02.03.2010: Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht mit dem grundrechtlich geschützten Telekommunikationsgeheimnis vereinbar sei. Als Folge des Urteils wird das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt - und damit müssen alle bislang gespeicherten Telekommunikationsverkehrsdaten gelöscht werden. Die Daten seien "unverzüglich zu löschen", heißt es in dem Urteil. Durch das Gesetz wurden Telekommunikationsfirmen verpflichtet, von 2008 an die Daten von Telefonverbindungen und von 2009 an auch die Daten von Internetverbindungen jeweils sechs Monate lang zu speichern. Protokolliert wird, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat. Es lassen sich mit den Handy-Daten auch Bewegungsprofile erstellen, da die jeweilige Mobilfunkzelle erfasst wird.
Der Deutsche Bundestag hatte am 9. November 2007 mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD den Gesetzentwurf zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland beschlossen. Fast 35.000 Bürger haben gegen dieses Gesetz geklagt. Auch die Gewerkschaft ver.di hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt. Ihre Verfassungsbeschwerde richtet sich vor allem gegen die Verletzung der in Art. 9 III GG begründeten Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft. Die dju in ver.di hatte sich in einer Gemeinsamen Erklärung zusammen mit mehr als 40 weiteren Organisationen und Verbänden gegen die verdachtslose Vorratserfassung der Verbindungs- und Standortdaten der gesamten Bevölkerung ausgesprochen. Mehr als 20.000 Bürger protestierten am 12. September letzen Jahres gegen den Überwachungswahn. Die Veranstalter, ein Bündnis von 167 Organisationen - darunter ver.di und die dju - werteten die Demonstration als „vollen Erfolg“. Der AK Vorratsspeicherung hatte auch heute zu einer Demonstration vor dem Gericht aufgerufen (siehe Foto)
Die Karlsruher Richter schließen eine Speicherung der Daten jedoch nicht generell aus. Sie stellten nicht die Zulässigkeit der EU-Richtlinie in Frage, die Grundlage für das Gesetz in Deutschland ist. Bei der Speicherung handele es sich aber "um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt". Darum müsste ein derartiger Eingriff an strengste Bedingungen geknüpft werden. Diese Voraussetzungen erfüllt das deutsche Gesetz laut dem Urteil nicht.
Schweden hat sich der Vorratsdatenspeicherung widersetzt. Der Europäische Gerichtshof hat Schweden wegen der Nichtumsetzung der EU-Vorgaben zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten verurteilt. Geklagt hatte die EU-Kommission, die über die nationalen Implementierungen der EU-Richtlinie zur verdachtsunabhängigen Protokollierung der Nutzerspuren wacht. Die schwedische Regierung muss aber lediglich die Gerichtskosten tragen. Von einer möglichen Geldbuße für jeden Tag des andauernden Rechtsverstoßes sah der EuGH ab. Die schwedische Justizministerin Beatrice Ask erklärte laut einem Bericht der "taz", dass sie trotz des Urteils keinen Gesetzesentwurf zur Vorratsdatenspeicherung vorlegen werde. Die Regierung habe ihre Meinungsbildung nicht abgeschlossen, ob die Richtlinie die Privatsphäre einzelner Bürger verletze und damit einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Grundrechte und die europäische Menschenrechtskonvention darstelle. Das ist vor allem auf den Druck und den Wahlerfolg der schwedischen Piratenpartei zurückzuführen.
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung fordert einen Stopp der flächendeckenden Überwachung in ganz Europa. "Die verdachtslose Erfassung vertraulicher Verbindungen und Bewegungen der gesamten Bevölkerung muss jetzt von der Politik schnellstens zurückgenommen werden", fordert Florian Altherr vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Die Bundesregierung kann bei einem entsprechenden Vorstoß auf die Unterstützung vieler Staaten wie Österreich, Schweden und Rumänien zählen, die sich der Vorratsdatenspeicherung bis heute verweigern."
Die neue EU-Justizkommissarin Viviane Reding hat angekündigt, die zugrunde liegende EU-Richtlinie grundlegend zu überprüfen. Sie werde sich für das "richtige Gleichgewicht" zwischen der Terrorismusbekämpfung und der Achtung der Privatsphäre einsetzen und die Richtlinie "noch in diesem Jahr auf den Prüfstand stellen". "Die Vorratsdatenspeicherung kann jedermanns Grundrecht auf Privatsphäre einschränken." Es müsse "gewährleistet werden", dass die Vorratsdatenspeicherung mit der seit Dezember verbindlichen EU-Grundrechtecharta "vereinbar" sei. Konkret wolle sie "untersuchen, inwiefern die Speicherung verschiedenster Datensätze notwendig ist, ob die Speicherzeit für Daten angemessen ist und ob nicht weniger aufdringliche Maßnahmen dem gleichen Ziel dienen könnten", so die EU-Kommissarin.
Eine andere Vorratsdatenspeicherung ist in Deutschland seit Anfang des Jahres in Kraft. Bei dem heftig umstrittenen Arbeitnehmerdaten-Projekt ELENA (Elektronischer Entgeltnachweis) sollen Arbeitgeber Daten über Beschäftigungsdauer und Einkommen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an einen zentralen Datenspeicher senden. Auf Basis dieser Daten soll es den Sozialbehörden ab 2012 möglich sein, Leistungen auszuzahlen oder zu verweigern. Datenschützer und Gewerkschaften befürchten einen Missbrauch der sensiblen Daten, weil z.B. so auch gespeichert wird, wer sich an einem Streik beteiligt hat. Deshalb unterstützt auch ver.di die beim Deutschen Bundestag eingereichte Online-Petition, die eine Aufhebung der Vorratsspeicherung von Daten fordert. Damit die Petition in einer öffentlichen Ausschusssitzung behandelt wird, müssen in den ersten drei Wochen nach Veröffentlichung 50.000 Unterstützer gesammelt werden. Die Petition kann noch bis zum 2. März unterzeichnet werden.
Link zur Online-Petition Diskussion über ELENA
Text: mami Foto: I. Tauss