Europa

EU Festung DGB15.12.2020: Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich am Donnerstag und Freitag vergangener Woche zum letzten Gipfel im Jahr 2020 getroffen. ++  Der Streit um den Haushalt und um Sanktionen gegen die Türkei stand im Mittelpunkt. ++ Deutschland half den Autokraten in Polen und Ungarn und verhinderte Sanktionen gegen die Türkei.

 

Polen und Ungarn hatten den EU-Haushalt und den 750 Milliarden Euro schweren Hilfsfonds gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise blockiert, weil die EU die Kürzung von EU-Geldern bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze vorhatte. Ohne Lösung drohte der EU ab Januar ein Nothaushalt mit drastischen Kürzungen und den von der Corona-Pandemie auch wirtschaftlich schwer geschlagenen Ländern wie Italien oder Spanien blieben Mittel aus dem Corona-Hilfsfond versperrt.

Die Erpresser gehen nicht leer aus

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte im Vorfeld des Gipfels mit den rechtsgerichteten, nationalistischen Regierungen in Warschau und Budapest einen Deal ausgehandelt, für den sie bei dem Treffen in Brüssel heftig warb - und dann auch gegen die Bedenken vor allem aus den Niederlanden, Dänemark und Belgien durchsetzte.

In einer Zusatzerklärung zu den Vereinbarungen über einen Rechtsstaatsmechanismus werden nun anstelle rechtsstaatlicher Prinzipien allein die finanziellen Interessen der Union geschützt. So wird ausdrücklich klargestellt, dass er nur dem Schutz des EU-Haushaltes und der finanziellen Interessen der Union dient. Gleichzeitig wird festgehalten, welche Möglichkeiten Ungarn und Polen haben, sich gegen die Anwendung des Verfahrens zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen zu wehren. Demnach wird Polen und Ungarn zugesichert, dass zunächst keine Kürzungen von EU-Geldern erfolgen, sobald ein Land per Nichtigkeitsklage die langsam arbeitenden Mühlen des Europäischen Gerichtshofs bemüht. Kein Wunder, dass sich Orbán und Morawiecki als Sieger fühlen.

Kein guter Tag für Europa

Oezlem Alev Demirel 2Die Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel von der Fraktion "The Left" [1] kritisiert diese Vereinbarung: "Wenn es um Rechtsstaatlichkeit geht, tritt die EU gerne als Lehrmeisterin gegenüber Drittstaaten auf. Allein deshalb dürfte es keine faulen Kompromisse zum Rechtsstaatlichkeitsmechanismus geben." Kritik hat sie auch am EU-Haushalt: "Die Einigung im Rat über den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 ist auch in Hinblick auf die darin enthaltene Fortführung einer falschen Agrar- und damit nicht nachhaltigen Klimapolitik, die geplante Verschärfung der Abschottung an den EU-Außengrenzen und angesichts unzureichender Mittel für Bildung, Gesundheit und Soziales kein Grund zur Freude." [2]

Insbesondere kritisiert sie die Erhöhung der Rüstungsausgaben zur Finanzierung riesiger Rüstungsprojekte und dem Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes: 7,014 Milliarden Euro sind für einen Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) zur Erforschung und Entwicklung länderübergreifender Rüstungsgroßprojekte vorgesehen; 1,5 Milliarden Euro sollen in die 'Militärische Mobilität' fließen, wodurch der Transport von Soldat*innen und militärischem Gerät insbesondere an die Grenze zu Russland beschleunigt werden soll; 13,202 Milliarden Euro sind für militärisch relevante Weltraumprogramme, insbesondere Copernicus und Galileo, veranschlagt.

"Das ist rechtlich fragwürdig, brandgefährlich und der endgültige Abschied von der viel beschworenen 'Zivilmacht Europa'", äußert Demirel und schlussfolgert zur Einigung der EU-Regierungschefs über den Haushalt: "Das ist kein guter Tag für Europa. So kann man diesen Haushalt nur ablehnen." [3]

Merkel "bedauert" Erdoğans Provokationen

Der andere Punkt, der starke Debatten auslöst, ist die Haltung der EU gegenüber der Türkei. Auslöser sind die Erdgasbohrungen der Türkei vor Zypern und die Drohungen des Erdoğan-Regimes gegen die EU-Mitgliedsländer Griechenland und Zypern. Die EU hat die türkischen Gasbohrungen als "illegal" eingestuft. Der türkische Diktator Recep Erdoğan hat in diesem Streit lediglich die sog. "Einheitsregierung" im libyschen Tripolis und die schützende Hand Berlins an seiner Seite.

Im Oktober hatten die EU-Staats- und Regierungschefs ihren Partner*innen Griechenland und Zypern ihre Solidarität ausgedrückt und der Türkei engere Wirtschaftsbeziehungen angeboten, wenn sie im Gegenzug im Streit um das Mittelmeergas und bei anderen Konfliktthemen einlenken würde. Als nicht akzeptabel wurden auch die Provokationen im Konflikt um die Teilung Zyperns sowie Verstöße gegen das UN-Waffenembargo gegen Libyen bezeichnet. (siehe kommunisten.de: EU-Sondergipfel zur Türkei: Berliner Bremsmanöver)

Dass gegenwärtig wieder einmal eine Verhaftungswelle über die Türkei rollt und Tausende Oppositionelle in die Gefängnisse geworfen werden, hat die EU noch nie interessiert. (siehe kommunisten.de: Verhaftungswelle in der Türkei. Bundesregierung und EU schweigen)
Aber jetzt spielen sogar die selbstaufgestellten Bedingungen vom Oktober keine Rolle mehr. Dabei hat Erdoğan die Warnungen aus Brüssel provokativ ignoriert.

Mitte November besuchte er die nur von der Türkei anerkannte Türkische Republik Nordzypern. Als "noch nie da gewesene Provokation" bezeichnete der Präsident der Republik Zypern, Nikos Anastasiades, den Aufenthalt Erdoğans im türkisch besetzten Teil der Insel.

Wenige Tage später erzwang die türkische Regierung den Abbruch eines Einsatzes deutscher Marinesoldaten zur Kontrolle des UN-Waffenembargos gegen Libyen an Bord eines verdächtigen türkischen Frachtschiffes. Der Frachter transportierte mutmaßlich illegal militärische Güter zu Erdoğans Verbündeten in Libyen. Bereits früher hatten türkische Kriegsschiffe mit der Androhung militärischer Gewalt französische Kontrollen abgebrochen

Zeitgleich zur EU-Ratstagung nahm Erdoğan in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, an der großen Militärparade anlässlich des Sieges von Aserbaidschan und der Türkei über Armenien teil. Türkische Soldaten beteiligten sich an der Parade, zur Schau gestellt wurden türkische Drohnen des Typs Bayraktar, die maßgeblich zur militärischen Überlegenheit Aserbaidschans gegen Armenien beigetragen haben.

Forderung nach Sanktionen und einem Rüstungsexportstopp

Während EU-Mitgliedsländer wie Frankreich, Griechenland und Zypern auf einen möglichst harten Kurs mit schmerzhaften EU-Sanktionen bis hin zu einer Aussetzung der Zollunion drängen, wollen Deutschland und andere Staaten die Türkei als Partner in der Flüchtlingspolitik nicht verprellen. Deutschland gehört mit Ungarn sowie Spanien und Italien, die an Waffenlieferungen an die Türkei verdienen, zu den Staaten, die sich einem Waffenembargo und Sanktionen widersetzen. Sie wollen, dass es die EU weiter bei Solidaritätsadressen an die EU-Mitglieder Griechenland und Zypern belässt. Dafür soll der türkische Präsident Erdoğan Europa weiter vor Flüchtenden abschotten. Und so kann sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auch nur zu einem 'Bedauern' von Erdoğans Provokationen hinreißen lassen.

Im Vorfeld der Ratstagung hatten sich 53 griechische und deutsche EU-Abgeordnete mit einem gemeinsamen Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt, an ihrer Spitze die Europa-Abgeordnete der Grünen Hannah Neumann und Maria Spyraki von der konservativen griechischen Nea Dimokratia. In dem Schreiben drücken die Parlamentarier*innen ihre Besorgnis über die militärischen Drohungen der Türkei aus und fordern die Bundesregierung auf, vereinbarte Lieferungen von sechs U-Booten und zugehöriger Komponenten an Ankara durch Thyssen-Krupp sofort auszusetzen. Neben den Grünen und SPD-Abgeordneten hat sich auch die Linksfraktion The Left der Initiative angeschlossen.

Deutschland an der Seite von Erdoğan

Doch obwohl ein Rüstungsexportstopp und Sanktionen gegen Erdoğans Türkei längst überfällig sind, blieb es auch diesmal nur bei der Androhung symbolischer Sanktionen. Harte Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige oder ein EU-Waffenembargo wird es vorerst nicht geben.

Die Staats- und Regierungschefs vereinbarten abermals nur, den Dialog mit der türkischen Regierung zu suchen. Die Offerte "einer positiven EU-Türkei-Agenda" bleibt bestehen – vorausgesetzt, die Türkei sei bereit, "Differenzen im Dialog und im Einklang mit dem Völkerrecht" zu lösen. Eine solche positive Agenda könnte sich laut dem Gipfelbeschluss etwa auf Wirtschaft und Handel sowie Migration erstrecken. Die EU ist dem Text zufolge weiter bereit, syrische Geflüchtete und türkische Ortschaften, die diese Menschen aufnehmen, finanziell zu unterstützen.

Allerdings könnten weitreichendere Schritte beim nächsten regulären EU-Gipfel am 25. und 26. März kommenden Jahres auf den Weg gebracht werden, heißt es wieder einmal auch in dem jüngsten Beschluss.

Die EU liegt damit auf der Linie der NATO. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte die EU kurz vor dem Gipfel vor einem Bruch mit dem Bündnispartner Türkei gewarnt. Es gebe Differenzen mit der Türkei, die man angehen müsse, sagte Stoltenberg. Gleichzeitig müsse man aber erkennen, welche Bedeutung die Türkei als Teil der Nato und auch als Teil der "westlichen Familie" habe. Wahrheitswidrig behauptete er, dass die Türkei ein wichtiger Alliierter im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sei. In Wirklichkeit, das belegen viele Dokumente, kann sich der IS nach seiner Niederlage gegen die kurdisch geführten SDF nur mit Hilfe von Erdoğans Türkei reorganisieren. Erdoğan setzt die dschihadistischen Milizionäre als Hilfstruppen in seinen Kriegen gegen Syrien, gegen Armenien und in Libyen ein.

Sevim Dagdelen: Was für ein Wahnsinn, was für eine Bankrotterklärung der EU!

Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Sevim Dagdelen erklärt:

Sevim Dagdelen EU Gipfel Dez2020"Es ist ein fatales Signal, dass die Bundesregierung und die Europäische Union den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern trotz wiederholter Kriegsdrohungen der Türkei nicht mit einem europaweiten Waffenembargo solidarisch zur Seite stehen. Die beim EU-Gipfel beschlossenen Maßnahmen gegen die Türkei sind rein kosmetischer Natur. Die Brüsseler Milde ein Schlag ins Gesicht der Griechen und Zyprioten und für den türkischen Präsidenten Erdoğan geradezu Ermunterung für weiteren Völkerrechtsbruch und neuerliche Aggressionen – und sie sind ein Schlag ins Gesicht der Armenier.

Denn während unter Vorsitz von Bundeskanzlerin Angela Merkel der EU-Gipfel die 'Provokationen' Erdoğans nur 'bedauert' statt verurteilt werden und praktisch folgenlos bleiben, lässt sich der Autokrat zeitgleich mit einer großen Militärparade in Aserbaischans Hauptstadt Baku für den Krieg um Berg-Karabach feiern. Stolz präsentiert der türkische Autokrat dort seine Killerdrohnen vom Typs Bayraktar, die dem aserbaidschanischen Autokraten Alijew geholfen haben, die Armenier 'wie die Hunde' zu jagen. Erdoğan schwärmt von einem 'epischen Kampf' und einem 'glorreichen Sieg', in dessen Folge zehntausende Armenier zur Flucht gezwungen sind, und lobt in seiner Rede die 'geheiligte Seele' von Enver Pascha, der als Generalleutnant und Kriegsminister des Osmanischen Reiches einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern ist.

Wie geschichtsvergessen und naiv muss man sein, wenn die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft an einem solchen Tag Erdoğan weiter eine 'positive Agenda' für den Ausbau der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und weitere Finanzhilfen anbietet.

Das Gegenteil ist richtig: Es braucht klare Kante gegen Erdogan, das heißt, ein Waffenembargo gegen die Türkei und die Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens sowie der Zollunion!" [4]

Anmerkungen

[1] Die Fraktion "Konföderale Gruppe der Vereinten Linken / Nordisch Grün Links" (GUE/NGL) hat sich kürzlich in "The Left" umbenannt.
[2] https://oezlem-alev-demirel.de/2020/12/10/einigung-auf-schlechten-eu-haushalt-kein-guter-tag-fuer-europa/
[3] Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon entscheiden das Parlament und der Rat gleichberechtigt über den gesamten EU-Haushalt.
[4] https://www.facebook.com/MdBSevimDagdelen/posts/3112287435664980
Korrektur: Dieses Statement wurde in einer vorherigen Version des Artikel der Europaabgeordneten Özlem Alev Demirel zugeordnet. Es handelt sich aber um eine Erklärung von Sevim Dagdelen. kommunisten.de bittet, das Versehen zu entschuldigen.

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