23.06.2010: Während UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon am letzten Samstag (19.6.) in seinem 2. Quartalsbericht des Jahres die Sicherheitslage in Afghanistan als "dramatisch verschlechtert" bezeichnete, ergehen sich führende Köpfe der Besatzungstruppen unter Führung der USA in Zuversicht, Schönmalerei und dem Verbreiten von Durchhalteparolen. So US-Verteidigungsminister Robert Gates mit der Behauptung: "Wir gewinnen die Initiative zurück." Und Nato-General Josef Blotz merkte am 19.6. zum UN-Bericht an, dass die internationalen Streitkräfte Fortschritte machten und "sich das Blatt wende".
Die meisten verfügbaren Daten - vieles wird von den Afghanistanbesatzern durch entsprechende Geheimhaltung aus unseren Medien rausgehalten - sprechen nicht für einen solchen Scheinoptimismus. Der UN-Bericht weist z.B. aus, dass an und auf den Straßen Afghanistans im ersten Quartal 2010 doppelt soviel Bomben explodierten, wie im entsprechenden Quartal von 2009. Ein nicht öffentlicher Bericht des Ministeriums unseres deutschen obersten Hindukusch-Verteidigers gibt an, dass in der 22. KW des Jahres 582 Angriffe auf die Nato-Truppen in Afghanistan stattfanden, in der 23. KW waren es 694 "Sicherheitsvorfälle". Und die Militärs der USA gehen davon aus, dass der Juni 2010 der verlustreichste Monat seit der Besetzung des Landes Ende 2001 sein wird. Gerne wird dabei noch verschwiegen, dass auch die Terroranschläge der Taliban in Afghanistan in der jetzigen Form eine Folge der Besatzung des Landes durch USA und Verbündete sind.
Einige jüngste Vorgänge in den Spitzenstrukturen der Afghanistan-Besatzer spiegeln die andauernde Erfolglosigkeit der 'US-Befriedung' und deren innere Widersprüche auf.
So wurde seitens des UN-Generalsekretärs sein schon erwähnter Bericht mit der Entscheidung verbunden, alle ausländischen Mitarbeiter der UN aus Afghanistan abzuziehen. Laut Angaben vom März dürften es 900-1000 Mitarbeiter sein, die in den nächsten drei Monaten nach Kuwait verlegt werden sollen. Als Grund wird explizit die gefährliche Sicherheitslage angegeben. Glaubwürdige Hinweise auf Bedrohungen durch Extremisten "erwähnen weiterhin, dass die Präsenz der Vereinten Nationen ein mögliches Ziel künftiger Angriffe ist", hieß es in dem Quartalsbericht von Ban Ki-Moon für den UN-Sicherheitsrat. Schon im letzten November hatten die UN Hunderte von Mitarbeitern nach einem Anschlag auf ihr Gästehaus in Kabul abgezogen.
Erneut hat sich ein hoher Diplomat der Besatzerstaaten aus seiner Funktion zurück gezogen. Der Brite Sir Cowper-Coles war vor Februar 2009 Botschafter der britischen Regierung in Kabul und wurde dann in einem neu geschaffenen Amt 'Sonderbotschafter für Afghanistan und Pakistan'. Nach Informationen der britischen Zeitung 'The Guardian' lag er seit Monaten im Streit mit Vertretern von NATO und USA über die richtige Strategie am Hindukusch. Demnach war der britische Gesandte davon überzeugt, dass eine Strategie, die in erster Linie auf militärische Erfolge gegen die Aufständischen zielt, zum Scheitern verurteilt sei. Er bezeichnete die Militäraktionen als "Bürgerkrieg" und kritisierte laut einem nicht-britischen Diplomaten, dass man "die falsche Seite" unterstütze. Jetzt ließ er sich beurlauben und seine Rückkehr ins Amt wird nicht erwartet. Auch wenn Cowper-Coles sicher kein grundsätzlicher Gegner imperialistischer Abenteuer ist, so wachsen seine Positionen genauso sicher nicht auf dem Boden einer erfolgreichen USA/Nato-Strategie.
Dies gilt wohl gleichermaßen für die Probleme, mit denen sich der Oberbefehlshaber der US- und ISAF-Truppen in Afghanistan, Stanley McChrystal, derzeit rumschlagen muss und wegen derer er jetzt kurzfristig heute vor seinem Chef, US-Präsident Barack Obama, antreten und sogar seine Entlassung fürchten muss. In einem Porträt von MacChrystal unter dem Titel 'The Runaway General' im Magazin 'Rolling Stone' vom 22.6.2010 hatten er und einige Reihe seiner engsten Mitarbeiter sich nämlich herzhaft abfällig über Obama und etliche von dessen politischen Helfern geäußert. Besonders zog man über Vizepräsident Joe Biden her, den MacChrystal schon früher als "kurzsichtig" und Erzeuger eines "Choas-istans" kritisiert hatte. "Sie fragen nach Vizepräsident Joe Biden? Wer ist das denn?" machte sich McChrystal lustig. "Biden?" schob ein anwesender Berater nach: "Sagten Sie 'Bite Me'?" Ein Wortspiel mit der Bedeutung 'leck mich'.
Ohne hier in weitere Einzelheiten zu gehen, reicht die Zusammenfassung des Autors in 'Rolling Stone': "Im privaten Rahmen liebt das McChrystal-Team, dreckig über viele aus Obamas diplomatischem Dienst zu reden." Darunter sind insbesondere Richard Holbrooke, Sonderbeauftragter von Obama, und Carl Eikenberry, der US-Botschafter in Afghanistan. Die Diplomaten stehen dem Konzept der Counterinsurgency (COIN) von McChrystal und dem Marionettenpräsident der USA in Afghanistan Karzai skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie sehen mehr oder minder deutlich die Erfolglosigkeit und Aussichtslosigkeit von COIN - ohne allerdings eine echte Lösung im Auge zu haben. Denn auch ihr Paradigma ist die Beherrschung Afghanistans.
Jedoch spüren nicht nur die Diplomaten der US-Besatzer die strategischen Sackgassen der Afghanistan-Besetzung und der COIN-Umsetzung. In einer einstündigen Diskussion von McChrystal mit etwa zwei Dutzend Soldaten, über die 'Rolling Stone' berichtet, wird deutlich, dass auch auf dieser Ebene die propagandistischen Fahnen zu Boden sinken. Als ein Soldat ausspricht, dass etliche von ihnen glauben, "dass wir verlieren", nimmt sich McChrystal 20 min. Zeit um sie vom Gegenteil zu überzeugen und schließt: "Wir sind knietief im Entscheidungsjahr. Die Taliban haben nicht die Initiative - aber wir haben sie auch nicht." Und der Reporter merkt an, dass dies eine Rede wie bei der NATO in Paris war, sie jedoch überhaupt nicht die Herzen und Köpfe der Soldaten zu gewinnen vermochte. Denn diese haben andere Erfahrungen gemacht. So äußerte einer der Soldaten: "Sie haben gesagt, dass der Schwung des Aufstandes bereits zum Stillstand kam. Ich glaube nicht, dass das für diese Gegend hier wahr ist." Als Ergebnis der Diskussion stellt der Autor des Berichtes fest, dass McChrystal wohl Präsident Obama sein Konzept der COIN verkaufen konnte, viele seiner eigenen Leute vor Ort würden es ihm jedoch nicht abkaufen.
Das sind gute Zeichen. Tiefe Uneinigkeit und Widersprüche über Sinn und Wege in den Reihen der Afghanistan-Besatzer, ihrer Führer und Truppen, sind nicht nur Ausdruck der Schwäche ihres Agierens, sondern günstig für den Kampf der fortschrittlichen, friedliebenden Menschen in aller Welt und vor allem des afghanischen Volkes, diesem mordenden Spuk ein Ende zu bereiten - auch wenn dieser Kampf kein Selbstläufer ist und noch viele Schwierigkeiten zu überwinden hat.
Text: hth / Foto: White House (Pete Souza)