22.10.2022: Auseinandersetzungen im Westjordanland eskalieren ++ Einhundert Angriffe von jüdischen Siedlern auf Palästinenser:innen in nur 10 Tagen ++ Nablus seit zwei Wochen unter Belagerung
Am 3. Oktober fand in Brüssel nach einer Pause von 10 Jahren wieder ein Treffen des EU-Israel-Kooperationsrates (EU-Israel Association Council) statt. Von israelischer Seite nahmen u.a. Premierminister Yair Lapid und der Minister für die Geheimdienste, Elazar Stern, teil.
Im Vorfeld des Treffens erklärte Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International: "Israel begeht das Verbrechen der Apartheid gegen die Palästinenser. Dies ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für das die EU die israelische Führung zur Verantwortung ziehen und sicherstellen muss, dass sie das Apartheidsystem in keiner Weise unterstützt. Jegliche Zusammenarbeit muss sich darauf konzentrieren, Israels grausames System der Unterdrückung und Beherrschung zu beseitigen."
Omar Shakir, Direktor für Israel und Palästina bei Human Rights Watch (HRW), forderte die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten auf, "die Verbrechen der israelischen Behörden gegen die Menschlichkeit [zu] verurteilen". Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten auch Druck auf die israelischen Behörden ausüben, damit diese das harte Vorgehen gegen die palästinensische Zivilgesellschaft beenden. Omar Shakir: "Europäische Beamte sollten wissen, dass sie Vertretern einer Regierung die Hand schütteln, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht und prominente zivilgesellschaftliche Gruppen, die diese Missbräuche anprangern, verboten hat. So zu tun, als ob mit Israel alles beim Alten wäre, während die Unterdrückung eskaliert, vermittelt die Botschaft, dass die Verurteilung durch die EU kaum mehr wert ist als das Papier, auf dem sie steht."
Westjordanland im Kriegszustand
Doch ungeachtet dieser Appelle und unter der allgemeinen Gleichgültigkeit der EU, der Regierungen ihrer Mitgliedsländer und der großen Medien, die Morde an Palästinenser:innen, Aggressionen der israelischen Armee und von militanten Siedlern gegen Palästinenser:innen als "Routine" bezeichnen, befindet sich das Westjordanland nun im Kriegszustand.
Oder vielmehr im Zustand von zwei Kriegen.
Einer zwischen den israelischen Streitkräften, die täglich Razzien durchführen, und den palästinensischen Bürgerwehren, die besser organisiert sind als in der Vergangenheit und entschlossen sind, sie nicht in ihre Städte und Dörfer eindringen zu lassen Dabei wurde am Donnerstagabend (20.10.) in Jenin ein 19-jähriger Palästinenser, Salah Briki, durch einen Schuss in den Nacken getötet.
Und ein weiterer Krieg von israelischen Siedlern, die immer unbehelligter und aggressiver agieren können, gegen palästinensische Bauern, die entschlossen sind, sich zu verteidigen.
100 Angriffe in zehn Tagen
Die Tel Aviver Tageszeitung Haaretz berichtete am Freitag (21.10.), dass die israelischen Sicherheitsdienste allein in den letzten 10 Tagen 100 gewalttätige Angriffe israelischer Extremisten registriert haben.
Insbesondere in der südlich von Nablus gelegenen Stadt Hawara, einem Grenzübergang für Siedler in einigen Hochburgen des religiösen Rechtsextremismus (wie Yizhar und Elon Moreh) und für die einheimische palästinensische Bevölkerung im nördlichen Westjordanland, kam es zu gewalttätigen Angriffen maskierter Siedler. Sie zündeten Coffeeshops und Olivenbäume an, setzten palästinensische Autos und anderes Eigentum in Brand. Der Rote Halbmond berichtete, dass 53 Palästinenser verletzt wurden. Haaertz berichtet von Zeugenaussagen, dass israelische Soldaten, die sich in dem Gebiet aufhielten, die Siedler schützten und auf Palästinenser:innen schossen, die versuchten, sich vor den Angriffen zu schützen.
Generalstabschef Aviv Kochavi zeigt laut Haaretz kein Interesse an Zwischenfällen, wenn die Angegriffenen Palästinenser:innen sind. Als jedoch Siedler eine Armeeeinheit angriffen, bezeichnete er den Vorfall als "einen sehr ernsten Vorfall, der ein beschämendes kriminelles Verhalten darstellt".
Am Freitag (21.10) fanden schwere Angriffe auf Bewohner von Qafin statt, die sich "schuldig" gemacht hatten, ihre Olivenhaine in der Nähe der Ortschaft aufzusuchen.
Ein von der Menschenrechtsorganisation Yesh Din veröffentlichter Film (https://twitter.com/Yesh_Din/status/1583459965846818817) zeigt, wie ein Soldat in Burin einem Siedler beibringt, wie man Tränengas auf Palästinenser wirft, während es zu Angriffen der Siedler auf Palästinenser:innen kommt.
Anfang der Woche hatten Siedler eine 70-jährige Jüdin, Hagar Geffen, angegriffen, weil sie Palästinenser:innen aus Kisan (Bethlehem) bei der Olivenernte half. Sie wurde mit gebrochenen Rippen und einer Kopfverletzung ins Krankenhaus eingeliefert. (https://twitter.com/OrenZiv_/status/1582706289137709057) Die Sieder fällten etwa 300 Olivenbäume, die palästinensischen Bauern gehörten.
Die Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Silman (Hadash) sagt über die Siedler: "Das sind menschliche Bestien, die eine 70jährige Friedensaktivistinnen angegriffen haben." "Dieser Angriff ist das direkte Ergebnis des kriminellen Schweigens" von Premierminister Yair Lapid, Verteidigungsminister Benny Gantz und dem Minister für öffentliche Sicherheit Omer Barlev, so Touma-Silman.
Nablus im Belagerungszustand
Die nur wenige Kilometer von Burin entfernt liegende Stadt Nablus, die zweitgrößte Stadt im Westjordanland mit ca. 200.000 Einwohner:innen, ist seit zwei Wochen durch einen breiten militärischen Kordon mit zahlreichen Straßensperren isoliert. Ziel ist es nach Angaben der israelischen Behörden, "den Terrorismus zu bekämpfen" und den Druck auf die bewaffnete Gruppe zu erhöhen, die für die Ermordung eines Soldaten verantwortlich gemacht wird und sich nach eigener Aussage bereit erklärt, Angriffe der Armee auf die Stadt abzuwehren.
"Wir sind gezwungen, auf unbefestigten Straßen und Bergpfaden aus Nablus herauszufahren", berichtet Amir, ein Angestellter im öffentlichen Dienst in Ramallah, "oder in langen Schlangen an militärischen Kontrollpunkten zu warten, bevor wir mit einer Sondergenehmigung passieren können."
Die israelischen Truppen haben den Hawara-Kontrollpunkt, den Haupteingang nach Nablus, und die Straße von Deir Sharaf, die nach Jenin und Tulkarem führt, mit Erdhaufen und Betonwürfeln abgesperrt. In dem Dorf Surra, das nach Qalqilya führt, richtete die Armee einen ständigen Kontrollpunkt ein. Die Beschränkungen betreffen auch Beit Furik und Beit Dajan, das Gebiet Awarta. Die Straße nach Asira al-Schamaliah ist die einzige offene Straße in der Nähe der Stadt.
Sami Hijjawi, Bürgermeister von Nablus, erklärt, dass die Armee nach strengen Kontrollen nur in wenigen Fällen und mit Wartezeiten von zwei bis drei Stunden die Einreise in die Stadt erlaubt, nicht aber die Ausreise. Die Wirtschaft, so fügte er hinzu, wird durch die Schließung schwer getroffen. Öffentliche Ämter und private Unternehmen arbeiten nur teilweise, weil Mitarbeiter:innen, die in anderen Städten wohnen, nicht in die Stadt kommen können. Yassin Dwaikat, Präsident der Handelskammer, schätzt, dass täglich rund 40.000 Menschen nach Nablus, der wirtschaftlichen Drehscheibe des nördlichen Westjordanlandes, kommen.
In der Stadt gibt es vier Industriegebiete, Großhändler, Importeure und Dienstleistungsunternehmen sowie ein Krankenhaus und eine Universität, Al Najah, die wichtigste nach Bir Zeit, an der Tausende junger Palästinenser:innen studieren, von denen viele seit etwa zwei Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen sind.
Die eiserne Faust wird nicht so bald enden. Zehn Tage vor der Wahl zur Knesset wollen Premierminister Lapid und Verteidigungsminister Benny Gantz in den Augen der israelischen Wähler:innen nicht schwach erscheinen.
fotos: https://twitter.com/activestills