30.10.2023: Die UN-Vollversammlung hat mit großer Mehrheit eine "sofortige humanitäre Waffenruhe" im Gazastreifen gefordert. Deutschland hat sich enthalten. ++ Für Baerbock war der Text nicht ausgewogen ++ Während der UN-Tagung die "schlimmsten Angriffe auf Gaza" ++ USA: "keine roten Linien" beim Einsatz von gelieferten Waffen ++ Brasiliens Präsident Lula da Silva: "Es ist kein Krieg. Das ist ein Völkermord"
Nach der Blockade im UN-Sicherheitsrat – vier verschiedene Resolutionsentwürfe fanden keine Mehrheit oder scheiterten am Veto der USA oder Russlands – hat die UN-Vollversammlung in einer außerordentlichen Sitzung am Freitag (27.10.) einen Resolutionsentwurf angenommen, der eine Waffenruhe im Gazastreifen, den Zugang zu humanitärer Hilfe fordert; "alle gegen palästinensische und israelische Zivilisten gerichteten Gewaltakte" werden verurteilt.
Die von Jordanien im Namen der arabischen Gruppe und mit der Unterstützung durch 40 Länder eingebrachte Resolution wurde mit 120 Ja-Stimmen, 14 Gegenstimmen (darunter die USA und Israel) und 45 Enthaltungen (darunter Deutschland) angenommen. [Ein UN-Mitgliedsland änderte seine Stimme unter Berufung auf technische Schwierigkeiten nach der Aufzeichnung der Abstimmung, so dass das endgültige Ergebnis 121 Ja-Stimmen, 14 Nein-Stimmen und 44 Enthaltungen lautet.] Damit erreichte die Resolution zum "Schutz der Zivilbevölkerung und zur Einhaltung rechtlicher und humanitärer Verpflichtungen" die notwendige Zweidrittelmehrheit. Resolutionen der UN-Vollversammlung sind allerdings nicht rechtlich bindend.
"schlimmsten Angriffe auf Gaza"
Die zweitägige Sitzung war von den "schlimmsten Angriffe auf Gaza seit Beginn der Bombardierungen" begleitet, so UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, über den noch nie dagewesenen "Bombenregen", der vor allem im Norden und im Zentrum einschlug und die gesamte Kommunikation zum Erliegen brachte. Der Norden des Gazastreifens gleicht nach Tausenden von Bomben, die die israelische Luftwaffe abgeworfen hat, zunehmend einer Mondlandschaft.
In den letzten drei Wochen hat Israels erbarmungsloses Bombardement des belagerten Gazastreifens - eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt - ein beispielloses Ausmaß an Blutvergießen verursacht. Mehr als 7.700 Palästinenser:innen wurden getötet, darunter etwa 3.200 Kinder. Weitere 1.650 Palästinenser:innen sind unter den Trümmern ihrer Häuser und Gebäude verschüttet, die Hälfte von ihnen Kinder.
Philippe Lazzarini, Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) rief in einem Zeitungsartikel auf, "entschlossen zu handeln und diese Hölle auf Erden zu beenden". Er erinnerte daran, dass der Gazastreifen seit 15 Jahren ein großes Freiluftgefängnis ist. "Heute", betonte er, "wird dieses Gefängnis zum Friedhof einer Bevölkerung, die zwischen Kriegen, Belagerungen und Entbehrungen gefangen ist".
"Die Geschichte wird über uns urteilen. Sagt Nein zum Krieg. Sagt nein zum Töten"
Ayman Safadi, Außenminister Jordaniens
"Es besteht dringender Handlungsbedarf", hatte der jordanische Außenminister, Ayman Safadi erklärt, "der humanitäre Waffenstillstand hat Priorität". "Wir müssen für den Frieden, unsere menschlichen Werte und die UN-Charta eintreten", sagte er. "Die Geschichte wird über uns urteilen. Sagt Nein zum Krieg. Sagt nein zum Töten. Benennt die Kriegsverbrechen." Er verwies darauf, dass die israelische Regierung Kabinettsmitglieder habe, die dazu aufriefen, "die Palästinenser vom Angesicht dieser Erde zu tilgen". "Israel macht Gaza zu einer Hölle auf Erden", sagte er. "Das Trauma wird noch Generationen verfolgen. … Das Recht auf Selbstverteidigung ist kein Recht auf Straffreiheit; Israel kann sich nicht über das Gesetz stellen."
UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich trotz der Kritik der letzten Tage unbeeindruckt und bekräftigte seine Forderung nach zu einem sofortigen "humanitären Waffenstillstand", verbunden mit der bedingungslosen Freilassung aller Geiseln und der Bereitstellung von Hilfsgütern für die Menschen im Gazastreifen.
https://twitter.com/antonioguterres/status/1717979644421411301
"Gegen die UN-Resolution zu stimmen bedeutet, diesen sinnlosen Krieg zu billigen, und Millionen von Menschen werden jede Abstimmung verfolgen. Die Geschichte wird urteilen".
Ayman Safadi, Außenminister Jordaniens
Im Zentrum der nun verabschiedeten Resolution steht die humanitäre Lage im Gazastreifen. Unter anderem wird die "sofortige" Bereitstellung von Wasser, Nahrungsmitteln, Treibstoff und Strom "in ausreichenden Mengen" sowie der "ungehinderte" Zugang für humanitäre Hilfe gefordert. Zudem werden "alle gegen palästinensische und israelische Zivilisten gerichteten Gewaltakte, einschließlich aller Terrorakte und wahlloser Angriffe" verurteilt und die "unverzügliche und bedingungslose Freilassung" aller gefangen gehaltenen Zivilist:innen gefordert sowie deren Sicherheit, Wohlergehen und humane Behandlung im Einklang mit dem Völkerrecht.
Der Text äußert außerdem "Sorge angesichts der jüngsten Eskalation der Gewalt seit dem Angriff vom 7. Oktober" - ohne jedoch die Hamas namentlich zu erwähnen.
Der Text des Resolutionsentwurfs forderte ursprünglich einen Waffenstillstand im Gazastreifen, um die humanitäre Hilfe in den Streifen zu gewährleisten. Statt "Waffenstillstand" heißt es jetzt: "sofortige, dauerhafte und lang anhaltende humanitäre Waffenruhe, die zur Einstellung der Feindseligkeiten führt, und dass alle Parteien unverzüglich und in vollem Umfang ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen, insbesondere in Bezug auf den Schutz der Zivilbevölkerung".
Darüber hinaus forderte die Gruppe, die den Vorschlag ausgearbeitet hatte, "die Aufhebung des israelischen Befehls zur Evakuierung der Palästinenser aus dem Norden des Streifens". Diese Formulierung richtete sich gegen Tel Avivs Forderungen nach einer Umsiedlung der aus dem Gazastreifen evakuierten Menschen in benachbarte und befreundete Staaten.
In der Resolution wird die Hamas, die den Gazastreifen regiert, nicht ausdrücklich erwähnt, was einer der Hauptpunkte war, der zu einem kanadischen Änderungsvorschlag führte, in dem die Hamas verurteilt werden sollte. In einer eindringlichen Rede, in der er Kanadas Erklärung widerlegte, sagte der pakistanische Botschafter Munir Akram, wenn Kanada in seinem Änderungsantrag fair wäre, würde es zustimmen, sowohl Israel als auch die Hamas zu nennen. "Israel muss dann auch genannt werden, wenn man fair und gerecht sein will", sagte er. "Wir alle wissen, wer damit angefangen hat. Es sind 50 Jahre israelische Besatzung und das ungestrafte Töten von Palästinensern." Keine der beiden Seiten beim Namen zu nennen, sei die beste Wahl, so wie es die jordanische Resolution tue. Der Antrag Kanadas erhielt mit 85 Ja-, 55 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen nicht die erforderliche Zweidrittelmehrehie.
Israels Außenminister Eli Cohen reagierte im Anschluss auf die Abstimmung und den Wortlaut der Resolution empört. "Wir lehnen den verabscheuungswürdigen Ruf der UN-Generalversammlung nach einem Waffenstillstand entschieden ab", schrieb er auf der Plattform X. "Israel beabsichtigt, die Hamas zu eliminieren."
Zu Beginn der Woche hatte der israelische Außenminister bereits ein Treffen mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres abgesagt und angekündigt, dass UN-Vertreter:innen keine Einreise nach Israel mehr erlaubt werde. Die Absage erfolgte, nachdem Guterres erklärt hatte, dass die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober nicht "in einem Vakuum" stattgefunden hätten und die Palästinenser "56 Jahre lang einer erdrückenden Besatzung ausgesetzt" gewesen seien. Er äußerte sich auch besorgt über die "eindeutigen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht" durch Israel.
Für Baerbock war der Text nicht ausgewogen
Außenministerin Annalena Baerbock begründete die Enthaltung Deutschlands damit, dass das Papier nicht ausgewogen genug sei. Deutschland habe "intensiv darauf hingearbeitet, zu einer ausgewogenen Nahost-Resolution zu kommen", erklärte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) laut einer Mitteilung des Auswärtigen Amts in Berlin nach der Abstimmung.
Wichtige Punkte wie "eine klare Verurteilung aller Terrorakte und zumindest ein Ruf nach Freilassung der Geiseln" seien zwar in dem Text enthalten. "Weil die Resolution den Hamas-Terror nicht klar beim Namen nennt, die Freilassung aller Geiseln nicht deutlich genug gefordert und das Selbstverteidigungsrecht Israels nicht bekräftigt, haben wir mit vielen unserer europäischen Partner entschieden, der Resolution am Ende nicht zuzustimmen", begründete die Ministerin die Stimmenthaltung Deutschlands.
Es waren aber wohl weniger die "europäischen Partner", die die Bundesregierung gegen eine Waffenruhe und humanitäre Hilfe stimmen ließen. Denn immerhin haben Frankreich, Spanien, Belgien, Irland, Luxemburg, Portugal, Slowenien der Resolution zugestimmt.
"keine roten Linien für Israel"
John Kirby, Nationaler Sicherheitsrats der USA
Die Forderung nach einer Waffenruhe und die auch an Israel gerichtete Aufforderung den völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und alle gegen Zivilisten gerichteten Gewaltakte einzustellen, stößt in Washington, Tel Aviv und Berlin auf Widerstand. "Wir ziehen keine roten Linien für Israel", sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby. Man unterstütze weiter die "Sicherheitsbedürfnisse" des Landes und Israels Recht, sich selbst zu verteidigen.
Die stellvertretende Sprecherin des Verteidigungsministeriums, Sabrina Singh sagte: "Wir schränken die Verwendung der bereitgestellten Waffen durch Israel nicht ein. Es ist wirklich Sache der israelischen Verteidigungskräfte, wie sie ihre Operationen durchführen wollen. Aber wir schränken das nicht ein."
Bereits beim EU-Gipfel hat Deutschland - im Wissen, dass Israel jede Art von Waffenstillstand, selbst einen humanitären Waffenstillstand, strikt ablehnt - gegen die auch von Frankreich unterstützte Forderung nach einem Waffenstillstand interveniert. So wurde der Name des UN-Generalsekretärs aus dem Entwurf der Schlussfolgerungen des EU-Gipfels gestrichen: Von der "Unterstützung des Aufrufs des Generalsekretärs zu einem humanitären Waffenstillstand" ist die allgemeine Beschwörung einer "humanitären Pause" übrig geblieben. Betont wird das Recht Israels, sich "im Einklang mit dem Völkerrecht" zu verteidigen.
Doch solche Hinweise auf das Völkerrecht, die denen der Vereinigten Staaten ähneln, klingen hohl, da Israel verheerende Luftangriffe durchführt, die ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemachen, Krankenhäuser ins Ziel nehmen, und inzwischen fast 8.000 Menschen im Gazastreifen getötet haben, einige in Gebieten, in denen Israel die Palästinenser:innen aufgefordert hatte, sich in Sicherheit zu bringen.
Bundeskanzler Scholz: "Keine Zweifel", dass die israelische Armee das Völkerrecht beachtet
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zu Beginn des EU-Gipfels am Donnerstag (26.10.) dem völkermörderischen Angriffen Israels auf den Gazastreifen Rückendeckung gegeben. "Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten", sagte er mit Blick auf das Vorgehen der israelischen Armee gegen die Bevölkerung im Gazastreifen. "Da kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keine Zweifel."
Vielleicht sind es wieder Gedächtnislücken, die den Bundeskanzler vergessen lassen, dass Israel widerrechtlich die palästinensichen Gebiete seit Jahrzehnten besetzt, illegale Sidelungen errichtet und alle diesbezüglichen UN-Resolutionen ignoriert, dass Amnesty International und die UN-Beauftragte für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, den Staat Israel als "Apartheidstaat" verurteilen, dass der israelische Kriegsminister Yoav Gallant im Gazastreifen gegen "menschliche Tiere" kämpft, die Zivilbevölkerung des Gaza mit einer totalen Blockade terrorisiert und die Infrastruktur gezielt zerstört (siehe kommunisten.de: "menschliche Tiere", das ist "Rhetorik der Nazis ". Oder: Requiem für Gaza) und zumindest Teile der gegenwärtigen israelischen Regierung und die ultraorthodoxen jüdischen Siedler Gaza und Westjordanland von Palästinenser:innen ethnisch säubern wollen.
Da spricht Brasilens Präsident Lula da Silva Klartext: "Es ist kein Krieg. Das ist ein Völkermord"
https://twitter.com/ebcnarede/status/1717336568480907276
"Was derzeit im Nahen Osten geschieht, ist ernst, und es geht nicht darum, darüber zu diskutieren, wer Recht oder Unrecht hat, wer den ersten Schuss abgegeben hat und wer den zweiten. Es ist kein Krieg, sondern ein Völkermord, dem fast zweitausend Kinder zum Opfer gefallen sind, die nichts mit diesem Krieg zu tun haben, sie sind Opfer dieses Krieges. Und offen gesagt, weiß ich nicht, wie ein Mensch zu einem Krieg fähig ist, wenn er weiß, dass das Ergebnis dieses Krieges der Tod unschuldiger Kinder ist."
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