bei der Präsidentenwahl 2005 in den Palästinensischen Autonomiegebieten nach dem Tod von Jassir Arafat kam er als Spitzenkandidat der Liste 'Unabhängiges Palästina' mit 19,5 Prozent auf den zweiten Platz hinter Mahmud Abbas (die Hamas hatte an dieser Wahl nicht teilgenommen).
Dr. Barghuti wurde 1996 bei einem Zusammenstoß mit israelischen Sicherheitskräften von einem israelischen Schrapnell an der Schulter verletzt, als er niedergeschossenen palästinensischen Demonstranten medizinische Hilfe leisten wollte. Später ist er von den israelischen Besatzungsbehörden mehrfach inhaftiert worden. Er wohnt in Ramallah im Westjordanland und ist dort Teil einer vielköpfigen Großfamilie.
Das nachfolgende Interview wurde von Rosa Moussaoui, Redakteurin der französischen kommunistischen Tageszeitung Humanité aufgenommen, die derzeit als Sonderkorrespondentin in Palästina ist (veröffentlicht am 2. August 2014).
Frage: Was ändert dieser neue Krieg gegen Gaza im Denken der Palästinenser?
Dr. Barghuti: Nichts wird wie vorher sein. Israel ist dabei, in Gaza die schlimmsten humanitären Verbrechen zu begehen. Das Problem stellt sich nicht nur für Israel, es stellt sich für alle Staaten, die sich zu Komplizen dieser Verbrechen machen. Das ist schändlich, inakzeptabel. Die Führer der Welt sollten selbst feststellen, dass Israel das Recht zur Verteidigung hat, während die Palästinenser dieses Recht nicht ausüben können. Dabei sind es doch sie, die seit mehr als 70 Jahren von der Besatzung und einem System der Rassentrennung unterdrückt werden.
Wir erleben heute das Ende einer Ära, der Ära des Oslo-Prozesses. Das Herangehen der Palästinenser ist jetzt völlig anders, sie nehmen wahr, dass Israel leider nur die Sprache der Stärke versteht. Bedeutende Anstrengungen werden in Zukunft gemacht werden, um eine neue gemeinsame Strategie anzuwenden, basierend auf Widerstand, den wir als nicht gewaltsam erhoffen. Wir müssen auch die Kampagne zugunsten des Boykotts und der Sanktionen verstärken. Schließlich müssen die Palästinenser sich unbedingt vereinigen. Die drei Formationen, die noch außerhalb der PLO sind, Hamas, der islamische Dschihad und die Nationale Initiative, müssen dort Mitglied werden. Die palästinensische Führung muss verjüngt werden und aufmerksamer für die Bedürfnisse unseres Volkes sein.
Mit dieser Aggression hat Benjamin Netanjahu versucht, unsere Vereinigungsbemühungen platzen zu lassen. Bisher erlaubten ihm unsere Spaltungen zu behaupten, dass keine der vorhandenen Formationen für die Palästinenser repräsentativ sei. Die Bildung einer Regierung der nationalen Verständigung hat ihn verrückt gemacht. Mit der Hamas haben wir tiefe ideologische Meinungsverschiedenheiten. Aber sie kommt aus unserem Volk, und es ist Sache der Palästinenser, darüber zu entscheiden, wer sie repräsentiert. Diese Ereignisse werden letztlich nur die Hamas stärken. Sie verkörpert jetzt den Widerstand, zum Nachteil der Fatah, die unfähig erscheint, die Besetzung zu bekämpfen.
Frage: Wie erklären Sie sich das Entgegenkommen, das es der israelischen Armee und Regierung erlaubt, in aller Straflosigkeit das Völkerrecht, das humanitäre Recht zu verletzen?
Dr. Barghuti: Die Israelis werden in Gaza ein Desaster hinterlassen. Alle Infrastrukturen sind zerstört. Die Menschenverluste liegen jenseits aller Beschreibung. Zivilisten, Frauen, Kinder werden massakriert. Wie hätte es sich die israelische Armee erlauben können, eine UNO-Schule zu bombardieren, in die Zivilisten geflüchtet waren, ohne die Komplizenschaft, ohne das Schweigen der Welt? Ich stelle jedenfalls fest, dass es einen Abgrund gibt zwischen den Völkern, die über diese Massaker empört sind, und den Regierungen, die dem Druck von pro-israelischen Lobbys nachgeben.
Laut der israelischen Propaganda soll diese Militäroffensive allein gegen die Hamas gerichtet sein, die als terroristische Organisation eingestuft wird. Aber diese Aggression zielt in Wirklichkeit auf alle Palästinenser. Es ist die gesamte Bevölkerung, die heute in Gaza leidet. Alle, die vor dieser Katastrophe schweigen, werden eines Tages Rechenschaft geben müssen. Wir ermahnen Präsident Abbas, die Angelegenheit vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen, und ich zweifle nicht daran, dass Schritte in diese Richtung in nächster Zeit unternommen werden. Internationale Untersuchungskommissionen, dessen bin ich sicher, werden diese Kriegsverbrechen ans Licht bringen.
Frage: Sprechen Sie von einer Volkserhebung im Westjordanland?
Dr. Barghuti: Diejenigen, die glauben, dass das Westjordanland ruhig und stumm bleiben wird angesichts dieses Schauspiels des Massakers in Gaza, irren sich. Die hart unterdrückte Demonstration, die fast 30.000 Personen am 24. Juli in Qalandija vereint hat, war ein Wendepunkt. Aber was heute in Gaza geschehen ist, bringt die ganze Welt in Aufruhr. Im Gegensatz zu der schändlichen Haltung einiger Staaten, mit den USA an der Spitze, und zum Schweigen der Europäer gibt es auch die Reaktion von acht Staaten Lateinamerikas, die ihre Botschafter aus Israel zurückberufen haben. Was die Mehrheit der arabischen Führer anbetrifft, ist es wenig zu sagen, dass sie sich schlecht verhalten haben…
Frage: Denken Sie an Ägypten?
Dr. Barghuti: Ägypten zeigt Grenzen seines Engagements infolge seiner inneren Konflikte mit den Moslem-Brüdern. Wir sagen den arabischen Staaten, dass Palästina weder das Terrain zur Regelung ihrer inneren Angelegenheiten noch der Gegenstand von regionaler Konkurrenz sein kann, um den Preis von Blut.
Frage: Erlaubt es dieser neue Krieg gegen Gaza der israelischen Regierung, die Fortführung der Kolonisierung im Westjordanland und in Ost-Jerusalem vergessen zu machen?
Dr. Barghuti: Sicherlich. Gaza soll gesondert betrachtet werden, es soll kein Palästina-Problem mehr geben… Tatsächlich zielt ihr Spiel auf die Annexion des Westjordanlandes und die Verfestigung des Apartheid-Systems. Es sei daran erinnert, dass dieser Krieg im Westjordanland begonnen hat mit der Verhaftung von mehr als 1000 Menschen, mit den kollektiven Strafaktionen. Die Israelis werden diese Politik fortsetzen, sowie man zulässt, dass sie sich vom Völkerrecht lossagen. Meiner Meinung nach beschränkt sich das Problem nicht auf die israelische Regierung.
Die ganze israelische Gesellschaft ist abgerutscht. Ein tiefer Rassismus äußert sich dort nunmehr offen. Ein Land, das akzeptiert, dass ein Mitglied der Knesseth in der Sitzung zur Ermordung palästinensischer Frauen aufruft, weil sie nur „Schlangen“ gebären könnten, ein Land, das zulässt, dass einer seiner Wissenschaftler von Rang öffentlich dazu aufruft, Vergewaltigungen als Kriegswaffe zu verwenden, ein Land, in dem eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen einen Waffenstillstand opponiert, ist meiner Meinung nach ein Land, das schon zum Faschismus abgeglitten ist.
Der Artikel erscheint auch in der UZ vom 8.8.2014
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Foto: amillionwaystobe