28.02.2022: Am Sonntag (27.2.) trat der Deutsche Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen. Der Anlass für die Sitzung ist der von Russlands Präsident Wladimir Putin angeordnete flächendeckende Angriff auf die Ukraine. Die Antwort, die die Bundesregierung mit Unterstützung einer lagerübergreifenden Mehrheit des Bundestages auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gibt, ist keine friedenspolitische, sondern eine kriegspolitische.
In der Regierungserklärung sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag bei der Sondersitzung des Deutschen Bundestages [1], nach dem russischen Angriff sei die Welt "nicht mehr dieselbe wie die Welt davor". Im Kern gehe es um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob es Putin gestattet werden könne, die Uhren "in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückzudrehen oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen". Diese Grenzen bestehen in der Logik einer lagerübergreifenden, ganz großen Koalition zufolge ausschließlich in allgemeiner Aufrüstung und Sanktionen. Letztere, darauf bereiteten mehrere Minister die Bevölkerung vor, würden auch hierzulande viele Probleme hervorrufen.
Am Tag vor der Bundestagssitzung hatte die Bundesregierung bereits eine Kehrtwende in Bezug auf ihre erst vor wenigen Wochen verkündete restriktive Rüstungsexportpolitik vollzogen und dle Lieferung von Waffen in die Ukraine genehmigt.
In seiner Regierungserklärung bestätigte Olaf Scholz noch einmal die am Vortag von der Bundesregierung beschlossene Lieferung von 1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Raketen "an unsere Freunde in der Ukraine". Zudem ist die Ausfuhr von 14 speziellen gepanzerten Fahrzeugen für die Ukraine genehmigt worden, bis zu 10.000 Tonnen Treibstoff werden über Polen in die Ukraine geliefert, Estland wurde erlaubt, Artilleriegeschütze aus Altbeständen der Nationalen Volksarmee der DDR an die Ukraine abzugeben.
Die Bundeswehr brauche angesichts der Zeitenwende durch den russischen Angriff auf die Ukraine "neue, starke Fähigkeiten", sagte Scholz. "Klar ist: Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen", so der Bundeskanzler. Das Ziel sei eine "leistungsfähige, hochmoderne und fortschrittliche Bundeswehr".
Gigantische Aufrüstung der Bundeswehr
Scholz verkündete, die Regierung werde ein "Sondervermögen" zur Aufrüstung der Bundeswehr einrichten und dieses "einmalig" mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Das Sondervermögen solle "im Grundgesetz abgesichert" werden.
100 Milliarden Euro zusätzlich für Rüstung noch in diesem Jahr, das ist mehr als das Budget der Bundesministerien Gesundheit (16,03 Mrd.), Bildung und Forschung (19,36 Mrd.), Innen, Bau und Heimat (18,52 Mrd.), Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12,16 Mrd.), Wirtschaft und Energie (9,81 Mrd.), Umwelt (2,7 Mrd.), Zusammenarbeit und Entwicklung (10,8 Mrd.) sowie Ernährung und Landwirtschaft (6,98 Mrd.) zusammengenommen. Wenn zu den im Bundeshaushalt ausgewiesenen Verteidigungsausgaben für 2022 von 50,3 Mrd. Euro nun die 100 Mrd. dazukommen, dann entspricht dies fast dem Dreifachen der gesamten Rüstungsausgaben Russlands (SIPRI: 54,21 Mrd. Euro). Und Deutschland ist nur eines von 30 NATO-Ländern.
Darüber hinaus werde "von nun an Jahr für Jahr" mehr als zwei Prozent des BIP in Rüstung investiert. Der Verteidigungsetat für das Jahr 2022 sah bislang 50,3 Milliarden vor. Zwei Prozent entsprächen etwa 70 Milliarden Euro. Für das vergangene Jahr hatte die Bundesregierung der Brüsseler NATO-Zentrale einen Betrag von 53,03 Milliarden Euro übermittelt.[2] Eine Steigerung um 3,2 Prozent und ein Anteil von 1,57 Prozent am Bruttoinlandsprodukt - nach 1,36 Prozent im Jahr 2020.
Weiter teilte Scholz mit, die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohnen aus Israel – gegen die in der SPD während der Großen Koalition noch eine Mehrheit schwere Bedenken hatte – werde man vorantreiben. Zudem werde die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern mit den europäischen Partnern gebaut und der Eurofighter gemeinsam weiterentwickelt. Für die nukleare Teilhabe werde man "rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen". Die USA beginnen demnächst mit dem Austausch der in Büchel stationierten Atomwaffen und ersetzen sie durch lenkbare Atombomben, die über einen Nuklearsprengkopf mit vier Leistungsoptionen verfügen, die beim Abschuss je nach dem zu treffenden Ziel wählbar sind. Um diese Atombomben ins Ziel zu bringen, benötigt die Bundeswehr neue Kampfflugzeuge.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erklärte sich zur Aufnahme neuer Schulden bereit, um die Aufrüstung der Bundeswehr zu finanzieren. Die Debatte über die Stärkung der Wehrfähigkeit sollte nicht geführt werden "mit der Warnung vor neuen Schulden", sagte Lindner am Sonntag. Die von der Bundesregierung geplanten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr seien "in dieser Weltlage zunächst Investitionen in unsere Freiheit". Mit der Vernachlässigung der Bundeswehr müsse jetzt Schluss sein. Er bekräftigte jedoch, dass die Bundesregierung an ihrem Ziel festhalte, die Schuldenbremse wieder einzusetzen.
Mit Blick auf die beschlossenen Sanktionen gegen Russland, sagte er, diese seien "auf Dauer angelegt". Deutschland sei bereit, negativen Auswirkungen der Sanktionen zu tragen, "denn sie sind der Preis der Freiheit".
Zwar betonten Scholz und viele andere Rednerinnen und Redner im Parlament, man müsse auch Gesprächskanäle nach Russland offen halten und die dortige Zivilgesellschaft stärken. Doch insgesamt waren sich bis hin zur AfD alle einig, dass jetzt der Zeitpunkt für die Politik der militärischen Stärke gekommen sei.
CDU-Chef Friedrich Merz verwahrte sich dagegen, das Thema Bundeswehr zum Gegenstand parteipolitischen Streits zu machen und bot bei der gestrigen Sondersitzung des Bundestages eine ganz große Rüstungskoalition an, die auch gebraucht werden wird, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) tatsächlich den 100-Milliarden-Rüstungsfonds ins Grundgesetz schreiben und jährlich mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben will.
Die von mehreren Regierungsmitgliedern bekanntgegebenen "finanziellen, wirtschaftlichen und individuellen Sanktionen" gegen Russland wurden lediglich von der rechten AfD abgelehnt, die Linksfraktion sprach sich gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung aus, jedoch ohne stringente Begründung.
Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali war die einzige Politikerin, die sich gegen die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine wandte. "Dieses Hochrüsten, diese Militarisierung, die können und werden wir als Linke nicht mittragen", sagte sie. "Die Geschichte lehrt uns, dass Wettrüsten keine Sicherheit schafft." Zugleich räumte Mohamed Ali ein, ihre Partei habe die Lage lange falsch eingeschätzt. DIE LINKE teile die Ansicht, dass Russland allein für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verantwortlich sei.
Europäische Union liefert "tödliche Waffen"
"Ende des Tabus, wonach die EU keine Waffen an Kriegsparteien liefert"
Josep Borrell, EU-Außenbeauftragter
Zur gleichen Zeit verlautete am Sonntag aus Brüssel, dass die Europäische Union 450 Millionen Euro für "tödliche Waffen", so die Formulierung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, bereitstellt. Außerdem werden 50 Millionen Euro für Treibstofflieferungen, Schutzausrüstung und medizinische Ausrüstung für die ukrainische Armee ausgegeben. Borrell formulierte am Sonntag dazu die Feststellung, dies sei nun "das Ende des Tabus, wonach die EU keine Waffen an Kriegsparteien liefert".
Friedenspolitische Eiszeit
Die Friedensbewegung wird sich darauf einstellen müssen, dass ein SPD-Kanzler zusammen mit den Grünen bereit steht, um alle lang gehegten Träume der Konservativen und der Rüstungsindustrie zu erfüllen. Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet; riesige Rüstungsinvestitionen; Erfüllung der Nato-Vorgabe, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Rüstung zu pumpen; Kampfdrohnen; so genannte atomare Teilhabe der Bundeswehr – offenbar gibt es keine Schranken mehr.
"Das wird keine kurzfristige Episode", schreibt Wolfgang Hübner in der Zeitung nd. "Auf sehr lange Zeit werden wir uns in eine Eiszeit bewegen, in eine lange Periode der Militarisierung und Hochrüstung, die die Gesellschaft komplett verändern wird. Er finde diese Entscheidung richtig, 'aber ob sie gut ist, weiß keiner', fasste Wirtschaftsminister Robert Habeck diesen Aufbruch ins gefährlich Ungewisse zusammen. In eine Nachfriedensordnung, so fragil dieser Frieden in Europa seit 1945 auch oft war. Man kann schon jetzt von einem ökologisch-militärischen Komplex reden, der offenbar das Markenzeichen dieser Bundesregierung wird Bedenken gibt es kaum noch – die Ampel macht tabula rasa.
Die politische Auseinandersetzung wird sich auf Jahre hinaus nicht um Abrüstungs-, sondern um Hochrüstungsziele drehen."
Anmerkungen
[1] Sondersitzung des deutschen Bundestages am 27. Februar 2022
Video:
https://www.bundestag.de/#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMjIva3cwOC1zb25kZXJzaXR6dW5nLTg4MjE5OA==&mod=mod493052
Protokoll: https://dserver.bundestag.de/btp/20/20019.pdf
[2] Die an die NATO übermittelten Rüstungsausgaben sind höher als die im Verteidigungsetat ausgewiesenen Ausgaben, weil auch in anderen Haushaltsposten Rüstungsausgaben versteckt sind.