14.11.2019: Zuerst war es Juan Guaidó in Venezuela, jetzt Jeanine Áñez in Bolivien: Die Welle der Selbsternennungen geht weiter, und die Europäische Union steht auf Seiten der Putschisten. Nur Linksfraktion GUE/NGL nennt Staatsstreich einen Staatsstreich. ++ Abgeordnete der Bewegung für den Sozialismus erkennen Jeanine Áñez nicht an, weil sie durch die Polzei an der Teilnahme an der Parlamentssitzung gehindert wurden.
Am Dienstag (12.11.) war nach dem von der Polizei- und Militärführung erzwungenen Rücktritt von Präsident Evo Morales eine außerordentliche Sitzung beider Kammern der »Asamblea Legislativa Plurinacional de Bolivia« [1] einberufen worden. Da die Abgeordneten der »Bewegung für den Sozialismus« (MAS), die über eine Zweidrittel-Mehrheit verfügen, von Polizei und Militär an der Teilnahme gehindert wurden, war das Parlament beschlussunfähig.
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12.11.2019: Die Abgeordneten der "Bewegung für den Sozialismus" (MAS), darunter die Senatspräsidentin Adriana Salvatierra, werden von der Polizei daran gehindert, das Parlamentsgebäude zu betreten. Andere Abgeordnete der MAS können nicht an der Sitzung teilnehmen, weil sie und ihre Familien von faschistischen Banden bedroht werden. |
Jeanine Áñez erklärt sich selbst zur Präsidentin
Nachdem der Sitzungssaal nur zu knapp einem Drittel besetzt war und das Parlament beschlussunfähig, erklärte sich die zweite Vizepräsidentin des bolivianischen Senats, Jeanine Áñez von der Rechtspartei »Movimiento Demócrata Social«, zur Präsidentin.
"Das Volk ist Zeuge der Tatsache, dass wir alle notwendigen Anstrengungen unternommen haben, um die Präsenz der Versammlungsmitglieder der drei politischen Kräfte zu organisieren; die MAS-Parlamentarier waren jedoch nicht anwesend, sie haben ihre Entscheidung geäußert, nicht teilzunehmen, und wir alle wissen, dass der Präsident und der Vizepräsident ihren Rücktritt eingereicht haben. … Ich übernehme sofort die Staatspräsidentschaft und verpflichte mich, alle notwendigen Maßnahmen zur Befriedung des Landes zu ergreifen", sagte Jeanine Áñez.
Die Oberkommandierenden der Streikräfte legten ihr die Präsidentinnenschärpe um. Anschließend bat sie Armee- und Polizeiführung "angesichts der Gewalttaten" um Zusammenarbeit. Inzwischen gehen Polizei und Militär brutal mit scharfer Munition, Panzerwägen und Hubschraubern gegen die Anhänger*innen von Evo Morales, Aktivist*innen der Bewegung für den Sozialismus und gegen Indígene vor.
Der Abgeordnete Guillermo Vega erklärte am Mittwoch für die Fraktion der MAS, dass sie von der Polizei daran gehindert wurden, an der Parlamentssitzung teilzunehmen. " Es gab keine demokratische Entscheidung, weil die Abgeordneten der MAS nicht anwesend waren. Deshalb lehnen wir diesen Akt ab, und wir kennen Añez nicht als Staatspräsident an", sagte er.
"Was gestern in der Stadt La Paz passiert ist, war ein Staatsstreich, bei dem die Frau, die sich selbst zur Staatspräsidentin erklärt hat, vom Militär in diese Funktion eingesetzt wurde. Es gab keine demokratische Entscheidung, weil die Abgeordneten der MAS nicht anwesend waren. Deshalb lehnen wir diesen Akt ab, und wir kennen Añez nicht als Staatspräsident an." Guillermo Vega für die Fraktion der MAS, 13.11.2019 |
Die Präsidentin des bolivianischen Senats, Adriana Salvatierra (MAS), klagte auf einer Pressekonferenz an, dass sie von der Polizei "geschlagen und mit Tränengas besprüht" wurde, als sie versuchte an der Parlamentssitzung teilzunehmen. Sie sagte zudem, dass sie zwar öffentlich erklärt hat, von ihrem Amt als Senatspräsidentin zurücktreten zu wollen, dass dieses Rücktrittsersuchen aber im Parlament nicht formell behandelt wurde und sie daher der Ansicht ist, dass sie weiterhin im Amt bleibt. Wenn dies zutrifft, wäre sie nach der Verfassung an der Reihe das Amt des Präsidenten zu übernehmen - und nicht ihre Stellvertreterin Jeanine Añez.
Brasilien und USA erkennen Putschregierung an
Wenig überraschend war es die rechtsextreme Regierung Brasilien, die als erste die Putschregierung in La Paz anerkannte. Umgehend gefolgt von den USA.
US-Präsident Donald Trump twitterte:
"Die Vereinigten Staaten applaudieren dem bolivianischen Volk für die Forderung nach Freiheit und dem bolivianischen Militär dafür, dass es seinen Eid erfüllt, nicht nur eine einzelne Person, sondern Boliviens Verfassung zu schützen. Diese Ereignisse senden ein starkes Signal an die illegitimen Regime in Venezuela und Nicaragua, dass Demokratie und der Wille des Volkes immer vorherrschen werden. Wir sind einer völlig demokratischen, wohlhabenden und freien westlichen Hemisphäre nun einen Schritt näher gekommen."
Europäische Union auf Seite der Putschisten
Doch auch die Europäische Union und eine Reihe von Mitgliedsländern stellen sich auf die Seite der Putschisten. Die Hohe Vertreterin für Außenpolitik der Europäischen Union, Federica Mogherini, erklärte gestern (Mi., 13.11.) ihre Unterstützung für die Ernennung von Jeanine Añez zur Interimspräsidentin Boliviens.
"Die Europäische Union unterstützt eine institutionelle Lösung, die es einer Übergangsregierung ermöglicht, Neuwahlen vorzubereiten und ein Machtvakuum zu vermeiden, das Folgen für das ganze Land haben könnte", sagte zu einer Debatte über die Lage in Bolivien, die auf der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg (Frankreich) stattfand.
Sie begründete diese Unterstützung damit, dass nach der derzeitigen Situation, in der sowohl Präsident Evo Morales als auch sein Vizepräsident und die Präsident*innen des Senats und der Abgeordnetenkammer zurückgetreten sind, "die nächste, die die Interimsführung gemäß der Verfassung übernimmt", die Vizepräsidentin des Senats sei. [2]
Mogherini betonte, dass es der EU "leise, aber stetig" und trotz der "schwierigen Umstände" darum gehe, einen Raum des Dialogs zu schaffen, in dem Vertreter von Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft einen Konsens über einen "friedlichen Weg" zu Neuwahlen erzielen können. Auch für die Fraktionen des Europäischen Parlaments sollte es eine Priorität sein, dazu beizutragen, Neuwahlen in Bolivien auszurufen und sie in transparenter und glaubwürdiger Weise abzuhalten.
Der Abgeordnete der sozialdemokratischen Fraktion, Javi López, forderte in der gestrigen Debatte ebenfalls "freie und faire" Wahlen, um eine demokratische Lösung für die Situation in Bolivien zu gewährleisten. "Wir fordern Wahlen, Institutionalität, Frieden und Zukunft für Bolivien", sagte er. Dass es sich um einen Staatstreich handelt, dem mochten die Sozialdemokrat*innen ebenso wenig folgen wie einer Verurteilung des Putsches.
Im Namen der Europäischen Volkspartei verwies die Spanierin Pilar del Castillo auf die "enorme politische Fragilität" nach dem "Wahlbetrug". [3] Mit der Anerkennung von Jeanine Áñez als Präsidentin gehe es darum, dass die Krise "nicht schlimmer" werde.
Der Europaabgeordnete José Ramón Bauzá (Spanien, Ciudadanos) erklärte für die Fraktion der Liberalen, dass in Wirklichkeit Morales den Staatsstreich durchführen wollte, und dass sich die Europäischen Union dafür einsetzen müsse, dass "Bolivien nicht zu einem neuen Venezuela wird".
Der Europaabgeordnete Vox Hermann Tertsch sprach im Namen der rechtspopulistischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer. Das Scheitern des "Betrugsversuches" von Morales sei im Rahmen eines größeren Projekts der Linken zur "Destabilisierung Lateinamerikas" zu sehen. Deshalb versuche die Linke, Morales zu "schützen".
Lediglich die Linksfraktion GUE/NGL wies den Staatsstreich gegen Evo Morales zurück.
"Es ist ein Staatsstreich. Wenn das Militär dem gewählten Präsidenten sagt, dass er zu gehen hat, dann nennt man das Staatsstreich. Das ist eine Verletzung des Wahlsystems, eine Verletzung internationalen Rechts, eine Verletzung der Menschenrechte. Dieses Haus spricht immer über diese drei Dinge, aber wenn es um diesen Fall geht, dann wollen sie nichts davon wissen."
Mick Wallace (MdEP, GUE/NGL), 13.11.2019 im Europäischen Parlament
Der Abgeordnete Manu Pineda (Spanien, Izquierda Unida) betonte im Namen der Linksfraktion, dass der Rücktritt von Morales auf einen "Coup d'état" zurückzuführen sei, der vom Europäischen Parlament verurteilt werden müsse.Zu Beginn der Sitzung bat Pineda um eine Änderung des Titels der Debatte, um den Hinweis aufzunehmen, dass die Diskussion über die Situation des Landes "nach dem Staatsstreich" geführt werde. Dieser Änderungsantrag wurde vom Plenum mit 234 Gegenstimmen, 41 Ja-Stimmen (GUE/NGL) und 88 Enthaltungen abgelehnt.
Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden in der nächsten Plenarsitzung in der letzten Novemberwoche über eine Entschließung abstimmen.
Auch in Deutschland Zustimmung zum Putsch
Bundesregierung begrüßt den vom Militär erzwungenen Rücktritt des bolivianischen Präsidenten "als wichtigen Schritt ... Zahlreiche Regierungen Lateinamerikas und auch die Linksfraktion im Bundestag sowie der Vorsitzende der Labour-Partei in Großbritannien Jeremy Corbyn bezeichneten das Vorgehen des Militärs einhellig als Putsch. Anders die Bundesregierung und das Auswärtige Amt unter Leitung von Heiko Maas (SPD). Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte: "Ich würde gerne für die Bundesregierung sagen, dass mit seinem Rücktritt Staatspräsident Morales den Weg zu Neuwahlen freigemacht hat und dass wir das als wichtigen Schritt betrachten hin zu einer friedlichen Lösung." |
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.. zu einer friedlichen Lösung" |
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Für die Bundestagsfraktion der Grünen erklärte deren Sprecher für Außenpolitik, Omid Nouripour, dass das Militär in Bolivien "die richtige Entscheidung getroffen" habe, denn seit langem habe sich gezeigt, "dass sich die Bolivianerinnen und Bolivianer nach einem politischen Wandel sehnten". Es bleibe jetzt "zu hoffen, dass es nun zu keiner Erhöhung von militärischer Präsenz im Land kommt und die Gewalt in Aussicht auf Neuwahlen abnehmen wird", so Omid Nouripour. (Historischer Moment in Bolivien)
Wie es ausschaut, enttäuscht das Militär diese Hoffnung, aber das hätte man eigentlich vorher wissen können.
Den Preis für Falschinformation und Manipulation erhält jedoch »DIE ZEIT«, für deren »Analysten« Michael Ebmeyer der Militärputsch der Beweis ist, dass "Die bolivianische Demokratie lebt". (DIE ZEIT, 12. November 2019: "Es ist kein Putsch")
Anmerkungen
[1] Plurinationale Legislative Versammlung ist das Parlament von Bolivien und besteht aus Abgeordnetenhaus und Senat.
[2] Mogherini verschweigt dabei, dass nach der Verfassung Boliviens, die Rücktritte erst wirksam werden, wenn sie vom Parlament angenommen sind. Dies ist nicht erfolgt. Die Fraktion der MAS erklärt, dass sie die Rücktrittsgesuche abgelehnt hätte und somit Evo Morales und sein Vizepräsident Alvaro García Linera sowie die Präsidenten von Senat und Abgeordnetenkammer, Adriana Salvatierra (MAS) und Víctor Borda (MAS), weiter im Amt seien.
[3] Nicht einmal die us-dominierte OAS, die den Putsch mit einem Vorbericht der Überprüfung der wahl vom 20. Okober auslöste, spricht in ihrem Vorbericht von »Wahlbetrug«, sondern von "Unregelmäßigkeiten", die es "statistisch unwahrscheinlich" machen, dass Morales mit der 10%-Marge gewonnen habe, die ihn im ersten Wahlgang zum Präsidenten machten. Dass Morales mehr Stimmen als sein Herausforderer gewann, wird nicht infrage gestellt. Zudem erfolgte der Putsch, nachdem Morales bereits die Durchführung von Neuwahlen verkündet hat. (siehe "Morales kündigt Neuwahl an")
Richtigstellung
In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass Russland die Putschregierung anerkannt habe. Dies stimmt nicht. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, María Zajárova, betont, dass "Áñez als Boliviens Führerin wahrgenommen werden wird", wenn auch nur "bis zu den Wahlen. "Es geht nicht darum, das, was in Bolivien passiert ist, als legitimen Prozess anzuerkennen", sagte die Sprecherin. "Wir werden erst nach den Wahlen über eine legitime Macht in Bolivien sprechen können", betonte Zajarova. (Russia Today)
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