Europa

alt17.07.2011:  In der Budapester Rekordhitze hat das ungarische Parlament am vergangenen Montag eine Reihe sogenannter 'Kardinalsgesetze' verabschiedet, deren Änderung hinfort einer Zweidrittelmehrheit bedarf, und die den Vorgaben der neuen Verfassung zur gesetzlichen Neudefinition fast aller Lebensbereiche folgen. Vor allem das neue Arbeitslosen- und Beschäftigungsgesetz sorgt für jede Menge Unmut auf verschiedenen Seiten. Die Ängste reichen von Entrechtung, über staatliches Lohndumping bis hin zu Zwangsarbeitslagern. Die Verabschiedung weiterer wichtiger und kurioser Gesetze sowie eine Fragestunde beschlossen die Parlamentssaison in dem mehrfach überhitzten Lande.

Den wohl tiefgreifendsten Eingriff in die Lebensumstände des Volkes, vor allem des unteren Drittels, dürften die Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung nach sich ziehen. Die maximale Dauer der Auszahlung von Arbeitslosengeld wird von bisher 270 auf 90 Tage gesenkt, die Obergrenze wird von 120% des gesetzlichen Mindestlohnes auf 100% abgesenkt. Damit will die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán jährlich um 43 Milliarden Forint (ca. 160 Mio. EUR) einsparen. Außerdem wird denjenigen, die öffentliche Arbeits- bzw. Beschäftigungsangebote ablehnen, mit dem "Verlust der finanziellen Unterstützung" gedroht.

Dabei wird der Kreis des "Zumutbaren" bedeutend ausgedehnt, auch mehrtägige Aufenthalte fern von Daheim, die Unterbringung in provisorischen Containerstädten, Arbeit weit unter der Qualifikation, gelten dann als angemessen. Als Entschuldigung wird nur die eigene Krankheit oder die von Kleinkindern akzeptiert, wenn es für diese keine andere Betreuungsmöglichkeit gibt. Die "Entlohnung" wird nur einen kleinen Aufschlag auf die Sozialhilfe ausmachen, dafür wird extra das Tarifrecht geändert, damit der gesetzliche Mindestlohn in "diesen besonderen Fällen", die jedoch bis zu 300.000 Menschen betreffen könnten, unterlaufen werden kann.

Diese Initiative, die unter dem Motto "Arbeit statt Sozialhilfe" läuft, stößt bei Gewerkschaften, Bürgerrechtlern, Roma-Verbänden, aber auch bei der Wirtschaft selbst auf einige Skepsis. Es ist zu fürchten, dass durch die spezifische Lage der Roma vor allem die Vertreter der größten ethnischen Minderheit in Ungarn mit der "Zwangsarbeit" konfrontiert werden. Verwundert nahm man dabei zur Kenntnis, dass das für die Polizei zuständige Innenministerium mit der Organisation und Durchsetzung dieser Maßnahmen der "öffentlichen Arbeitsprogramme" betraut wurde. Innenminister Pintér sagte öffentlich, dass "pensionierte Polizisten genau die richtige Qualifikation für diese Aufgaben" hätten, worin manche bereits das Bild von durch Alt-Polizisten bewachten Zwangsarbeiterkolonnen heraufziehen sehen.

Die Gewerkschaften fürchten durch die Aushebelung von Arbeitsrechten eine weitere Verelendung der unteren Einkommensschichten und das Entstehen eines dauerhaften, vom Staat noch beförderten Prekariats, denn die Beschäftigungsprogramme haben keinerlei Ausbildungsziel oder bieten sonst irgendwelche Perspektiven. Die '1-Forint-Jobber' hätten zudem weder Betriebsräte noch gewerkschaftlichen Schutz. Die Orbán-Regierung hat ein KMU-Hilfsprogramm mit Lohnzuschüssen für neu geschaffene Arbeitspläze aufgelegt, das jedoch nur geringe Wirkung entfaltet und bisher rund 1000 (!) Arbeitsplätze entstehen ließ. Und sie hat vollmundig ein ehrgeizig klingendes Qualifizierungsprogramm für Roma angekündigt, bei dem bisher jedoch noch viele Details offen ließ, wie immer, stehen nur die Zielgrößen fest.

Auch hier mutmaßt man wegen fachlicher und ökonomischer Verlegenheiten, dass es sich eher um PR-wirksame Aufsichts- und Beschäftigungsprogramme handeln wird. Die Anlage des Gesetzes gibt einen Hinweis darauf, dass die Orbán-Regierung die Roma in ihrer Gesamtheit aufgegeben hat. Ein ganzheitlicher, gleichberechtigender und gleich verpflichtender Ansatz ist nicht vorhanden. Es geht nur um die möglichst effiziente und budget-schonende Beaufsichtigung einer der Verwahrlosung anheim gegebenen Bevölkerungsschicht.

Die Regierung Orbáns hat den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit als das zentrale Thema zur Gesundung Ungarns definiert, weil es auch das zentrale Problem ist (Beschäftigungsquote 54%), schafft aber durch dieses Programm keine Arbeit, sondern nur Betätigung und führt, denkt man das obige Programm zu Ende, den Frondienst wieder ein. Denn die Arbeitslosenversicherung wurde von den Beitragszahlern auf die alten Ansprüche eingezahlt, zudem ist die Gewährung der Existenzgrundlage Staatspflicht, auch wenn lästig und teuer. Sie abzubauen, funktioniert nur über strukturellen Wandel und daraus folgendes Wachstum, nicht jedoch über Rechteabbau und Fürsorgeverweigerung, Maßnahmen die man aus anderen, überwunden geglaubten Gesellschaftssystemen kennt.

Die Wirtschaft selbst sieht durch diese neue, unschlagbar billige Konkurrenz Probleme, z.B. in der ohnehin schon angeschlagenen Bauwirtschaft, aber auch in der Landwirtschaft, bei der weitere Jobs entfallen könnten, was kaum im Sinne des Erfinders sein kann. Zu diesem Heer von arbeitenden Sozialhilfeempfängern werden bald einige Zigtausend (danach: ehemalige) Frührentner stoßen, die zu Sozialhilfeempfängern umdeklariert werden. Während Unternehmen - ebenfalls durch ein neues Gesetz - auf der einen Seite empfindliche Strafen, mitunter der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen droht, wenn sie die Gehälter von wenigstens zwei Dritteln der unteren Einkommensbezieher nicht "freiwillig" auf jenes Niveau anheben, bei dem die neue Steuerpauschale positiv greift (also ab 300.000 HUF), erlaubt sich der Staat eigene Gehaltsstrukturen und eigene Standards. Dabei hat der Staat durch die übereilte Einführung der Steuerpauschale und gleichzeitige zeitweise Beibehaltung des Superbruttos Unternehmen und die Mehrheit der Lohnempfänger überhaupt erst in diese Schwierigkeiten gebracht.

Die Regierungsparteien beschlossen außerdem eine Änderung am Haushaltsgesetz von 2011 und entzogen dem kürzlich geschaffenen Stabilitätsfonds von 250 Mrd. Forint (900 Mio. EUR) 181 Mrd Forint. Eigentlich war der Fonds dauerhaft als Notreserve gegen globale, finanzmarkttechnische Unbill gedacht. Der Fonds ist längst ausgebucht, da man dessen Mittel durch Haushaltssperren in den Ressorts beschaffte, also keine neuen Mittel aufwenden musste. Wirtschaftsminister Matolcsy meinte nun, man könne die Gelder freigeben, weil die Ausgaben zurückgingen und die Einnahmen stiegen (was jedenfalls bei den Steuern bisher nicht der Fall ist). Die frei gewordenen Gelder könnten u.a. für die Finanzierung des Rückkaufs von Aktien des ungarischen Ölproduzenten MOL von der russischen Firma Surgutneftegas verwendet werden, um eine Belastung des Budgets durch den von der Regierung Orban dafür in Anspruch genommenen Kredit des IWF zu minimieren.

Ebenfalls am Montag gingen das Gesetz über die Hamburger-Steuer ('Fastfood'-Abgabe), das neue Kirchengesetz sowie ein Anti-Hooligan-Gesetz durchs Parlament. Abgelehnt wurden Anträge der neofaschistischen Jobbik-Partei auf Entfernung des Sowjetdenkmals vom Freiheitsplatz und einer Statue des Grafen Mihály Károlyi, des ersten Präsidenten einer ungarischen Republik 1918.

Alle Regierungs- bzw. Fidesz-Fraktionsvorlagen gingen, wie stets, mit der Mehrheit von Fidesz und KDNP durchs Hohe Haus. Der Blick auf die Anzeigentafel im Parlament erübrigt sich bei all diesen Abstimmungen bis mindestens 2014. Die neue 'Einheitspartei' von Fidesz-KDNP sorgt mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit für klare Verhältnisse bei der Durchsetzung ihres national-reaktionären Programmes, welches sich ganz im Rahmen der EU-Vorgaben bewegt. Von einem ansatzweise fortschrittlichen Widerspruch zur EU-Orientierung ist hier nicht im Mindesten etwas zu erkennen.

Text: hth  /  Quelle: Pesterlloyd  /  Foto: fidesz.hu

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