09.08.2022: Gustavo Petro übernimmt die Regierungsgeschäfte in Kolumbien und stellt ein ambitioniertes Regierungsprogramm vor: Frieden, grüne Wirtschaft, lateinamerikanische Zusammenarbeit und Armutsbekämpfung sind prioritär ++ Finanzminister legt Plan zur Steuerreform vor ++ Kommunistin wird Arbeitsministerin
Zehntausende von Kolumbianer*innen füllten am Sonntag die Straßen von Bogotá, um die Amtseinführung der ersten progressiven Regierung in der Geschichte Kolumbiens unter der Führung von Gustavo Petro und Francia Márquez für die Amtszeit 2022-2026 zu erleben.
Linke Parteien und soziale Bewegungen, die während des landesweiten Streiks mobilisierte Jugend und ein territoriales Netzwerk von traditionell ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen - indigene Völker, Afrokolumbianer*innen - bilden das Fundament dieses politischen Wandels, der die traditionellen Eliten konfrontiert und ihre Machtmechanismen stört.
"Heute beginnt unsere zweite Chance"
In seiner Rede [1] bekräftigte Präsident Gustavo Petro seine Verpflichtung zum Wandel und zur Erfüllung seiner Wahlversprechen. "Heute beginnt unsere zweite Chance", sagte er. "Es ist Zeit für Veränderungen", fügte er hinzu.
Zu Beginn zitierte er aus dem Roman "100 Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez: "Alles, was darin geschrieben stand, galt für immer und ewig, weil die zu 100 Jahren Einsamkeit Verurteilten keine zweite Chance auf Erden hatten."
Dann fuhr er fort: "So oft in unserer Geschichte wurden kolumbianische Männer und Frauen dazu verdammt, keine Möglichkeiten zu bekommen. Ich möchte allen laut sagen, dass heute unsere zweite Chance beginnt.
Heute beginnt das Kolumbien des Möglichen. Wir sind hier gegen alle Widerstände, gegen eine Geschichte, die besagt, dass wir niemals regieren würden, gegen diejenigen, die das immer getan haben, gegen diejenigen, die die Macht nicht loslassen wollten. Aber wir haben es geschafft. Wir haben das Unmögliche möglich gemacht. Von heute an arbeiten wir daran, in Kolumbien mehr unmögliche Dinge möglich zu machen."
Video: https://twitter.com/i/status/1556717350094864388 |
"Der Frieden ist der Sinn meines Lebens, er ist die Hoffnung Kolumbiens."
Ein großer Teil seiner ersten Rede als Präsident war dem Thema Frieden gewidmet. Er bekräftigte seine Entschlossenheit, die Friedensvereinbarungen von Havanna zu erfüllen und mit "mehr Demokratie, mehr Beteiligung" der Gewalt ein Ende zu setzen.
Die politische Gewalt hat seit dem Wahlsieg des progressiven Pacto Histórico nicht abgenommen. Im Gegenteil, bis zum 12. Juli stieg die Zahl im Vergleich zu 2021 nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Indepaz auf insgesamt 108 Morde an sozialen Führer*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen (darunter 25 indigene Führer*innen), 53 Massaker mit 185 Toten und 28 Morde an Unterzeichner*innen des Friedensabkommens. Gleichzeitig hat das Drogenkartell Cartel del Golfo in der ersten Hälfte dieses Jahres 30 Mitglieder der Sicherheitskräfte ermordet, was einmal mehr das Versagen der Sicherheitspolitik des Ex-Präsidenten Iván Duque offenbart.
"Wir müssen sechs Jahrzehnten der Gewalt und des bewaffneten Konflikts ein für alle Mal ein Ende setzen. Es ist machbar. Wir werden das Friedensabkommen erfüllen, wir werden die Empfehlungen des Berichts der Wahrheitskommission buchstabengetreu befolgen und wir werden unermüdlich daran arbeiten, Frieden und Ruhe in jeden Winkel Kolumbiens zu bringen. Dies ist die Regierung des Lebens, des Friedens, und sie wird als solche in Erinnerung bleiben", sagte Petro.
"Der Krieg gegen die Drogen hat die Staaten dazu gebracht, Verbrechen zu begehen."
Auch im Kampf gegen die Drogenkriminalität will Petro andere Wege einschlagen. Bislang war Kolumbien im sogenannten Krieg gegen die Drogen der engste Verbündete der USA in Südamerika und erhielt Millionen US-Dollar für Polizei und Militär. Petro will "die Politik gegen Drogen, die als Krieg gesehen wird, durch eine Politik der starken Prävention des Konsums in den entwickelten Gesellschaften ersetzen." Er fügte hinzu: "Es ist Zeit für ein neues internationales Übereinkommen, das anerkennt, dass der Krieg gegen die Drogen gescheitert ist, dass in diesen 40 Jahren eine Million Lateinamerikaner ermordet wurden und dass jedes Jahr 70.000 Amerikaner an einer Überdosis Drogen sterben. Dass der Krieg gegen Drogen die Mafia gestärkt und die Staaten geschwächt hat. Der Krieg gegen die Drogen hat die Staaten dazu gebracht, Verbrechen zu begehen."
"Die grüne Zukunft soll möglich sein."
Der neue Präsident Kolumbiens verwies darauf, dass es "nur dann eine Zukunft geben (wird), wenn wir unser Leben und die Weltwirtschaft mit der Natur in Einklang bringen." Er bekräftigte die Bereitschaft Kolumbiens, zu einer Wirtschaft ohne Kohle und Öl überzugehen, betonte jedoch, dass dies der Menschheit wenig helfen werde.
"Es sind nicht wir, die Treibhausgase ausstoßen. Es sind die Reichen dieser Welt, die das tun und die Menschheit dem Aussterben näher bringen. Aber wir haben nach den Ozeanen den größten Schwamm, der diese Gase absorbiert: den Amazonas-Regenwald.
Eine der Säulen des Klimagleichgewichts und des Lebens auf unserem Planeten ist der Amazonas-Regenwald. Werden wir zulassen, dass der Regenwald zerstört wird, um den Punkt zu erreichen, an dem es kein Zurück mehr gibt, um die Menschheit auszulöschen? Oder werden wir ihn retten, weil die Menschheit selbst weiter auf dieser Erde leben will?
Wo ist der globale Fonds zur Rettung des Amazonas-Regenwaldes? Reden werden ihn nicht retten. Wir können die gesamte Bevölkerung des kolumbianischen Amazonasgebiets in eine Bevölkerung verwandeln, die den Wald pflegt, aber wir brauchen dafür die Mittel der internationalen Gemeinschaft. Wenn es so schwierig ist, das Geld zu bekommen, das Kohlenstoffsteuern und Klimafonds bereitstellen sollten, um etwas so Wesentliches zu retten, dann schlage ich der Menschheit vor, Auslandsschulden gegen Inlandsausgaben einzutauschen, um unsere Dschungel, Wälder und Feuchtgebiete zu retten und wiederherzustellen. Verringern Sie die Auslandsschulden, und wir werden den Betrag für die Rettung des menschlichen Lebens ausgeben."
Konzessionen für Kupfermulti
Die beispiellosen Herausforderungen, vor denen die neue Regierung auch beim Umbau der Wirtschaft steht, wurden kurz vor der Regierungsübernahme deutlich: Die nationale Bergbaubehörde in Kolumbien hat dem kanadischen Kupferexplorer Max Resource Corp. noch schnell elf weitere Bergbaukonzessionen für die 20 Kilometer lange Zone Uru zugesprochen. Uru liegt am südlichen Ende des 90 Kilometer langen Kupfer-Silber-Gürtels Cesar North im Nordosten Kolumbiens. Die Konzessionen bei Uru wachsen durch die zusätzlichen Konzessionen auf mehr als 99 qkm. Verteilt auf das gesamte Cesar Sedimentbecken erstrecken sich die Konzessionen von Max inzwischen auf insgesamt über 212 qkm. Jede Konzession hat eine anfängliche Laufzeit von 30 Jahren und kann um weitere 30 Jahre verlängert werden, so dass sich die Gesamtdauer auf 60 Jahre beläuft. [2]
Auch in Chile hat die abgewählte Regierung von Piñera mit einer Entscheidung noch im Januar der neuen Linksregierung eine schwere Hypothek hinterlassen. Mit einem Fuß bereits aus der Moneda heraus - nur zwei Monate vor dem Amtsantritt von Gabriel Boric - ordnete Piñera die Zuteilung von zwei Quoten von je 80.000 Tonnen Lithium für einen Zeitraum von 27 Jahren an das chinesische Unternehmen Byd Chile Spa und die chilenische Operaciones mineras del Norte Sa an. So soll das Ziel der Linksregierung, ein nationales Lithiumunternehmen zu schaffen, sabotiert werden. [3]
"Heute müssen wir mehr denn je geeint und vereint sein."
Petro appellierte an die "lateinamerikanische Einheit", die aber "keine Rhetorik, kein bloßer Diskurs sein" dürfe. Er kritisierte, dass Lateinamerika zur Bekämpfung der Covid-Pandemie "nicht in der Lage war, sich zusammenzutun, sich zu koordinieren, um die billigsten Impfstoffe zu kaufen, das nicht in der Lage ist, seine Gesundheitsdienste zu koordinieren, das nicht in der Lage ist, den Kauf von Medikamenten auf einheitliche Weise zu koordinieren".
Petro in seiner Rede: "Lateinamerika ist in einigen Institutionen vereint, aber nicht in konkreten Projekten. Haben wir die Verbindung all unserer Stromnetze erreicht? Gibt es ein Stromnetz, das ganz Amerika abdeckt? Haben wir saubere Energiequellen erreicht? Ist es nicht an der Zeit, die öffentlichen Erdölgesellschaften und unsere Stromübertragungsunternehmen zu ermutigen, ein lateinamerikanisches Geschäfts- und Finanzinstrument zu schaffen, das Investitionen in die Erzeugung von sauberer Energie und in die Übertragung dieser Energie auf kontinentaler Ebene fördern wird?"
"Ernährungssouveränität, um Null Hunger zu erreichen."
Einer der Schwerpunkte des Regierungsprogramms ist die Agrarreform, durch die vertriebene und enteignete Bauern Zugang zu Land erhalten sollen. In Kolumbien befinden sich 46% des ländlichen Bodens in den Händen von 0,4% der Bevölkerung. Die für die Landwirtschaft geeigneten Flächen werden nur unzureichend genutzt, während 30% der Landesfläche von extensiver Viehhaltung eingenommen werden, hinter der sich größtenteils unproduktive Landbesitzverhältnisse verbergen.
Petro sagte am Sonntag: "Kolumbien ist ein Land, das Ernährungssouveränität genießen muss und kann, um Null Hunger zu erreichen. Eine Mission des Staates mit dem gesamten Privatsektor, der sich daran beteiligen will, muss die gesunde Ernährung der gesamten kolumbianischen Gesellschaft gewährleisten und Exportüberschüsse erzielen. In dem Land, in dem die Menschen den Mais entdeckt haben, müssen wir wieder Mais anbauen. Der Staat muss Bewässerung, Kredite, Techniken, verbessertes Saatgut und Schutz bereitstellen, die Bauernschaft und die Privatwirtschaft können die Arbeit und den täglichen Einsatz leisten, um sicherzustellen, dass unsere Felder wieder die Nahrungsmittel produzieren, die unsere Menschen brauchen."
"Die Solidarität hat es den Menschen ermöglicht, zu überleben und die größten kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften zu erreichen."
Petro kritisierte, dass 10 % der kolumbianischen Bevölkerung 70 % des Reichtums besitzen. "Das ist absurd und unmoralisch. Wir sollten Ungleichheit und Armut nicht als normal betrachten. Deshalb haben wir eine Steuerreform, eine Gesundheits- und Rentenreform, eine Reform der Arbeitsvertrags und eine Bildungsreform vorgeschlagen. Aus diesem Grund haben wir im Haushalt der Infrastruktur in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Trinkwasser, Bewässerungsgebiete und lokale Straßen Priorität eingeräumt."
In diesem Sinne betonte Petro, dass "die Steuern nicht konfiskatorisch, sondern einfach nur gerecht sein werden, in einem Land, das die enorme soziale Ungleichheit, in der wir leben, als Fehlentwicklung anerkennen muss".
Finanzminister legt Steuerreform vor
Bereist am Montag (8.8.) legte der neue Finanzminister José Antonio Ocampo einen Gesetzentwurf zur Steuerreform vor, dessen Einnahmeziel bei durchschnittlich 50 Billionen Pesos (1.605 Millionen Dollar) in den vier Jahren der Amtszeit liegt. "Um einige Probleme in unserem Steuersystem zu korrigieren. Die Besteuerung von Lohnempfängern wird regressiv. Hinzu kommt ein Vorschlag zur Besteuerung von Vermögenswerten von mehr als 3 Milliarden Pesos (etwa 720.000 Dollar)", sagte Minister Ocampo.
Ocampo war in der Vergangenheit bereits Finanzminister in der Regierung des ehemaligen liberalen Präsidenten Ernesto Samper und Landwirtschaftsminister in der Regierung von César Gaviria gewesen. Darüber hinaus war er in der Regierung Samper Direktor der Abteilung für nationale Planung und Mitdirektor der Bank der Republik.
Breite Bündnisse
Ocampo ist nicht der einzige Minister, der bereits in vorhergehenden Regierung wichtige Funktionen ausübte. Petro muss berücksichtigen, dass sein Linksbündnis im Kongress keine Mehrheit hat und seine Politik auf große Widerstände treffen wird - beispielsweise aus der Oligarchie, den Streitkräften und den Multis. Für das Imperium im Norden bedeutet die neue Regierung in Bogotá, dass Washington einen der engsten Verbündeten auf dem lateinamerikanischen Kontinent verliert. So ist sein Kabinett, wie Petro sagte, zwar "eine paritätische Regierung mit einem Ministerium für Gleichberechtigung", aber weniger radikal als auch mit Konservativen durchmischt.[4]
In Gustavo Petros strategischer Vision erfordert der Aufbau eines Staates, der nicht von der Drogenmafia und der parapolitischen Mafia beherrscht wird und den Bedürfnissen der Bevölkerung Rechnung trägt, in diesem historischen Moment der Geschichte des Landes die Zusammenführung von Sektoren, die bis gestern gegen ihn kämpften. Die Unterstützung der 50% der Bevölkerung, die ihn gewählt haben, würde nicht ausreichen, um die anstehenden Veränderungen vorzunehmen, und er hat die Türen der Koalition für Gruppen der Mitte und der Rechten wie der Liberalen und der Konservativen Partei geöffnet und zugestimmt, den Vorsitz des Senats und der Abgeordnetenkammer mit den neuen Verbündeten zu wechseln. Die Vereinbarungen beinhalten auch Zugeständnisse an die neuen Partner in einigen Führungspositionen.
Kommunistin als Arbeitsministerin
Zum linken Flügel in der Regierung zählt die neue Arbeitsministerin, die Kommunistin Gloria Inés Ramírez Ríos. Gloria Ines war von 2006 bis 2014 Mitglied des Senats der Republik Kolumbien, Präsidentin des kolumbianischen Erzieherverbands (FECODE) und Vizepräsidentin der CUT, des größten Gewerkschaftsverband des Landes. Die Mathematikerin ist seit ihrer Jugend in der Kommunistischen Partei (Partido Comunista Colombiano, PCC) aktiv und Mitglied des nationalen Exekutivkomitees der PCC.
Die PCC erklärte zur Berufung von Gloria Inés Ramírez Ríos zur Arbeitssministerin:
"Während ihrer Zeit im Parlament förderte Gloria Ines, die sich der Bedürfnisse und Kämpfe der Arbeiterklasse bewusst war, das Arbeitsrecht. Dies ist eine Anerkennung ihres Kampfes, ihres Engagements und ihrer Arbeit für die Arbeiterklasse.
Die PCC begrüßt ihre Ernennung. Wir sind sehr stolz darauf, dass eine Feministin, Gewerkschafterin und engagierte Kämpferin in der neuen Regierung die Verteidigung der Rechte der Arbeiterklasse übernimmt."
Anmerkungen:
[1] Acto de posesión: palabras del Presidente Gustavo Petro Urrego
https://pacocol.org/acto-de-posesion-palabras-del-presidente-gustavo-petro-urrego/
[2] Goldinvest.de, 27. Juni 2022: Kolumbien spricht Max Resource elf zusätzliche Bergbaukonzessionen zu
https://goldinvest.de/weitere-meldungen/ceos-at-work-praesentiert/max-resource-corp/kolumbien-spricht-max-resource-elf-zusaetzliche-bergbaukonzessionen-zu
[3] "Chiles Lithium in den falschen Händen" in "Chile: neue Regierung im Amt"
https://kommunisten.de/rubriken/internationales/8467-chile-neue-regierung-im-amt
[4] Así es el gabinete con el que comienza el gobierno del presidente Gustavo Petro
https://pacocol.org/asi-es-el-gabinete-con-el-que-comienza-el-gobierno-del-presidente-gustavo-petro/