Europa

FRONTEX Push back09.08.2021: europaweiter Aktionstag ″Seenotrettung ist unverhandelbar! – Stop the Pushbacks″ ++ erstmals Anklage gegen Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ++ EU-Parlament: Frontex versagt bei Erfüllung ihrer Pflichten und hat kein Interesse an Menschenrechten

 

Am vergangenen Wochenende (7./8.8) gingen in Hamburg, Berlin, München und rund einem Dutzend weiterer Städte mehrere Tausend Menschen im Rahmen eines europaweiten Aktionstages unter dem Motto ″Seenotrettung ist unverhandelbar! Free the Ships – Stop the Pushbacks – Menschenrechte jetzt!″ auf die Straße. Aufgerufen hatten neben Seebrücke auch Rettungsorganisationen, Pro Asyl, Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen. Die Organisatoren erinnerten daran, dass in diesem Jahr bereits fast 1200 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Darüber hinaus seien mehr als 14.000 völkerrechtswidrig von der sogenannten libyschen Küstenwache nach Libyen zurückgebracht worden. Die EU finanziere diese Miliz mit, die EU-Grenzagentur Frontex sei an den Rückführungen beteiligt.

Anklage gegen Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 

Zum ersten Mal in ihrem 17-jährigen Bestehen wird Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeklagt. Frontex wird vorgeworfen, an der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei seinen Auftrag verraten zu haben: die Einhaltung der "europäischen Prinzipien" gegenüber Asylbewerber*innen zu gewährleisten. Die Klage vor dem Gericht wurde von einer niederländischen NGO in Zusammenarbeit mit der griechischen Beobachtungsstelle für die Helsinki-Vereinbarungen und zwei europäischen Rechtshilfegruppen initiiert. Die Anklage erfolgt im Namen eines unbegleiteten Minderjährigen und einer Frau. Sie beschuldigen Frontex der Misshandlung und sogar der gewaltsamen Zurückweisung in die Türkei.

Den beiden Antragsteller*innen war es gelungen, nach Lesbos zu kommen, wo sie mit Vertreter*innen von Solidaritätsstrukturen in Kontakt kamen und einen Asylantrag gestellt hatten. Noch bevor der Antrag überhaupt geprüft wurde, sonderte die griechische Polizei sie und andere Asylsuchende in Gewahrsamseinrichtungen aus, misshandelte und beraubte sie und zwang sie schließlich vor den Augen von Frontex-Beamten, an Bord von Flößen zu gehen, die in türkische Gewässer geschleppt wurden und dort der Strömung ausgeliefert wurden, ohne Nahrung und Wasser. Für Mitglieder der Griechischen Beobachtungsstelle erfolgte die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs, weil "Griechenland bereits gezeigt hat, dass es kein Rechtsstaat ist"

Griechische Kuestenwache 2020 03Seit März 2020 verfolgt die konservative griechische Regierung die Strategie der illegalen Zurückweisung (Pushbacks) von Booten, die von der türkischen Küste kommen. Es gibt zahlreiche Beschwerden und Dokumentationen über die Beteiligung von Frontex an den Zurückweisungsaktionen der griechischen Küstenwache und Polizei auf den Ägäischen Inseln, die oft in Tragödien enden: der letzte Schiffbruch war im Juni, mit 11 Toten. An den Frontex-Einsätzen in der Ägais sind auch Küstenschutzboote mit deutschen Polizist*innen beteiligt (Foto unten).

  Frontex Samos 2021  
  Deutsche Küstenwache im Frontex-Einsatz in der Ägais (Foto: Samos, Juli 2021)  

 

EU-Parlament: Frontex versagt bei Erfüllung ihrer Pflichten

Kürzlich kam auch das Europäische Parlament zu dem Schluss, dass Frontex in Erwägung ziehen sollte, seine Aktivitäten auszusetzen oder sich aus griechischem Territorium zurückzuziehen, weil die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex bei der Erfüllung ihrer Pflichten versagt und nicht verhindert, dass lokale Behörden sich illegal verhalten. Schon länger gab es Berichte von Nichtregierungsorganisationen, Seenotrettern und Medien über die Verwicklungen der EU-Grenzschutzagentur Frontex in Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen. Eine Prüfgruppe des EU-Parlaments hatte sich in den vergangenen vier Monaten mit den Anschuldigungen auseinandergesetzt. Ende Juli stellten die Abgeordneten von sieben Fraktionen nun ihr Papier vor – und kritisierten darin die Agentur Frontex und vor allem deren Chef Fabrice Leggeri scharf. Die Schlussfolgerung der Parlamentarier-Arbeitsgruppe lautete, ″dass Frontex seine Verantwortung zum Schutz der Grundrechte an Europas Außengrenzen nicht wahrgenommen hat″. Die Organisation habe es versäumt, ″Grundrechtsverletzungen anzusprechen und zu verhindern″.

Spanien Sira Rego

 

MdEP Sira Rego: "Es war unmöglich, Frontex zu untersuchen″   

 


EU-Grenzschutzagentur Frontex macht was sie will

Tobias Tscherrig schreibt für die Online-Zeitung INFOsperber über die Untersuchung des Europaparlament zu den Vorwürfen, dass Frontex in illegale Pushbacks verwickelt ist:

Während Monaten haben EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier untersucht, ob die europäische Grenzschutzagentur Frontex in illegale Pushbacks von Flüchtlingen in der Ägäis verwickelt war – und ob sie davon gewusst hatte. Damit reagierten sie auf Enthüllungen von Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsbeauftragten und Medien wie dem «Spiegel», der gemeinsam mit den Medienorganisationen «Lighthouse Reports», «Bellingcat» und dem ARD-Magazin «Report Mainz» aufgezeigt hatte, dass Frontex in der Ägäis in illegale Pushback verwickelt ist und sich bei Menschenrechtsverletzungen sogar zum Komplizen gemacht hatte.

Frontex und ihr Direktor Fabrice Leggeri reagierten erst nach langem Zögern auf die Vorwürfe und wiesen sie schliesslich zurück.

Die Ergebnisse des Untersuchungsberichts, die nun vorliegen, sind nun aber gleich doppelt vernichtend: Erstens lagen Frontex Beweise für die mutmasslich illegalen Pushbacks durch griechische Grenzschützer vor, trotzdem blieb die Grenzschutzagentur untätig. Frontex habe es «versäumt, die Grundrechtsverletzungen anzusprechen und zu verhindern». Zweitens kommt vor allem Leggeri unter die Räder. Unter anderem soll er belastendes Material vernichtet haben. Die Vorwürfe an seine Adresse reichen aber viel weiter, die EU-Abgeordneten listen seine Verfehlungen auf insgesamt 17 Seiten auf.

Dann fehle ein funktionierender Rahmen für den Informationsaustausch zwischen Frontex und den EU-Mitgliedsstaaten, auch die Arbeitsteilung funktioniere nicht. Die Kommission als Hüterin der Verträge und der Europäische Rat müssten Frontex stärker überwachen, kommt der Untersuchungsbericht zum Schluss.

«Abrechnung mit Leggeri»

Die Prüfgruppe des EU-Parlaments heisst «Frontex Scrutiny Working Group», der Vorsitz hält die maltesische Abgeordnete Roberta Metsola von der konservativen EEP-Fraktion. Alle Fraktionen des EU-Parlaments sind darin vertreten – und die Mitglieder finden deutliche Worte. Der Bericht lese sich wie eine Abrechnung mit Leggeri und «zeichnet das Bild eines Direktors, der sich für die Einhaltung von Menschenrechten an den EU-Aussengrenzen kaum interessiert und alles tut, um Verstösse zu vertuschen», fasst zum Beispiel der «Spiegel» zusammen.

So steht etwa im Schlussbericht des Rapports, dass Frontex öffentliche Berichte über Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen generell abgetan habe. Weiter habe die Agentur auch auf interne Informationen über mutmassliche Rechtsbrüche nicht angemessen reagiert. Dann folgt die Kritik am Direktor der Grenzschutzagentur. Leggeri habe die Stellungnahmen und Anfragen seiner Grundrechtsbeauftragten und des Konsultativforums ignoriert – sowohl die Grundrechtsbeauftragten als auch das Konsultativforum sind dazu da, dafür zu sorgen, dass Frontex die Rechte von Asylsuchenden achtet. Allem Anschein nach haben diese Kontrollmechanismen – zumindest in diesem Fall – funktioniert. Bis die Meldungen und Stellungnahmen den Frontex-Direktor erreichten, der sie schlichtweg ignorierte.

So habe es zahlreiche Meldungen und Berichte über mutmassliche Rechtsbrüche in der Ägäis gegeben. Trotzdem habe Leggeri nie umfassend erwogen, den Frontex-Einsatz zu beenden. Weiter habe er auch nicht überlegt, wie er die Menschenrechtsverletzungen verhindern könne. Die Vorwürfe der Parlamentarierinnen und Parlamentarier gehen aber noch weiter: «Im Gegenteil, der Exekutivdirektor behauptet weiterhin, dass ihm keine Informationen über Grundrechtsverletzungen bekannt sind.»

 


«Entsetzlicher Vertuschungsversuch»

Die Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis, in die Frontex involviert war, liefen folgendermassen ab: Frontex-Beamte stoppen Flüchtlingsboote, noch bevor sie die griechischen Inseln erreichen. Sie übergeben die Geflüchteten an die griechische Küstenwache. Diese setzen die hilfesuchenden Menschen anschliessend systematisch auf dem Meer aus. Entweder auf aufblasbaren Gummibooten oder auf Schlauchbooten, in denen sie den Motor entfernt haben. Wie der «Spiegel» berichtet, wenden die griechischen Beamten dabei oftmals Gewalt an: Sie stechen auf die Schlauchboote ein oder schiessen ins Wasser. Bei mindestens sieben solcher Fälle seien Frontex-Einheiten in der Nähe gewesen – oder seien darin verstrickt gewesen.

So zum Beispiel in der Nacht vom 18. auf den 19. April. Frontex zeichnete damals aus der Luft auf, wie die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf einem motorlosen Boot aussetzte und wegfuhr, was ein klarer Rechtsverstoss darstellt – und die betroffenen Menschen in Lebensgefahr brachte.

Um die Aufarbeitung dieses Pushbacks habe sich Frontex-Direktor Leggeri selber gekümmert. Allerdings auf seine Art: Gegenüber dem Parlament habe er den Vorfall erst verschwiegen. So habe das Europäische Parlament von Frontex nur das bekommen, was ohnehin öffentlich zugänglich war. Der Direktor berufe sich auf das Urheberrecht, um Dokumente zurückzuhalten, statt seiner Rechenschaftspflicht nachzukommen, steht im Bericht. Und selbst die EU-Kommission von Ursula von der Leyen habe es «in intensiven, langen und andauernden Kontakten» mit Frontex in mehr als einem Jahr nicht erreicht, dass die Behörde tue, wozu sie seit 2019 in Menschenrechtsfragen verpflichtet sei. Die involvierten EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier zeigen sich im Rapport «besorgt über den Mangel an Kooperationsbereitschaft des Exekutivdirektors».

Weiter habe Leggeri den Vorfall vom April nachträglich so eingestuft, dass die Grundrechtsbeauftragte der Agentur nicht mehr beteiligt gewesen sei. So bezieht sich denn auch einer der brisantesten Vorwürfe des Untersuchungsberichts des Europaparlaments auf ebendiese Nacht: Leggeri habe die Grundrechtsbeauftragte persönlich angewiesen, alle Informationen zu löschen, die sie zum Vorfall gesammelt hatte. Das soll aus internen E-Mails hervorgehen, die den EU-Abgeordneten vorliegen. Die Grundrechtsbeauftragte habe zuvor einen «Serious Incident Report (SIR)» erhalten: Mit diesen Meldungen können Beamte, die an Grenzschutzaktionen teilgenommen haben, als Whistleblower auf mögliche Gesetzesübertretungen aufmerksam machen. Leggeri habe die Wichtigkeit des Rapports herabgestuft.

Menschenrechte haben keine Priorität

Anscheinend ist das kein Einzelfall. Wie aus dem Kommissionsbericht hervorgeht, sei die oberste Menschenrechtsstelle von Frontex seit «2017 nicht ausreichend in den Umgang mit SIRs eingebunden» gewesen. Das heisst: Sie konnte kaum eingreifen, um zu verhindern, dass Vorfälle falsch eingestuft werden.

Überhaupt scheint für Frontex – und vor allem für ihren Direktor Fabrice Leggeri – die Einhaltung von Menschenrechten keine sonderlich hohe Priorität zu geniessen. So habe es Leggeri etwa «in schwerwiegender und unnötiger Weise» versäumt, bisher alle mindestens 40 Menschenrechtsbeobachterinnen und -Beobachter einzustellen, die eigentlich die Operationen von Frontex begleiten müssten. Fünfzehn der bisher 20 eingestellten Beobachterinnen und Beobachter hätten zudem nur eingeschränkte Rechte und dürften gar keine Operationen begleiten. Statt die Einhaltung der Menschenrechte umzusetzen, die vakanten Stellen der Beobachterinnen und -Beobachter zu besetzen und diese uneingeschränkt arbeiten zu lassen, forderte Leggeri lieber eine Aufstockung seines eigenen Stabs.

Frontex produziert immer wieder Skandale

Auch wenn die Sachverhalte im Bericht relativ klar sind, ist der Untersuchungsbericht ein politischer Kompromiss. Während Stunden verhandelten die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier über die genauen Formulierungen. So hätten die Konservativen auf der Feststellung bestanden, dass Frontex die Pushbacks nicht selbst durchgeführt habe – was aber auch gar niemand behauptet hatte. Und auch wenn keine Hinweise gefunden wurden, dass Frontex während Grenzeinsätzen selber Recht gebrochen hat, spricht das die Agentur nicht etwa frei. So fand die Untersuchungskommission Belege dafür, dass bei Frontex-Operationen Grundrechte von EU-Mitgliedsstaaten verletzt wurden. Frontex «versäumte es, diesen Rechtsbrüchen rasch, aufmerksam und effektiv nachzugehen. Im Ergebnis hat Frontex sie weder verhindert noch das Risiko verkleinert, dass es weitere geben wird», so der Bericht.

Trotz des vernichtenden Zeugnisses, das die «Frontex Scrutiny Working Group» zuhanden der europäischen Grenzschutzagentur ausstellt, begrüsst Frontex die Schlussfolgerungen der Untersuchungskommission. Der Bericht habe bestätigt, «dass es keine Belege dafür gibt, dass die Agentur in irgendwelche Menschenrechtsverletzungen verwickelt» sei.

Aber Leggeri steht das Wasser bis zum Hals. Der Linken geht der Bericht zum Beispiel nicht weit genug, sie fordert die Absetzung des Direktors. Wenn er nicht zurücktrete, müsse EU-Kommissarin Ylva Johansson dafür sorgen, dass er entlassen werde. Ausserdem wollen die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier spätestens bei der Verlängerung von Leggeris Vertrag mitreden.

Denn die Frontex produzierte in der Vergangenheit immer wieder Skandale. So ermittelt zum Beispiel auch die Antibetrugsbehörde Olaf gegen den Frontex-Chef und sein Führungsteam. Bei den Vorwürfen, die Leggeri schwer belasten, geht es um finanzielle Unregelmässigkeiten, Mobbing und um illegale Rückführungen. Kritik kommt auch vom Europäischen Rechnungshof, der die mangelnde Funktionstüchtigkeit der skandalträchtigen Behörde moniert. Weiter veröffentlichte die Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly im Juni ihren Bericht über die Mängel im Frontex-Beschwerdemanagement.

Es braucht Sanktionen

Dazu kommt eine nicht abreissende Flut von Kritik von Nichtregierungsorganisationen, Medien und auch von staatlichen Stellen: Frontex sorge dafür, dass möglichst wenige Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten den Weg nach Europa fänden. Dabei werde gegen geltendes Recht und fundamentale Menschenrechte verstossen. Es geht um unterlassene Hilfeleistung und um sogenannte Push-Backs und Pull-Backs.

All das hat der europäischen Grenzschutzagentur bisher wenig bis nicht geschadet. Weltweit wächst kaum eine Behörde so rasant wie Frontex. Bis 2027 soll sich ihr Budget – gemessen am Startbudget von 2005 – vertausendfacht haben. Der Personalbestand soll weiter aufgestockt werden, ausserdem erhält Frontex in regelmässigen Abständen neue Befugnisse.

Zwar hat das EU-Parlament den Jahresabschluss von Frontex für das Jahr 2019 – unter anderem wegen den laufenden Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen und wegen angeblichen Lügen über Treffen mit Industrielobbyisten – vorerst nicht genehmigt. Doch das genügt nicht. Wie der neuste Untersuchungsbericht zeigt, macht Frontex was sie will. Sie kümmert sich kaum um Menschenrechte und verletzt ihre Rechenschaftspflichten. Die Einfrierung des Budgets und die Absetzung des Direktors dürfen kaum ausreichen, um diese Missstände zu beheben.

Übernommen von: https://www.infosperber.ch/gesellschaft/migration/eu-grenzschutzagentur-frontex-macht-was-sie-will/

   
  Die geheimen Dates von Frontex und der Rüstungsindustrie | ZDF Magazin Royale  

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zum Text hier
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