30.07.2010: Als vor zwei Wochen die internationale Afghanistan-Konferenz unter Beteiligung der UN-Spitze und etwa 70 Staaten geendet hatte, wurde sie von einer namhaften deutschen Tageszeitung als "Tag der Schönredner" zusammenfassend bezeichnet. Für die ´Heimatfront` vor allem in den USA und der EU verbreitete die Konferenz die Behauptung, dass die afghanische Regierung ihre Existenz ab 2014 selbst in die Hand nehmen würde. Zur aktuellen Sicherheitslage im Lande wurde Optimismus versprüht, allen voran der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der ganz mutig sich gerierend auf das Tragen einer Schussweste verzichtete.
Anfang dieser Woche aber zerrissen die Netze der Propagandalügen wieder und diesmal mit dramatischer Wucht durch die Veröffentlichung von etwa 92.000 ganz konkreten Kriegsdokumenten aus den Jahren 2004-2009 durch die Internetplattform Wikileaks.
Die eigentliche Brisanz erhielt diese Veröffentlichung jedoch durch die Verbreitung der wesentlichen Inhalte in The Times, Guardian und Der Spiegel. Eine dankenswerte Leistung, denn für eine einzelne Person würde allein die Lektüre der Dokumente über 200x24 Stunden Zeit erfordern. Aus Sicht der Kriegsführer in Afghanistan wäre das natürlich überhaupt nicht nötig. US-Präsident Barack Obama und Vertreter der ISAF-Truppen in Afghanistan versuchten, die Bedeutung der Veröffentlichung gleich herunter zu spielen. Das sei ja eigentlich alles nichts Neues und allgemein bekannt. Und so sorgten Obama und andere führende Köpfe der Aggressoren sich auch nicht sosehr um die Inhalte der Dokumente, sondern vor allem darum, wer sie an Wikileak weitergegeben haben könnte, wie man der Informanten habhaft werden und sie bestrafen könne. Natürlich sei es auch furchtbar, wenn evtl. die eigene Truppe und ihre afghanischen Kollaborateure und Informanten gefährdet würden. Der US-Präsident nahm sehr geschickt die Erkenntnisse aus den Dokumenten zudem noch als Bestätigung seiner derzeitigen Strategie, die ja vor allem darin besteht, noch mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken und sich dafür beispielsweise in dieser Woche weitere 33 Mrd. Dollar für die Kriegskasse genehmigen zu lassen.
"Die verbreitete Einschätzung, es laufe schlecht, gerinnt durch diese Informationen zur Erkenntnis, dass es schlecht steht. Einen ´Indizienbeweis` nennt man so etwas in der Juristensprache. In den von Wikileaks publizierten Quellen fehlt nämlich jeder Silberstreifen am Horizont, jenes ´Aber andererseits`, das Politiker und führende Militärs nach dem Eingeständnis existierender Probleme gern anführen." So kommentierte Die Welt vor wenigen Tagen. Aber es ist doch nicht die vielleicht wichtigste Erkenntnis. Wenn Barack Obama so tut, als sei alles in den 92.000 Militärdokumenten nichts Neues und bekannt, so mag das natürlich für den internen Kreis der Militärs und der führenden Politiker der Aggressorstaaten in Afghanistan gelten. Aber der breiten Öffentlichkeit gegenüber werden viele Vorkommnisse und Fakten doch verheimlicht, schön gelogen oder zurecht frisiert. Das gilt für einzelne Vorkommnisse, aber auch für die gesamte Breite des Faktenmaterials.
Besonders die vom Guardian zusammen gestellten Auswertungen der Militärdokumente von Wikileak machen das deutlich:
- Zivilisten werden nach wie vor willkürliche ´Kollateralschäden` von ISAF-Militäroperationen. Laut Guardian sind hunderte afghanische Zivilisten bei bisher nicht bekannten Aktionen der internationalen Truppen ums Leben gekommen. In den Dokumenten sind 144 solche Zwischenfälle mit 195 zivilen Todesopfern aufgelistet.
- Die gegen die ISAF kämpfenden Taliban werden militärisch stärker, können auch Flugzeuge und Hubschrauber zunehmend wirksam angreifen, ihr Einfluss im Norden Afghanistans ist stark gestiegen
- Korruption auf afghanischer Seite und Drogenanbau und -handel sind ungebrochen
- Zivile Aufbauprojekte sind häufig Scheinblüten
- Polizei und Soldaten auf afghanischer Seite eröffnen immer wieder bewaffnete Angriffe aufeinander
- Eine geheime Mordtruppe ´Taskforce 373` macht selbst entgegen allen offiziellen Aufträgen der ISAF Jagd auf führende Taliban und Widerständler nach der Kopfgeldjägerdevise ´Tot oder lebendig`. Ein empfehlenswerter Artikel, in dem Beispiele dieser Praxis bar jeder Rechtsstaatlichkeit beschrieben sind, ist hier zu finden.
Vorsicht scheint allerdings gegenüber den Anschuldigungen in den Militärdokumenten angebracht, wo diese eine Zusammenarbeit des pakistanischen Geheimdienstes mit den Taliban im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet und in ähnlicher Weise Einmischungen des Irans behaupten. Gerne werden ja solche Verbindungen erfunden oder dramatisiert, um selbst Rechtfertigungen für eigene Einmischungen zu erhalten oder von eigenen Problemen abzulenken. Afghanistans Marionettenpräsident Karsai war denn auch am gestrigen Donnerstag sehr bemüht, daraus eine Aufforderung an die USA zu Militäraktionen gegen Pakistan zu konstruieren.
Die Abneigung der afghanischen Bevölkerung gegenüber den USA/NATO-Besatzern ist ungebrochen und besonders auf dem Lande sehr stark. Eine Mitte Juli veröffentlichte Studie des International Council on Security and Development (ICOS) im Süden Afghanistans ergab: 75 Prozent der Befragten meinten, Ausländer respektierten ihre Religion und ihre Bräuche nicht, 74 Prozent hielten es für falsch, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten, 68 Prozent fühlen sich von den NATO-Soldaten nicht beschützt. Gegen die Offensive, die die NATO-Truppen derzeit in Kandahar vorbereiten, sprachen sich 59 Prozent der Befragten aus. Dabei ist die Ablehnung der ausländischen Militärs in den großen Städten niedriger, auf dem Lande aber wesentlich höher. Vor allem in Marjah, wo die NATO im Februar die ´Operation Moshtatak` startete, um die Taliban zurückzudrängen, sind die ausländischen Truppen unbeliebt: nur ein Prozent gab an, die Militärintervention sei gut für die afghanische Bevölkerung gewesen, 88 Prozent meinten, dass mittlerweile die Taliban wieder die Kontrolle übernommen hätten.
Was die Volksmassen in Afghanistan auf Grund ihrer unmittelbaren Erfahrungen spüren, können die Wikileak-Dokumente den Menschen in aller Welt vermitteln. Darin liegt ihr Nutzen im Kampf gegen die imperialistischen Anmaßungen der USA/Nato in diesem geschundenen Land: gegen deren Propaganda und ihr Belügen des eigenen Volkes über Ziele, Stand und alltägliche Wirklichkeit die Wahrheit aufzeigen und vermitteln. Dies ist nicht nur bei uns ein wichtiger Beitrag gegen den EU/BRD-Imperialismus, das wirkt selbst im Zentrum des Weltimperialismus, den USA. Eine neueste Untersuchung von Reuters/IPSOS über die Zufriedenheit der Bevölkerung mit Barack Obamas Kriegsführung in Afghanistan ergab einen Abfall der Zustimmung auf 33% gegenüber 38% im Januar 2010 und 47% im Februar 2009.
Text: hth / Foto: U.S. Army (Einsatz in der Provinz Logar)