04.08.2022: Während der Krieg in und um die Ukraine sich immer mehr in einen Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland verwandelt hat und täglich hunderte Tote und Verletzte fordert, wird in seinem Schatten an vielen Stellen der Welt an anderen Brandherden gezündelt: Neue Spannungen im Kosovo. NATO bereit zu intervenieren ++ Für Peking war der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan eine Provokation und antwortet mit "beispiellosen" Militärmanövern, bei denen die Invasion der Insel geübt wird.
"Wir sind in das Zeitalter der Unordnung und Instabilität eingetreten, sowohl in den USA selbst als auch in der Welt. Dies stellt eine tödliche Bedrohung für den Weltfrieden dar. In nur wenigen Jahren hat die Sprache des Krieges, der Eroberung und des Konflikts die Sprache der Zusammenarbeit und des Friedens ersetzt. Die Idee des Krieges wird immer mehr zur Normalität. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich stattfindet, immer größer wird."
Martin Jacques in Global Times, 2.8.2022, https://www.globaltimes.cn/page/202208/1271987.shtml
Kosovo: NATO bereit, notfalls zu intervenieren
Die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo eskalierten wieder einmal, nachdem die Regierung des Kosovo umstrittene Einreiseregelungen beschloss, die ab 1. August wirksam werden sollten. Im Norden des Kosovo lebende Serb:innen benutzen Personalausweise und Kfz-Kennzeichen, die von serbischen Behörden ausgestellt sind. Die neue Regelung sieht vor, dass diese in Serbien ausgestellten offiziellen Dokumente im Kosovo nicht mehr anerkannt werden. So könnten Serb:innen die Grenze zwischen Serbien und dem serbisch bewohnten Nord-Kosovo nicht mehr mit ihrem serbischen Pass überqueren, sondern müssten sich an den Grenzübergängen ein provisorisches Dokument ausstellen lassen. Auch die serbischen Autokennzeichen würden nicht mehr anerkannt, sondern müssten an der Grenze zu kosovarischen getauscht werden.
Die im Kosovo lebenden Serb:innen sprechen von einem Versuch der Unterdrückung und Drangsalierung durch kosovarische Behörden und gingen auf die Barrikaden. Die serbische Hochburg Mitrovica wurde in eine regelrechte Festung verwandelt, Straßen wurden mit Barrikaden und LKWs gesperrt, Luftalarmsirenen heulten in der gesamten Stadt, in der Nacht waren Schüsse zu hören.
Die Regierung in Pristina warf dem Nachbarn Serbien eine versuchte Destabilisierung des Landes vor und schickte Spezialeinheiten in den serbisch bewohnten Teil des Kosovo als auch an die Grenze zu Serbien. Die Grenzübergänge wurden komplett gesperrt. Nur noch Autos mit kosovarischen Autokennzeichen wurden durchgelassen.
Serbien versetzte seinerseits seine Truppen in Alarmbereitschaft. Der serbische Präsident Vucic appellierte in einer emotionalen Ansprache einerseits für den Frieden, erklärte aber andererseits, dass man Provokationen nicht dulden und im Ernstfall einschreiten würde.
Die Regierung in Belgrad spricht von einer de facto Annullierung von serbischen Ausweisdokumenten im Kosovo und erklärte, dass man diese Regelung nie akzeptieren würde. Für Serbien ist Kosovo "nur" eine abtrünnige Provinz, die sich 1999 mit NATO-Hilfe von Serbien abgespalten und 2008 für unabhängig erklärt hatte. Für Belgrad ist der Kosovo nach wie vor ein Teil Serbiens. So ganz allein ist Serbien bei dieser Einschätzung nicht. Rund 80 Staaten haben Kosovo als unabhängigen Staat nicht anerkannt, darunter Spanien und vier weitere EU-Staaten.
Die NATO erklärte, dass man die Situation genauestens beobachte. Sollte die Stabilität im Nord-Kosovo gefährdet werden, sei man bereit einzugreifen.
In der Nacht auf den 1. August kündigte der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti an, dass die Einreiseregeln um vier Wochen - auf den 1. September - verschoben werden. Daraufhin bauten die Serb:innen die Blockaden ab. Das Problem wurde nicht gelöst, sondern nur bis zum 1. September verschoben. Wenn keine Kompromisse bis dahin getroffen werden, ist davon auszugehen, dass es in einem Monat genau an der gleichen Stelle weitergeht, wo es jetzt aufgehört hat.
Spannungen um Taiwan
Der Streit um Taiwan zählt zu einem der gefährlichsten Konfliktherde der Welt. Da die Beziehungen zwischen China und den USA immer unberechenbarer werden, ist Taiwan die bei weitem gefährlichste Quelle für Spannungen und Konflikte geworden.
Mit dem Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan sind die Spannungen nun weiter eskaliert. Die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses war die ranghöchste US-Vertreterin seit 25 Jahren, die Taiwan einen Besuch abstattete. Die Regierung in Peking, die Taiwan als Teil des chinesischen Territoriums ansieht, warnte von einem "Spiel mit dem Feuer" und kündigte Manöver rund um die Insel Taiwan an.
Noch vor der Landung Pelosis erhöhte Chinas Volksbefreiungsarmee PLA die Drohkulisse mit Manövern, Schießübungen, dem Einsatz von Militärflugzeugen und Kriegsschiffen nahe Taiwan und sperrte Seegebiete. Gerade als Pelosi zur Landung in Taipeh ansetzte, meldeten offizielle chinesische Festlandsmedien, dass ein oder mehrere Su-35-Kampfjets der PLA-Luftwaffe die Straße von Taiwan überflogen hätten.
Die USA positionierten ihren Flugzeugträgerkampfverband um die USS "Ronald Reagan" unweit von Taiwan .
Fiktion: "Ein-China-Politik"
Die "Ein-China-Politik", eine Prämisse und Fiktion, die im Kalten Krieg entstanden ist, geht davon aus, dass es nur ein China gibt. Alle Staaten, die mit der Volksrepublik China diplomatische Beziehungen aufnehmen möchten, müssen dies anerkennen und dürfen deshalb nicht gleichzeitig mit Taiwan diplomatische Beziehungen aufnehmen.
Diese Politik ist deshalb Fiktion, weil es sehr wohl noch die Republik China gibt. Sie umfasst Taiwan und einige Inseln. Doch diese unabhängige Republik wird nur von ganz wenigen Ländern auf der Welt anerkannt. Aber diese Fiktion sei sehr wirkungsvoll, sagt Peter Beinart, Professor der politischen Wissenschaften von der City University in New York. Sie habe Taiwan Frieden, individuelle Freiheit und Prosperität gebracht. China andererseits könne an der Vorstellung festhalten, dass Taiwan ein Teil Chinas sei. Würde der Westen Taiwan offiziell als unabhängiges Land anerkennen, wäre dies für Beijing ein Kriegsgrund. "Indem die USA ihre Beziehungen zu Taiwan nicht offiziell gestalten, kann China daran festhalten, dass eine friedliche Wiedervereinigung möglich ist. Und es gibt China einen Grund, nicht militärisch zu intervenieren", sagt Beinart in der New York Times. [1]
Biden verändert China-Politik
Für die USA hat die Insel zwischen Japan und den Philippinen – wie auch für die Volksrepublik China - eine große strategische Bedeutung. So bezeichnete der US-General Douglas MacArthur Taiwan einst als "unsinkbaren Flugzeugträger" der USA.
Die USA haben sich schon lange der Verteidigungsfähigkeit Taiwans verpflichtet - und zwar auch gesetzlich. Nach der diplomatischen Anerkennung der Volksrepublik China hatten sich die USA schon 1979 mit dem "Taiwan Relations Act" gesetzlich selbst dazu verpflichtet, Taiwans Verteidigungsfähigkeit weiter zu unterstützen. Meist passiert das durch Waffenlieferungen "defensiver Art". Die USA machten bisher im Stillen Schritte, die Beziehungen zu Taiwan zu "normalisieren".
"Dies ist eine sehr gefährliche Situation. Die Beziehungen haben jegliche Berechenbarkeit verloren."
Martin Jacques
Nachdem die USA bislang zum Zwecke der Abschreckung "strategisch zweideutig" geblieben waren, ist US-Präsident Joe Biden weitergegangen als seine Vorgänger: Er bezeichnete es wiederholt als "Verpflichtung", Taiwan zu verteidigen. Im April kündigte die Administration von Joe Biden jedoch offen an, die jahrzehntealten Beschränkungen der Kontakte zwischen der US-Regierung und der taiwanesischen Regierung aufzuweichen. Bereits im Sommer vergangenen Jahres Hatten die Demokraten die Bezeichnung "Ein-China" von ihrer Plattform gelöscht, im Januar war ein Vertreter Taiwans zum ersten Mal zu einer Inauguration eines US-Präsidenten eingeladen.
"Dies ist eine sehr gefährliche Situation. Die Beziehungen haben jegliche Berechenbarkeit verloren. Wo früher die Beziehungen zwischen den USA und China auf einem gut etablierten und tiefen gegenseitigen Verständnis und Respekt für die Position des anderen beruhten, gibt es jetzt nur noch sehr wenig, manchmal scheinbar gar nichts mehr. Die Leitplanken, die verhinderten, dass die Beziehungen plötzlich aus dem Ruder laufen, sind nicht mehr vorhanden, wie wir in der letzten Woche so dramatisch gesehen haben", sagt Martin Jacques, bis vor kurzem Senior Fellow an der Abteilung für Politik und Internationale Studien der Universität Cambridge. [2]
Für Peking ist der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan eine zusätzliche Provokation und verstößt "gegen das Versprechen der USA, sich dem Sezessionismus der 'taiwanesischen Unabhängigkeit' entgegenzustellen", schreibt die chinesische regierungsnahe Global Times. [3]
"Beispiellose" Militärmanöver der Volksbefreiungsarmee
In der Nacht, in der Nancy Pelosi in Taiwan landete, begann die Volksbefreiungsarmee (PLA) mit massiven Militärübungen rund um die Insel Taiwan.
Die unter Schirmherrschaft der KP Chinas herausgegeben Zeitung Global Times schreibt unter Berufung auf Militäranalysten, die Manöver vom 4. bis 7. August seien "beispiellos". Erstmals würden Raketen über Taiwan fliegen und Hyperschallraketen zum Einsatz kommen.
"Die Übungen sind beispiellos, denn es wird erwartet, dass die PLA zum ersten Mal konventionelle Raketen über die Insel Taiwan fliegen wird, dass die PLA-Kräfte in ein Gebiet innerhalb von 12 Seemeilen um die Insel eindringen werden und dass die so genannte Mittellinie nicht mehr existiert, sagten Experten und stellten fest, dass die PLA durch die vollständige Umzingelung Taiwans die Insel vollständig blockiert und damit die absolute Kontrolle des chinesischen Festlands über die Taiwan-Frage demonstriert." [4]
Gemeinsame See- und Luftübungen werden in den See- und Luftraum nördlich, südwestlich und südöstlich der Insel Taiwan verlegt, Schießübungen mit Langstreckenraketen werden in der Straße von Taiwan abgehalten, und konventionelle Raketentests werden östlich der Insel Taiwan durchgeführt, sagte Oberst Shi Yi, ein Sprecher des PLA Eastern Theater Command, in einer Erklärung am Dienstag. Das bedeutet, dass die Insel Taiwan in fünf Richtungen von PLA-Übungen umgeben sein wird.
Veränderung des "Status Quo"
In der Global Times heißt es, dass es im Kern nicht um Pelosi gehe, sondern um eine Veränderung der gesamten Situation in der Region, um eine Veränderung des "Status Quo":
"Nach Ansicht von Analysten zielt China nicht nur auf den Besuch einer 82-jährigen US-Politikerin ab, sondern auch auf die Anti-Sezessionskampagne gegen die abtrünnigen taiwanesischen Behörden und will den Wiedervereinigungsprozess konkret beschleunigen.
Analysten zufolge hat China viele Möglichkeiten, den Wiedervereinigungsprozess zu beschleunigen. Abgesehen von militärischen Übungen könnten die Optionen auch darin bestehen, militärische Ziele in Taiwan anzugreifen, so wie es die PLA in der letzten Krise an der Taiwanstraße getan hat, neue Gesetze für die nationale Wiedervereinigung durchzusetzen, Militärflugzeuge und -schiffe in den von den taiwanesischen Behörden kontrollierten "Luftraum" und die 'Wassergebiete' der Insel zu schicken und den stillschweigenden Waffenstillstand mit dem taiwanesischen Militär zu beenden.
Die angekündigten PLA-Übungen, die wahrscheinlich einen größeren Umfang haben werden als die während der Krise in der Straße von Taiwan 1996, dienen nicht nur als Warnung an die USA und die Abtrünnigen der 'Unabhängigkeit Taiwans', sondern auch als Probe für die PLA, die Insel gewaltsam wiederzuvereinigen, sagten Experten." [3]
Die Global Times zitiert Lü Xiang, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften: "Ausgehend von den veröffentlichten Informationen über die PLA-Übungen vom 4. bis 7. August haben die sechs Standorte die Insel Taiwan bereits aus allen Richtungen eingekreist, und es könnte sich um eine Reihe noch nie dagewesener Militärübungen handeln, die darauf abzielen, die Wiedervereinigung mit Gewalt zu verwirklichen und auch die externen Kräfte zu bekämpfen, die den Wiedervereinigungsprozess unterbrechen könnten." [3]
"Peking will zeigen, dass es unsere Meere blockieren kann. Aber es wird keine Invasion geben".
Su Tzu-yun, Analyst am Institut für Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsforschung in Taipeh, versucht zu beruhigen:
"Mit diesen Manövern will Peking zeigen, dass es in der Lage ist, eine Seeblockade gegen Taiwan zu errichten. Die beiden Häfen von Kaohsiung und Keelung könnten außer Betrieb gesetzt werden, da das größte Übungsgebiet direkt neben unserem Haupthafenzentrum liegt. Im Wesentlichen werden sie zeigen, dass sie in der Lage sind, das zu tun, was Russland mit Odessa und Mariupol getan hat, nämlich die taiwanesische Seekommunikation zu blockieren. Auch der zivile Flugverkehr wird mindestens 72 Stunden lang stark beeinträchtigt sein. Derzeit kann die chinesische Armee ihre Stärke deutlich sichtbar demonstrieren, aber sie ist nicht in der Lage, in großem Stil in Taiwan einzufallen." [5]
Taiwan: keine "Eskalation des Konflikts" gesucht.
Die Regierung in Taipeh erwartet, dass China mit den Manövern auch in taiwanisches Hoheitsgebiet eindringt. Das taiwanische Verteidigungsministerium erklärte, das Militär werde seine Alarmbereitschaft weiter erhöhen, um die nationale Sicherheit und Souveränität zu sichern und angemessen auf die "feindliche Situation" zu reagieren. Die Lage in der Straße von Taiwan und in der Nähe der vorgelagerten Inseln Taiwans werde genau beobachtet. Es werde keine "Eskalation des Konflikts" gesucht.
ASEAN-Außenminister warnen vor "Fehlkalkulation"
Die Außenminister des südostasiatischen Staatenbündnisses ASEAN warnten am Donnerstag vor Beginn der Militärmanöver, die derzeitige Situation könne zu "Fehlkalkulation, ernsthafter Konfrontation, offenen Konflikten und unvorhersehbaren Konsequenzen zwischen Großmächten führen". Es müsse jetzt auf jede "provokative Aktion" verzichtet werden, so die Minister bei einem ASEAN-Treffen in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh.
"Wir sind in das Zeitalter der Unordnung und Instabilität eingetreten, sowohl in den USA selbst als auch in der Welt. Dies stellt eine tödliche Bedrohung für den Weltfrieden dar. In nur wenigen Jahren hat die Sprache des Krieges, der Eroberung und des Konflikts die Sprache der Zusammenarbeit und des Friedens ersetzt. Die Idee des Krieges wird immer mehr zur Normalität. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich stattfindet, immer größer wird."
Martin Jacques in Global Times, 2.8.2022, https://www.globaltimes.cn/page/202208/1271987.shtml
Anmerkungen
[1] The New York Times, 5.5.2021: Biden’s Taiwan Policy Is Truly, Deeply Reckless
https://www.nytimes.com/2021/05/05/opinion/biden-taiwan-china.html
[2] Global Times, 2.8.2022: Pelosi provocation over Taiwan leads US, the world into age of disorder and instability: Martin Jacques
https://www.globaltimes.cn/page/202208/1271987.shtml
[3] Global Times, 3.8.2022: PLA launches missile drill to east of Taiwan as Pelosi arrives; China to turn on a new status quo for Taiwan situation as ‘US has broken the old one’
https://www.globaltimes.cn/page/202208/1272075.shtml
[4] Global Times, 3.8.2022: PLA drills around Taiwan continue to 'rehearse reunification operation' after Pelosi's visit, 'exercises blockading island to become routine'
https://www.globaltimes.cn/page/202208/1272108.shtml
[5] Interview in il manifesto, 4.8.2022: «Pechino vuole mostrare di poter bloccare i nostri mari. Ma non ci sarà invasione»
https://ilmanifesto.it/pechino-vuole-mostrare-di-poter-bloccare-i-nostri-mari-ma-non-ci-sara-invasione