15.06.2010: Die rechtsnationalistische Nationaal Vlaamse Aliantie (NV-A) wurde bei den Parlamentswahlen vom 13. Juni in Belgien die stärkste Partei des Landes. Mit 32% der Stimmen in der Region Flandern hat sie doppelt so viel wie die CD&V (Christdemokraten 16% ), die Sozialdemokraten (15 %) oder die Liberalen (13 %). Alle Parteien in Flandern verlieren Stimmen an die NV-A, auch die Neofaschisten des Vlaams Belang (12,3%, d.h. -7%). Nur die Grünen (6,2 % , + 0,2) und die Partei der Arbeit (marxistisch, 1,4% in Flandern, mit Spitzen von 4% in den großen Städten) legten zu. Im wallonischen Teil kandidierte erstmals die Linksfront (PC-LCR-LSP-Parti Humaniste...) und erreichte 1,15%.
Die NV-A ist nun auch in ganz Belgien die größte Partei. Sie wird 27 Vertreter stellen im Parlament. Die zweite Partei sind die frankophonen Sozialdemokraten mit 26. In Wallonien und Brüssel sind sie die großen Gewinner, die Liberalen die großen Verlierer. Die Grünen sind stabil. Die Partei der Arbeit bekommt mehr als 100.000 Stimmen, das ist 1,7 % (+ 0,6), Sie erzielte gute Ergebnisse in der Provinz Lüttich (3,1 % in der ganzen Provinz), in großen Städten wie Lüttich (4.2 %), Antwerpen (4.1%), Charleroi (2.6%), Ghent (2%%). Mit diesem Resultat würde die Partei bei dem Gemeinderatswahlen in 2012 in verschiedenen großen und mittelgroßen Städten in die Stadtparlamente einziehen. In mittelgroßen Industriestädten bekommt die Partei noch mehr : Herstal 9,8%, Seraing 7,4%, Assenede 7,5%. In den meisten bedeutenden Gemeinden Walloniens bekommt die Partei zwischen 2 und 3 Prozent.
Die Belgier wurden ein Jahr vor dem Ende der normalen Legislaturperiode und nach drei Jahren politischer Krise zur Wahl gebeten. Seit Juni 2007 hatte das Land drei verschiedene Ministerpräsidenten. Die meisten Belgierinnen und Belgier haben dieses endlosen Dauerstreits völlig satt. Neben der allgemeinen Ablehnung der Politik bedeutet dieser Erfolg des NV-A, vor allem in Flandern auch eine weitere Flucht in den Nationalismus. Sie ist eine rechtsliberale Partei, die offen und klar für das Verschwinden Belgiens und die Unabhängigkeit Flanderns wirbt. Weil die flämische Presse die französisch sprechenden Parteien als diejenigen darstellt, die jede gerechte Bitte der Flamen ablehnen, sieht ein größerer Teil der Flamen mehr Unabhängigkeit als das Mittel. diesen andauernden Krisen ein Ende zu setzen. Die rechtsnationalistischen Parteien werden in der flämischen Presse auch als die einzige Opposition gegen der Regierung dargestellt. Die flämischen Sozialdemokraten regieren auf Landesebene mit.
Der Wahlsieg der NV-A wird eine Lösung der Probleme sicher noch schwieriger machen. Der Separatismus wird nun auch dort salonfähig, wo er früher vor allem vom faschistischem Vlaams Belang vertreten wurde. Die Staatsreform wird vor allem von zwei Kräften gefordert: Erstens von der traditionellen, flämisch-nationalistischen Strömung, die sich in der faschistischen Partei Vlaams Belang, in der rechtsnationalistischem NV-A, bei vielen Christdemokraten und selbst bei Sozialdemokraten findet. Zweitens von einer wichtigen Fraktion der flämischen Unternehmer, die sich im Verband VOKA zusammengeschlossen haben. Die wollen die Reform, um in Flandern eine rechte, neoliberale Regierung zu bekommen und vor allem, um die Macht der auf Bundesebene organisierten, starken Gewerkschaften zu brechen. Wenn das gelänge, wollen sie in Flandern eine extrem scharfe Politik der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, eine Privatisierung des Gesundheitswesens und des Transportsektors, massive Steuersenkungen usw. durchsetzen. Auf Bundesebene wäre das viel schwieriger.
Die meisten flämischen Parteien haben schon erklärt, dass sie mit der NV-A zusammenarbeiten wollen um eine große Staatsreform mit den Francophonen zu verhandeln. Diese sind auch bereit weiter zu gehen als früher. Aber sie bilden auch ein Front und wollen nichts wissen von einer Spaltung der Sozialversicherungen und der Steuern. Das sind zwei Forderungen der NV-A.
Viele Experten glauben, dass Belgien wieder in eine lange Periode von Verhandlungen und Krisen geraten wird. Der NV-A und seinem Vorsitzende Bart De Wever ist das recht. Wenn die anderen flämischen Parteien mit ihm eine flämische Allianz bilden, kann er, wenn die Verhandlungen scheitern, den Francophonen die Schuld geben und die Gegensätze noch weiter zuspitzen.
De Wever erzählt den flämischen Wähler Märchen von einer sanften Spaltung wie in der Tschechoslowakei. Aber das wird nicht so gehen. Da gab es kein Brüssel, wo die beiden Regionen Ansprüche erheben und 500.000 Menschen aus Flandern und Wallonien arbeiten. Und für Brüssel hat NV-A keine Lösung. Mit De Wever droht Belgien eine lange und vielleicht auch existentielle Krise. Inzwischen wird auch schon gegen belgische Staatsanleihen spekuliert und werden bis 2012 ca. 700.000 Arbeitslose erwartet.
Text: Herwig Lerouge, PTB / PVDA Belgiens Foto: PVDA Belgiens