17.04.2023: Verfassungsrat genehmigt Rentenreform ++ Macron unterzeichnet noch in der Nacht das Gesetz ++ die Proteste gehen weiter ++ CGT ruft auf: ab sofort mit Streiks und anderen Aktionen gegen die Regierungspolitik protestieren! 1. Mai nächster Höhepunkt mit Blockaden und Generalstreiks ++ Donnerstag: Vier SNCF-Gewerkschaften rufen zu einem "Tag des Ausdrucks des Zorns der Eisenbahner" auf ++ Linkskoalition: Kampf um Referendum ++ aber die allgemeine Empörung hat noch keinen Ausdruck in einer klaren Mobilisierungsstrategie gefunden
Mit ungewöhnlicher Eile verkündete der französische Präsident Emmanuel Macron das Gesetz zur Rentenreform. Kurz nach dem der sog Verfassungsrat am am Freitagabend das Gesetz im Wesentlichen passieren ließ, setzte Emmanuel Macron um 3:28 Uhr seine Unterschrift unter den Gesetzestext. Noch in der Nacht von Freitag auf Samstag wurde dieser im Amtsblatt veröffentlicht. Die Reform werde wie angekündigt am 1. September in Kraft treten, verkündete Regierungssprecher Olivier Véran am Samstag.
Macron hätte nach der Entscheidung des Verfassungsrates 15 Tage Zeit gehabt, um seine Unterschrift zu leisten. Die Gewerkschaften hatten ihn "feierlich" aufgefordert, zu warten. Diese Eile hat zusätzlich Benzin ins Feuer geschüttet.
"ein demokratischer Raubüberfall"
François Ruffin, Abgeordneter von La France insoumise
Fabien Roussel von der PCF empörte sich auf Twitter, "Ein Gesetz erlassen mitten in der Nacht, wie Diebe. Diebe des Lebens. 1. Mai 2023: Alle auf der Straße." Auch für Marine Tondelier, Nationalsekretärin der Grünen, ist die eilige Unterzeichnung "eine Provokation". "Zu den Umwelt- und Sozialkrisen fügte Macron die Demokratiekrise hinzu", so Tondelier. Der Abgeordnete von La France insoumise, François Ruffin, twitterte: "Wie Diebe haben Emmanuel Macron und seine Bande ihr Rentengesetz mitten in der Nacht verkündet. Denn sie wissen genau: Was sie gerade praktiziert haben, ist ein demokratischer Raubüberfall". Olivier Faure von der Sozialistischen Partei zitiert ein mexikanisches Sprichwort: "Sie wollten uns begraben, aber sie wussten nicht, dass wir Samen sind". Und er spricht von "Verachtung" und "Provokation".
Auch die Gewerkschaften sprechen von einem "Zeichen der Verachtung". "Die demokratische Weisheit hätte verlangt, sie nicht zu verkünden und den Dialog wieder aufzunehmen", reagierte der Generalsekretär der sozialpartnerschaftlich orientierten CFDT, Laurent Berger, auf Twitter. Seine Kollegin von der klassenkämpferischen CGT, Sophie Binet, verurteilte auf franceinfo "eine schändliche Entscheidung", die "mitten in der Nacht hinter dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" getroffen wurde als "ein Zeichen der tiefen Verachtung des Präsidenten für die Bevölkerung und die Gewerkschaften".
Alle Gewerkschaften haben Macrons Einladung in den Elysée-Palast für kommenden Dienstag abgelehnt. " In der Erklärung der mitgliederstärksten Gewerkschaft CGT heißt es: "Die Gewerkschaften haben die Rücknahme der Reform als Vorbedingung für jedes weitere Treffen mit dem Präsidenten und seiner Regierung festgelegt. Sie bleiben zusammen und rufen dazu auf, den 1. Mai zu einem historischen Moment der Mobilisierungen zu machen. Die CGT ruft die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, die Mobilisierung in all ihren friedlichen Formen fortzusetzen, insbesondere mit den Höhepunkten durch die Gebiete und Berufe am 20. und 28. April." [1]
"Angesichts der Missachtung: Mobilisierung bis zur Rücknahme der Rentenreform!"
Sophie Binet, neue Generalsekretärin der CGT
Entscheidung des Verfassungsrates
Am Freitag kurz vor 18 Uhre haben die "Neun Weisen" wie die Mitglieder des Verfassungsrat genannt werden, ihre Entscheidung verkündet. Im Unterschied zum deutschen Bundesverfassungsgericht handelt es sich bei den "Weisen" nicht um Verfassungsjuristen. Viele Verfassungsräte bekleideten zuvor zuvor Ämter in der französischen Regierung. Die Mitglieder des Verfassungsrates "gelten als regierungsnah, weil sie teils vom Präsidenten, teils vom Parlament ernannt werden", wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) einräumen muss.
Der Verfassungsrat winkte die Rentenreform im Wesentlichen durch. Die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 64 erklärten sie für verfassungskonform. Auch an der sehr umstrittenen Methode, diese Vorlage ohne Abstimmung in der Nationalversammlung dank des Artikels 49.3 und anderen fragwürdigen Prozeduren für angenommen zu erklären, hat der Verfassungsrat nichts zu bemängeln. Hingegen hat der Verfassungsrat Elemente der Rentenreform zurückgewiesen, die für einen gewissen sozialen Ausgleich, gerade für ältere Beschäftigte, hätten sorgen können. So wurde die von Macron als Zugeständnis konzipierte Verpflichtung für große Unternehmen, einen gewissen Prozentsatz von über 55-Jährigen zu beschäftigen und ihnen darüber hinaus unbefristete Verträge anzubieten, von den "Weisen" gestrichen. Diese Elemente, die von Macron als als Zuckerbrot gedacht waren, hätte in diesem Gesetz nichts zu suchen. Sie werden daher aus der Reform gekippt, die damit nur noch unsozialer wird.
Für die erst am 31 . März zur neuen Generalsekretärin der CGT gewählte Sophie Binet "wird das Gesetz noch unausgewogener, man muss bis 64 arbeiten und es gibt kein Gegenstück für die Beschäftigung von Senioren". "Man regiert ein Land nicht gegen das Volk, der Präsident muss zur Vernunft zurückkehren", setzte sie hinzu. Sie rief dazu auf, ab sofort mit Streiks und anderen Aktionen gegen die Regierungspolitik zu protestieren.
Die PCF erklärte zur Entscheidung der "Weisen": "Die Bestätigung des Gesetzes führt dazu, dass der Protest eines ganzen Landes gegen einen Gesetzestext ignoriert wird, der die Lebensbedingungen der großen Mehrheit derjenigen, die nur von ihrer Arbeit leben, zu verschlechtern droht. … Die Bestätigung des Gesetzes durch den Verfassungsrat verleiht ihm keine Legitimität durch das Volk. Wir werden nicht nachgeben und dies zum Ausdruck bringen, indem wir massiv an den Versammlungen teilnehmen, zu denen die Gewerkschaften aufrufen." [2]
Hinzu kommt jedoch auch, dass der Verfassungsrat eine von der Opposition verlangte Volksabstimmung über das Prestigeprojekt Macrons zurückgewiesen hat. Die Weisen, die am Freitag den von der Linken eingereichten Rip-Antrag (Referendum) abgelehnt haben, werden am 3. Mai über einen zweiten Antrag entscheiden müssen.
Proteste gehen weiter
Die Sitzung des Verfassungsrates – die Mitglieder wurden mit Hubschraubern eingeflogen und das von Polizeieinheiten hermetisch abgeriegelte Gebäude glich einem Heerlager – war von mehr als 130 Demonstrationen in ganz Frankreich begleitet. Als die Entscheidung verkündet wurde, explodierten die Plätze mit stundenlangen Zusammenstößen am Abend in mehreren Städten und polizeilicher Repression.
Auch nach der Verkündung des Gesetzes gingen die Proteste abends weiter: von Marseille bis Bordeaux, von Toulouse bis Lyon praktizieren kleine Gruppen von Hunderten von Demonstranten - oft sehr jung - weiterhin die manif sauvage, diese Form der spontanen Demonstration, die sich schnell durch die Straßen des Zentrums bewegen, Mülltonnen umwerfen, Barrikaden bauen und Müll in Brand stecken - sogar, wie in Rennes in der Nacht von Samstag auf Sonntag, vor den Türen von Polizeistationen. Die jungen Leuten, die nachts durch die Straßen französischer Städte ziehen beschwören das Schicksal Ludwigs XVI., "den wir enthauptet haben/Macron, wir können es wieder tun".
Ablehnung der Rentenreform hat noch zugenommen
Trotz der Verabschiedung der Rentenreform unterstützen 66% der Franzosen die Fortsetzung der Mobilisierung der Gewerkschaften gegen das von Präsident Emmanuel Macron durchgeboxte Gesetz. Dies sind die Ergebnisse einer Umfrage von Toluna Harris Interactive für RTL und Aef Info. 71% der Befragten sprechen sich gegen das Gesetz aus, das sind drei Prozentpunkte mehr als bei der letzten Umfrage.
Die Art und Weise, wie Macron und seine Regierung mit einem als arrogant und undemokratisch betrachteten Vorgehen die Bevölkerung gegen sich aufbrachten, hat die Staatsführung außerordentlich geschwächt. Es könnte sich um einen Pyrrhussieg handeln, der zwar rechtlich errungen, aber politisch nicht legitimiert ist. Und so hat es Macron eilig mit dem Versuch, das Blatt zu wenden. Am heutigen Montag um 20 Uhr wird er im Fernsehen auftreten und versuchen, den Dialog mit der öffentlichen Meinung, die ihm feindlich gesinnt ist, wieder in Gang zu bringen. Er muss einen Ausweg finden. Aber es fehlt im zunehmend an Verbündeten im Parlament. Vier Abgeordnete seiner Partei Renaissance, darunter die ehemalige Umweltministerin Barbara Pompili (2020 bis 2022), haben eine neue Partei "innerhalb der Präsidentenmehrheit" gegründet (En Commun!), die die Rentenreform kritisiert.
Von den Arbeitern der Müllabfuhr bis zu den Eisenbahnern: Die Revolte organisiert sich neu
Die Protest nach der Entscheidung des Verfassungsrates gehen in den Städten weiter, aber die allgemeine Empörung hat noch keinen Ausdruck in einer klaren Mobilisierungsstrategie gefunden.
Vorerst haben die Gewerkschaften beschlossen, alles auf einen 1. Mai mit Blockaden und Generalstreiks zu setzen. Die CGT-Generalsekretärin Sophie Binet verspricht "eine populäre, historische Flutwelle", die das Land am 1. Mai überschwemmen soll, und kündigte zwei Zwischentage der Mobilisierung am 20. und 28. April an.
Vier SNCF-Gewerkschaften rufen zu einem "Tag des Ausdrucks des Zorns der Eisenbahner" am Donnerstag auf.
Die vier repräsentativen Gewerkschaften bei der staatlichen Eisenbahn SNCF riefen am Samstag zu einem "Tag des Ausdrucks des Zorns der Eisenbahner" am Donnerstag, den 20. April auf. Er wird als "Etappe der Vorbereitung" auf die Demonstrationen am 1. Mai angekündigt. "Wir werden nicht zur Tagesordnung übergehen, solange dieses Gesetz nicht zurückgenommen wird", erklärten die CGT-Cheminots, die Unsa-Ferroviaire, SUD-Rail und die CFDT-Cheminots in einer Erklärung.
Die Eisenbahner:innen haben bei allen großen Streiks in Frankreich immer eine führende Rolle gespielt - insbesondere während des siegreichen Kampfes 1995, als es den Gewerkschaften gelang, die vom damaligen Premierminister Alain Juppé, der heute zu den "Weisen" im Verfassungsrat gehört, gewollte Rentenreform zu stoppen. Obwohl sie seit dem 7. März streiken, ist es ihnen noch nicht gelungen, so viel zu mobilisieren, wie sie es sich gewünscht hätten, oder den Dienst so lahm zu legen, wie es für einen durchschlagenden Erfolg notwendig wäre. Sie hoffen, dass sich dieser Trend angesichts der "Brutalität dieser Reform", wie sie in ihrem gemeinsamen Kommuniqué schreiben, umkehren lässt.
"Um das Land zu blockieren, brauchen wir einen dauerhaften und unbefristeten Generalstreik in den strategischen Sektoren der Wirtschaft!"
Gewerkschaftsaktivist:innen
Langsam beginnen sich weitere Initiativen in den sozialen Netzwerken und in Versammlungen zu formieren. Gruppenchats organisieren sich, um die Blockaden der Müllabfuhr in Paris zu unterstützen; Student:innen schließen sich mit Gewerkschafter:innen zusammen, um die Umgehungsstraßen in der Bretagne zu blockieren; Gymnasiast:innen versprechen, wiederholt Schulen zu blockieren. Und es gibt sogar Leute, die dazu aufrufen, die Arbeiten für die Olympischen Spiele, die Paris im Sommer 2024 ausrichten wird, zu sabotieren: "pas de retrait, pas de JO" - kein Rückzug [der Rentenreform], keine Spiele - lautet der Slogan, der allmählich auf Stadtmauern und in sozialen Netzwerken auftaucht.
Parallel dazu versuchen einige strategische Bereiche, sich zu mobilisieren. Am 13. April nahmen die Pariser Müllmänner unter Führung der CGT ihren Streik wieder auf und begannen, Verbrennungsanlagen und Deponien in der ganzen Hauptstadt zu blockieren. Die Organisation der Müllblockaden ist eine komplexe Angelegenheit, und diese und die kommende Woche wird entscheidend sein, um zu sehen, ob die Aktionen der Müllarbeiter:innen den gewünschten Effekt haben werden, d.h. die Hauptstadt unter Müll zu begraben.
In den traditionelleren Sektoren blickt man auf die Raffinerien, die ihre Mobilisierung vor einer Woche unterbrochen hatten und in diesen Tagen wieder aktiv werden könnten, was zu Treibstoffengpässen führen würde.
Unter den gewerkschaftlichen Aktivist:innen wird der Ruf nach einer Radikalisierung des Kampfes und nach einem unbefristeten Generalstreik lauter: "Ein Generalstreik einmal pro Woche bringt nichts, außer dass er die Arbeiter zermürbt und Lohnverluste für nichts verursacht. Um das Land zu blockieren, brauchen wir einen dauerhaften und unbefristeten Generalstreik in den strategischen Sektoren der Wirtschaft!"
Die CGT hat zwar seit Januar 30.000 neue Mitglieder gewonnen, aber ob sie und die anderen Gewerkschaften stark genug sind, diese radikale Konfrontation durchzustehen, werden die Gewerkschaftsführungen gründlich beraten.
Die acht Gewerkschaftsorganisationen, die bisher gemeinsam gegen die Rentenreform mobilisiert haben, kommen am heutigen Montag zusammen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Aber schon am Freitag versammelten sich CGT, FO und Solidaires nach der Demonstration vor dem Rathaus von Paris, während die gemäßigten, reformistischen Gewerkschaften, allen voran die CFDT, nicht anwesend waren. Dies ist ein erster Riss in der Gewerkschaftsfront, nach mehr als drei Monaten gemeinsamer Kämpfe und unterschiedlicher Meinungsschattierungen angesichts der Entscheidung des Verfassungsrates, der die Verfassungsmäßigkeit der Reform bestätigt hat.
Auf zur Schlacht um das Referendum!
Ein anderer Hoffnungsschimmer bleibt das Referendum, das von der Linkskoalition NUPES am Donnerstag beantragt wurde. Nach Einschätzung der Fraktion der Linkskoalition NUPES hat der neue Entwurf bessere Chancen angenommen zu werden. Der erste wurde vom Verfassungsrat abgelehnt, weil er am 20. März (unmittelbar nach dem 49.3-Antrag der Regierung zur Verabschiedung der Reform) eingereicht wurde und eine Volksabstimmung über ein Gesetz forderte, das noch nicht existierte.
Sollte der zweite Antrag auf ein Referendum angenommen werden, wird der Weg lang und beschwerlich: 4,8 Millionen Unterschriften (10% der Wählerschaft) müssen gesammelt werden, und wenn das Parlament das Gesetz innerhalb von sechs Monaten überarbeitet, wird das Referendum übersprungen.
Die Französische Kommunistische Partei ruft auf: "Bereiten wir ab sofort eine landesweite Kampagne für das Referendum mit lokalen Komitees vor. Wir können in jedem Gebiet, in jedem Unternehmen, an jedem Studienort dafür sorgen, dass die große Bürgerberatung über die Zukunft unseres Rentensystems, die uns eine totale Minderheitsmacht vorenthalten wollte, organisiert wird.
Lassen Sie uns gemeinsam den Kampf für unsere grundlegendsten Rechte, für die demokratische und soziale Republik fortsetzen!" [2]
Anmerkungen
[1] CGT, 15.4.2023:Face au mépris, la mobilisation jusqu’au retrait !
https://www.cgt.fr/comm-de-presse/face-au-mepris-la-mobilisation-jusquau-retrait
[2] PCF, 14.4.2023: Le combat pour le retrait continue ! Construisons la bataille du référendum !
https://www.pcf.fr/le_combat_pour_le_retrait_continue
- Fabien Roussel (PCF): Der Kampf geht weiter! Schaffen wir eine neue politische Mehrheit!zum Thema
- Frankreich: Zwei Millionen gegen "Rentenreform"!