27.06.2022: Die Migrationspolitik der Europäischen Union hat an der Südgrenze eine neue Tragödie ausgelöst ++ Mindestens 37 Flüchtlinge starben am Freitag (24.6.) an der Grenze von Marokko zur spanischen Enklave Melilla ++ Spaniens Regierungspräsident Pedro Sánchez lobt die Arbeit der marokkanischen Gendarmerie und der Guardia Civil ++ linke Regierungspartner fordern internationale Untersuchung, Bestrafung der Verantwortlichen für das Massaker und humanitäre Migrationspolitik.
Die Migrationspolitik der Europäischen Union hat an der Südgrenze eine neue Tragödie ausgelöst. Regelmäßig sterben Menschen einen gewaltsamen Tod, weil sie versuchen, auf der Suche nach einem Überleben Europas Grenzen zu überwinden. Am vergangenen Wochenende hat Europa einen neuen Abgrund erreicht: Mindestens 37 Migrant*innen starben am Freitag (24.6.) auf der marokkanischen Seite der Grenze zur spanischen Enklave Melilla bei dem Versuch, den 10 Meter hohen Zaun zu überwinden. Neben den Todesopfern wurden 76 Migrant*innen verletzt, 13 von ihnen schwer. Die Zahlen sind nicht endgültig, sie können noch weiter steigen, sagen die marokkanische Vereinigung für Menschenrechte und die spanischen Caminando Fronteras .
In den frühen Morgenstunden versuchten etwa zweitausend Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara, den Zaun um die autonome Stadt Melilla zu überwinden. Nur 500 von ihnen schafften es, den Grenzübergang in der Nähe des "Barrio Chino" zu erreichen, wo sie das Eingangstor stürmten. 133 von ihnen gelang es, in die spanische Enklave in Marokko zu gelangen.
Zahlreiche Beamte der spanischen Guardia Civil und marokkanische Polizisten griffen ein, um die Flüchtlinge zurückzudrängen. Quellen und Zeugenaussagen zufolge wurde der Versuch, die Grenze zu überqueren, vor allem, aber nicht nur, von Beamten aus Rabat mit massiver Gewalt zurückgeschlagen.
Die marokkanische Menschenrechtsvereinigung Nador hat auf Twitter ein Video veröffentlicht, das Dutzende von Menschen subsaharischer Herkunft zeigt, die offensichtlich verletzt und erschöpft auf dem Boden liegen und von marokkanischen Beamten umzingelt sind.
Video: https://twitter.com/i/status/1540589250143461377 |
Nador berichtet außerdem, dass am Sonntagmorgen die marokkanischen Behörden Gräber auf dem Friedhof Sidi Salem aushoben, um die am Freitag getöteten Migrant*innen zu beerdigen. "Ohne Untersuchung, ohne Autopsie, ohne Identifizierung versuchen die Behörden, die Katastrophe zu vertuschen", so Nador.
Esteban Beltrán, Direktor der spanischen Sektion von Amnesty International, fordert eine "unabhängige und umfassende Untersuchung" des Vorfalls. Quellen der NRO beklagten nach Sichtung von Videos und Fotos, dass die spanische Polizei einige der Flüchtlinge, denen es gelungen war, in die Enklave einzudringen, gewaltsam zurückgeführt und damit ihr Recht verletzt hat, politisches Asyl oder andere Schutz- und Aufnahmemaßnahmen zu beantragen, wie es das Völkerrecht vorsieht. Amnesty prangerte auch die grundlose Gewalt an, mit der marokkanische Grenzsoldaten gegen wehrlose Flüchtlinge vorgingen, die keinen Widerstand leisteten.
Spaniens Regierungspräsident Pedro Sánchez lobt die Arbeit der marokkanischen Gendarmerie und der Guardia Civil
Spaniens Regierungspräsident Pedro Sánchez (Sozialistische Partei) fand jedoch kein Wort des Bedauerns angesichts der 37 toten Migrant*innen in Melilla. Stattdessen lobte er die Arbeit der marokkanischen Gendarmerie und der Guardia Civil.
Auf einer Pressekonferenz hob der sozialistische Ministerpräsident angesichts von 37 Toten an der Grenze zwischen Marokko und Melilla die "außergewöhnliche Arbeit unserer Sicherheitskräfte" hervor. Sie hätten sich erfolgreich gegen einen "gewaltsamen Angriff auf die territoriale Integrität Spaniens" zur Wehr gesetzt und dies, so unterstrich Sánchez, in "koordinierter Zusammenarbeit" mit den marokkanischen Sicherheitskräften. Für die Todesfälle machte er die "Menschenhändler-Mafia" verantwortlich. "Gestern habe ich meine Solidarität zum Ausdruck gebracht und die außerordentliche Arbeit der Sicherheitskräfte und der Behörden unseres Landes gewürdigt. Bei diesen von der Menschenhandelsmafia organisierten gewalttätigen Übergriffen wurden einige Zivilbeamte verletzt. Es war ein gewaltsamer Angriff auf die territoriale Integrität unseres Landes", sagte er auf der Pressekonferenz.
Kommunisten, Vereinigte Linke und Podemos fordern Untersuchung
Dass Sánchez es gutheißt, wenn Grenzschützer halbtote und tote Menschen vor sich zu Haufen auftürmen, wie es Videomaterial von der Grenze in Melilla dokumentiert, und den Vorfall damit als "gut gelöst" bezeichnet, ruft den Protest von Menschenrechtsorganisationen und auch seiner linken Koalitionspartner von der Kommunistischen Partei PCE, der Vereinigten Linke Izquierda Unida und Podemos hervor.
Die Vizepräsidentin Spaniens, Yolanda Diaz (PCE), sprach den "Angehörigen all derer, die zu Unrecht ihr Leben verloren haben" ihr Beileid aus und erklärt "Was geschehen ist, muss jetzt aufgeklärt werden. Ich werde immer für eine Migrationspolitik eintreten, die die Menschenrechte achtet."
Am Sonntag fand in Madrid eine Protestkundgebung gegen das Massaker in Melilla statt. In den nächsten Tagen wird es in zahlreichen Städten Spaniens Kundgebungen geben, zu denen auch die PCE und die Izquierda Unida aufrufen.
Die PCE fordert eine internationale Untersuchung und verlangt, dass die Verantwortlichen für diese Katastrophe und dieses Massaker vor Gericht gestellt werden.
Die Izquierda Unida fordert von Spanien und Marokko eine Untersuchung der Vorgänge an der Grenze zu Melilla. Sie weist auch die Erklärungen von Pedro Sánchez zurück, in denen er das Vorgehen der marokkanischen Gendarmerie beglückwünscht und fordert eine Berichtigung und Entschuldigung.
"Wir bringen auch unsere Empörung und tiefe Ablehnung gegenüber den Äußerungen von Pedro Sánchez zum Ausdruck, der die Aktion der marokkanischen Gendarmerie für ihre 'harte Arbeit' beglückwünscht hat. Wir von der Izquierda Unida bekunden unsere Solidarität mit den Familien der Opfer dieses schmerzlichen Vorfalls und fordern, dass die Überführung der Leichen gewährleistet wird und dass beide Länder, Marokko und Spanien, eine Untersuchung der Vorfälle einleiten. Schließlich erinnern wir an die Verantwortung, die Spanien im Rahmen des Einwanderungsabkommens zwischen Spanien und Marokko für derartige Vorfälle trägt." [1]
Auch Podemos ist mit der Position des Regierungspräsidenten nicht einverstanden und hat eine "sofortige und unabhängige" Untersuchung durch die Europäische Union gefordert, um zu klären, was in Melilla geschehen ist. Für Podemos ist die "humanitäre Katastrophe" in Melilla die Folge von Migrationsabkommen mit Regierungen ist, die "systematisch die Menschenrechte verletzen", und bezieht sich dabei auf Marokko.
"Das Völkerrecht zu ignorieren, indem man unter anderem die Rechte des saharauischen Volkes verkauft und Regierungen vertraut, die systematisch die Menschenrechte verletzen, hat Konsequenzen. Wir haben sie von Anfang an verteidigt: Die Einhaltung des Völkerrechts ist und muss unverhandelbar sein", betont Podemos.
Vor diesem Hintergrund fordert Podemos eine Außen-, Migrations- und Kooperationspolitik, "die nicht mit der Externalisierung der Grenzen verbunden ist". Notwendig seien "legale und sichere Wege; Entschlossenheit bei der Verteidigung der Menschenrechte; ein entschlossener Kampf gegen Korruption und eine gerechte Entwicklung auf beiden Seiten der Grenze". [2]
"37 Tote. Wären sie blond und Europäer, gäbe es Dringlichkeitssitzungen auf höchster Ebene, Fernsehspecials über ihre Lebensgeschichten und ihre Familien und einen völligen Abbruch der Beziehungen zu dem Land, dessen Polizeiaktion diese Tragödie verursacht hat. Aber sie sind weder blond noch Europäer." Pablo Echenique, MdEP, Podemos |
Kurswechsel Madrids gegenüber Rabat
Das Lob von Sánchez für die marokkanischen Behörden ist Ausdruck der neuen Beziehungen Madrids zu Rabat. Im Mai 2021, nach der durch die "Ablenkung" der marokkanischen Gendarmerie erleichterten Einreise von etwa 8.000 Flüchtlingen nach Ceuta, waren die Töne des PSOE-Führers gegenüber Rabat sehr harsch gewesen. Doch im vergangenen März änderte Sánchez seinen Kurs, erkannte die marokkanische Souveränität über die vom Königreich Mohammed VI. illegal besetzten saharauischen Gebiete an und nahm neue freundschaftliche Beziehungen zu Rabat auf. Der spanische Ministerpräsident gab auch dann nicht auf, als der Madrider Geheimdienst ihn darüber informierte, dass sein Mobiltelefon von den marokkanischen Behörden mit Hilfe der israelischen Schadsoftware Pegasus ausgespäht worden war.
Diese Kehrtwende löste jedoch eine gereizte Reaktion Algeriens aus, das nach der Blockade der Gaslieferungen an Marokko vor kurzem den 2002 mit Madrid unterzeichneten Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag ausgesetzt und damit die Gasexporte nach Spanien reduziert hat.
Innenpolitisch führte der Schwenk von Sánchez zu einer Regierungskrise. Die Linkskoalition Unidas Podemos (Koalition von Podemos und Izquierda Unida), verweigerte Sánchez die Gefolgschaft. Für sie ist es nicht nachvollziehbar, dass Spanien einerseits Waffen in die Ukraine schickt, um dessen Selbstbestimmungsrecht zu verteidigen, aber das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis gegenüber Marokko opfert. (siehe kommunisten.de: "Selbstbestimmung für die Westsahara. Kein Thema mehr für die NATO")
Anmerkungen
[2] https://www.publico.es/politica/exige-depuren-responsabilidades-muertes-valla-melilla.html